Auf den Spuren von zwei Kletterlegenden in der «Niedermann/Anderrüthi» am Zwillingsturm, ein abenteuerlicher Genuss im Salbitgranit. Einst war sie eine der schwersten Granitroute der Schweiz und Stoff für einen kleinen Skandal. Heute «Plaisir» – aber klettern muss man immer noch.
Der harte Hüttenaufstieg, die schlaflose Nacht unter Schnarchenden, der Weg über steile Gras- und Geröllhalden zum Einstieg; Schneefeld überqueren in den Kletterfinken, eine sandig nasse und glatte Felsstufe seilfrei hochklettern und weiter in der Kluft zwischen Schnee und Fels zum ersten Stand; dann fünf Seillängen durch grasdurchsetzte sandige Stufen mit Stellen im fünften Grad, und erst dann beginnt die Kletterei wirklich rassig und schön zu werden. Wieder einmal im Gebirge auf nostalgischen Spuren unterwegs, wird mir klar, warum die grossen Klassiker von einst heute nicht mehr so gefragt sind. Wer nimmt solche Mühen noch auf sich, wenn doch interessante Seillängen in hunderten von Klettergärten ohne Aufwand und Gefahr erreichbar sind. Die zwei jungen Luzerne vor uns und wir beiden bestandenen Herren, einer im mittleren Alter, der andere Uralt. Ansonsten ist es an diesem wolkenlosen und sehr warmen Augusttag still in den Nordostwänden des Salbit. Wenige Seilschaften klettern auf dem Südgrat, wo man sich einst auf die Füsse trat an solchen Wochenenden. Die Hütte lebt längst von Wanderern und dem Weg über die Salbitbrücke.
Doch nun legt die Route einen Zacken zu, die alte Piazztechnik macht auch heute noch Spass, und die Kletterei im spektakulären Kamin geniesse ich ganz besonders, denn solche Stellen trifft man in Klettergärten nirgends. Geht mir die Kraft aus, mich an Felsschuppen hochzupiazzen, kann ich einfach mit dem Rücken anlehnen und ausruhen. Einst kletterte ich diesen Kamin, als er völlig vereist war, daran erinnere ich mich noch gut, an andere Stellen nur noch vage. Zu lange her alles, als man die «Niedermann/Anderrüthi», wie man sie heute nennt, immer wieder mal kletterte. Erstmals 1961 in drei Stunden – von solchem Speed können wir heute nur noch träumen. Obwohl: die Route ist ja sehr gut eingerichtet, solide Ringe am Stand und genügend Bohrhaken, und da und dort darf man auch noch einen Keil oder Friend legen, sozusagen um nicht aus der Übung zu kommen. Gelegentlich erzählt ein rostiger Haken von den heroischen Zeiten, und die Erinnerung weiss von einem Holzkeil da oder dort.
Zufällig kam mir kürzlich der grosse Bericht in die Hände, den die Schweizer Illustrierte nach der Erstbegehung durch Max Niedermann und Franz Anderrüthi am 27. Mai 1956 brachte. «Der Schwerkraft zum Trotz!» lautete der Titel des vierseitigen Artikels, der einen veritablen Skandal auslöste. Die Fotos waren offensichtlich gestellt, sie zeigten, wie sich Max einen Überhang hochnagelt, dann ist in Wort und Bild von einem fallenden Pendelquergang die Rede, den man auf der realen Route vergeblich sucht. Ein Gerücht weiss, die Alpenclub-Oberen hätten Max wegen der damals anrüchigen Publizität die Teilnahme an einer Expedition verweigert. Ob’s wahr ist, habe ich nicht nachgeprüft, ist im Rückblick ja auch egal. Sicher ist: es war eine der ersten schweren Granitrouten der Schweiz, ein Muss für uns junge Kletterer und Genuss noch immer für uns alte.
Und so geniesse ich auch die letzten Piazzschuppen vor dem Gipfel, vom Südgrat her fotografiert mich ein junger Kletterer, der gerade letzthin Bücher von mir gelesen hat, dann gratulieren wir uns, essen und trinken etwas und sehen uns ein bisschen um. Am Westgrat klettern ein paar Ameisen, sonst ist es still am Berg. Abseilen über die Abseilpiste «Blitz», aber auch das braucht Zeit; die Geröllhalden, der Weg zur Hütte, und dann Kaffee und Apfelwähe und das grosse Glück über ein kleines Abenteuer.
P.S. Max Niedermann und Franz Anderrüthi sind heute beide über achtzig, aber noch immer sportlich unterwegs. Max oft allein auf Klettersteigen, Franz flitzt täglich auf seinem Bike über Pässe. Sie gehörten zu den stärksten Kletterern ihrer Zeit, haben Dutzende von Routen erstbegangen, die oft grosse Klassiker geworden sind. Eigenwillige Charaktere, vor denen wir Jungen Respekt hatten, die aber auch unsere grossen Idole waren.
Lieber Herr Zopfi,
erlauben Sie, dass ich wieder einmal beim Thema Salbit meine Bemerkungen mache. Auch diesmal habe ich Ihre Zeilen mit Vergnügen und Mitgefühl gelesen. So empfinde ich den Aufstieg zur Salbithütte als ziemlich strapaziös, typischerweise als untrainierter Mensch, dafür mit schwerem Rucksack für eine Woche. Daher tröstet mich Ihre Bemerkung über den harten Hüttenaufstieg sehr. Die schlaflose Nacht unter Schnarchenden übergehe ich besser, denn, wenn Sie schlafen könnten, würden Sie vielleicht auch schnarchen. (Ich schlafe problemlos neben Schnarchenden.) Nur drei Jahre älter als Sie, bewundere ich Sie wegen sehr wegen Ihres Kletterkönnens. Der Weg zum Einstieg der Niedermann/ Anderrüthi ist mir nicht mehr so vor Augen, aber an die Kluft zwischen Schnee und Fels zum ersten Stand erinnere ich mich. Da wurde ich von meinem Bergführer Hans Berger bereits gesichert, hatte also keine Sorge. Die ersten Seillängen fand ich auch nicht so bezaubernd, aber die folgenden grossartig. Dazu kam, dass ich mich dieser Tour wie selten in dem Gebiet gut gewachsen fühlte, überall waren griffige Platten. Kurz, sie war für mich eine der schöneren Touren meines Lebens und ihre Schönheit in den oberen Seillängen waren dem Salbit-Südgrat ebenbürtig, fand ich. Am nächsten oder an einem der nächsten Tage in der Mocca an den Gemsplanggen tat ich mir wesentlich schwerer. Dort trat ich mit dem Selbstgefühl der gut bestandenen Niedermann/Anderrüthi an und war schon in der ersten Seillänge, angeblich ein Dreier, tief enttäuscht von mir, da ich mich ziemlich anstrengen musste. Du, Hans, heute bin ich ganz daneben, das fiel mir gar nicht leicht. Naja, meinte er, ein Fünfer ist nicht leicht. Ich dachte, es sei ein Dreier, sagte ich. Nein, der Dreier liegt grossenteils unter Schnee. Das Klettern dann in dem Riss fiel mir schwer und ich hing auch zweimal im Seil, da ich beim Piazen die Füsse nicht hoch genug stellte. Dagegen gelang mir die letzte, angeblich schwierigste Seillänge ganz gut.
Mit herzlichem Gruss, Wolfgang Müller