Fönsturm am Bachtel

Bevor es mir zuviel wurde mit den weihnächtlichen Beschäftigungen, kramte ich meine Gedanken zusammen, um sie zu sortieren. Das geht am besten in der Natur. © Annette Frommherz

Der Fönwind trieb die Wolken an. Ich hatte es am Morgen vom Küchenfenster aus gesehen, alles stehen und liegen gelassen und mir die Joggingschuhe angezogen. Nach dem Weihnachtsschmaus würde mir eine Runde am Bachtel wohl bekommen. Mein Knie fragte ich nicht nach seinem Befinden; ich ging davon aus, dass es den Drang nach Bewegung ebenso verspürte.
Zum lauen Morgen gesellte sich die Sonne zwischen Wolkenbändern. Ich war zur frühen Stunde alleine unterwegs. Erst kurz vor dem Bachtelturm kam mir eine ältere Frau entgegen, mit den Wanderstöcken weit ausholend. Wir begrüssten uns wie zwei alte Bekannte. Herrlich sei es hier, so ohne Ausflüglerstrom, beinahe ‚muusbeielei‘ seien wir unterwegs, bestätigten wir uns gegenseitig. Die einhundertsechsundsechzig Stufen zur Plattform des Bachtelturms stieg ich ohne Pause hoch. Schon oft war ich da oben alleine gestanden, auch mitten in der Nacht. Bei Tag hat es den Vorteil, dass man den Grossen Mythen besser sichten kann, von dem ich frühmorgens in Hohlers Buch gelesen hatte. „Gleis 4“, sein neuestes, und anfangs des Buches war mir, der Franz käme ganz ohne Berge aus und begnüge sich mit Bahnhöfen. Weit gefehlt.
Speer und Vrenelis Gärtli lieferten sich ein Versteckspiel hinter Wolken, hie und da mischte sich auch der Federispitz in das Geschehen ein. Mich frierte im zünftigen Wind. Ich drehte mich um die eigene Achse, um das Panorama in meine Erinnerung zu pflanzen, und machte kehrt. Den Weg hinunter stoppte mich der Schmerz im Knie. Ich verlangsamte und trippelte sachte bis nach Oberorn, wo ich die leichte Anhöhe ins gegenüberliegende Wäldchen unter die Füsse nahm. Frisch gefällte Baumstämme stapelten sich am Wegrand und waren in Leuchtfarbe angeschrieben mit „Honegger“ und „Ferienhaus“, wo der Vorrat an Holz bestimmt für die nächsten vierzehn Winter reichen wird.
Später setzte ich mich auf eine Bank, auf der ich schon vor dreiundzwanzig Jahren gesessen und das Lebkuchenherz zurückgewiesen hatte, auf dem in Schnüerlischrift geschrieben stand: „Annette, ich liebe dich“. Wie ich nun da sass und mir der Fön die Augen tränen liess, wurde mir bewusst, dass mich weder mein Hausberg noch der stürmische Wind hinausgetrieben hatten. Es waren die Gedanken, die sich Ende Jahr breitmachen und mit ihnen die unbeantworteten Fragen des Daseins. Wie viele Menschen hatte ich wohl das Jahr über vertröstet mit „ich melde mich bald“ oder „ich rufe dich zurück“ oder „wir unternehmen nächstens etwas zusammen“? Wen hatte ich enttäuscht? Was hätte ich besser sein lassen? Was hat mir gefehlt? Um mich von den wesentlichsten Themen abzuwenden und mich mit anderen, wenn auch durchaus bedeutsamen Fragen auseinanderzusetzen, fragte ich die dunkle Wolkendecke, die von Westen her rasch näher kam, was man wohl mit einem zurückgewiesenen Lebkuchenherzen anstelle. Wolken geben selten Antwort, so auch heute, und ich bot mir die Varianten von Antworten selber an:
a) Man wirft das Lebkuchenherz in den nächsten Abfalleimer.
b) Man isst das Lebkuchenherz selber.
c) Man kratzt von der Zuckerschrift den Namen der Zurückweisenden ab und schenkt das Herz bei der nächsten Gelegenheit weiter.
Würde man mich fragen: ich nähme die zweite Variante. Aber mich fragt ja keiner.

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