Auf der Staatsgrenze im Oberwallis und im Misox befinden sich zahlreiche oft unbekannte Pässe und Berge. Jenseits der Grenze erst recht. Zwei Bücher zeigen diese Gebirge und ihre Geschichten.
– Aber sicher wohne ich im Paradies, sagte er, hast du gesehen, wie schön der Pizzo Garibaldi ist? Wir nennen ihn… – und er nannte einen Dialektnamen, den ich vergessen habe.
– Pizzo Garibaldi?
– Ja, diese Pyramide da, direkt vor uns.
– Aha, sagte ich, das Seehorn, und im Geheimen dachte ich, dass drei Namen für den gleichen Berg etwas zu viel seien.
Kurzes, von mir ins Deutsche übersetztes Gespräch zwischen Alberto Paleari, italienischer Bergführer und Buchautor, mit einem einheimischen Bergbauern im Weiler Chiezzo oberhalb der Simplon-Bahnstation Iselle di Trasquera. Dass das ganz in der Schweiz liegende Seehorn (2437 m) auch nach dem italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi (1807–1882) genannt wird, wusste nicht einmal Paleari, obwohl er sich in den Bergen rund um den Simplon bestens auskennt; an den hohen Zinnen und in der tiefen Gondoschlucht hat er mehrere schwierigste Routen eröffnet. Tatsächlich steht in der Schweiz schon halbwegs eine Cima Garibaldi (2834 m), nämlich auf der Staatsgrenze oberhalb des Stilfersjochs; sie wird auch Piz da las Treis Linguas/Dreisprachenspitze genannt. Gipfel haben halt manchmal mehr als einen Namen, gerade wenn sie auf einer politischen, sprachlichen oder geografischen Grenze liegen (was beim Seehorn allerdings nicht der Fall ist). In den Freiburger Alpen gibt es gar ein Horn mit vier bzw. sechs Namen: Vanil d’Arpille, Maischüpfenspitz, Petit Brun/Kleiner Brunnen, Gross Morbenfluh/Grand Morbeau.
Doch zurück zum Simplon. Im Buch „Sul confine. In cammino tra Italia e Svizzera dal Sempione alla Formazza“ nimmt uns Paleari mit auf eine Passwanderung vom Simplon zum Nufenen, mit insgesamt 46 Übergängen: 32 auf der Landesgrenze, 11 ganz in Italien und 3 ganz in der Schweiz. Der tiefste ist der Simplon, der höchste der Strahlgrätpass (3111 m) zwischen Turbhorn und Angelo delle Tre Valli – eine kaum bekannte Ecke des Wallis, nicht wahr? Und dies macht das mit einigen schwarzweissen Fotos illustrierte Buch auch so spannend: Da kommen wir lesend zu Gegenden und Geschichten, zu denen wir gehend kaum hingelangten. Oder doch, im nächsten Sommer? Der Colle Marani (3050 m) am Weg von Heiligkreuz auf die Alpe Devero ist eine hochalpine Herausforderung für BergwandererInnen. Und er passt perfekt zum Pizzo Garibaldi: Die nördlich vom Sattel liegende Punta ehrt den italienischen Bergführer Lorenzo Marani (1855–1933), die südliche ihren Erstbesteiger, den italienischen Alpinisten Riccardo Gerla (1861–1927).
Auf der 800 Kilometer langen Grenze zwischen den beiden Ländern befinden sich zahlreiche nach Personen genannte Gipfel, denken wir nur an die dritt- und vierthöchsten der Schweiz, die Zumsteinspitze (4563 m) und die Punta Gnifetti/Signalkuppe (4554 m). Nicht ganz so hoch und berühmt ist die Punta Michele (2515 m) auf dem Kamm zwischen dem schweizerischen und dem italienischen Mesolcina. Dass es überhaupt eines in Italien gibt, war mir nicht bekannt. Bis ich dieses Buch mit dem etwas langen Untertitel kaufte: „La Mesolcina meridionale italiana. Per baite abbandonate e sentieri perduti, escursioni e toponomastica dialettale, tra alto Lario e Val Chiavenna“. Das gut 400seitige und gut ein Kilo schwere Buch, mit (leider teils etwas unscharfen) Fotos, Zeichnungen und Routenskizzen, ermöglicht abenteuerliche Exkursionstouren durch das Gebirgsland zwischen dem mittleren Misox und dem Tal, das sich von Chiavenna zum Lago di Como erstreckt. Ein schier unzugängliches Land, voller geheimer und oft verlassener Wege und Bauten. In jahrelanger Forschungs- und Erkundungsarbeit hat sich Bruno Mazzoleni durch all die Fels- und Gras- und Waldwildnis sowie durch all die dialektalen Bezeichnungen gearbeitet. Es ist nicht immer ganz leicht, ihm zu folgen. Aber wer im Tessin schon alle Pfade und Pizzi erkundet hat (oder auch nicht), wird mit diesem Führer absolut faszinierendes Neuland kennenlernen. Die Punta Michele, so genannt nach dem Erstbesteiger Michele Chiesa, Rechtsanwalt und langjähriger Präsident der Sezione Como CAI, heisst im Dialekt Scima du Caürga.
Alberto Paleari: Sul confine. In cammino tra Italia e Svizzera dal Sempione alla Formazza. Monte Rosa edizioni, Gignese 2021. € 18.50.
Bruno Mazzoleni: La Mesolcina meridionale italiana. Per baite abbandonate e sentieri perduti, escursioni e toponomastica dialettale, tra alto Lario e Val Chiavenna. Mit einer topografischen Karte im Massstab 1:20’000. Beno Editore, Montagna in Valtellina 2021, € 25,00.