Klettersteige zwischen Seine und Lago di Como

Klettersteigführer für die Schweiz und die Lombardei. Sowie Steige in Paris und am Mont Aiguille.

«La Via ferrata de Châtelet – AGE: 5 à 10 ans.
– 1 enfant par plate-forme, par module d’escalade et par échelle.
– Accès interdit par temps de gel ou de pluie.
– Accès interdit aux adultes.»

Diese Benutzungsvorschriften stehen auf einem Schild zum Klettersteig am rechten Ufer der Seine, den die Mairie de Paris an der Strassenmauer errichten liess. Bis 2016 rasten auf der Strasse Autos entlang der Flusses, nun promenieren Fussgängerinnen und Velofahrer. Wie sich Paris überhaupt dem Lautlos- und Langsam-Verkehr geöffnet hat. Dazu passt eben auch die rund zwölf Meter lange Via ferrata zwischen Pont au Change und Pont Neuf.

Etwas länger ist der 2021 eröffnete Klettersteig Klewenalp schon. Er umrundet mit drei Seilbrücken Kalksteinstürme unweit der Bergstation des Ärgglen-Skiliftes. Gut zwanzig Minuten dauert das Abenteuer, vielleicht auch länger, wenn man wie ich vergass, den Rucksack beim Grillhüsli zu deponieren und ihn dann fast am Ende des Steigs durch einen Felsdurchschlupf stossen muss… Diese kurze Via ferrata hoch oberhalb Beckenried am Vierwaldstättersee gehört zu den neuen Eisenwegen in der fünften Auflage von «Klettersteige Schweiz». Eine andere Neuheit dieses von Iris Kürschner gemachten Rother Klettersteigführers ist die schwierige Via ferrata Charmey, welche die Dents Verts ob der Gondelbergstation Vounetse erschliesst. Der Routenname «Plein Vide» lässt erahnen, dass viel Luft unter den Sohlen zu erwarten und zu erleben ist. Insgesamt umfasst der Führer mit den meisten, aber nicht allen Klettersteigen der Schweiz und mit vielen gesicherten Wegen 81 Touren.

Halb so viele präsentiert Andrea ‹Bedoii› Carì mit «Klettersteige in der Lombardei». Die 41 Touren liegen in den Bergen um Varese, Lecco, Como, Sondrio, Bergamo und Brescia. Unter den Sohlen befindet sich oft nicht nur viel Luft, sondern auch immer wieder Blau mit den Seen von Lugano, Como, Annone und Garlate, von Iseo, Idro und Garda. Die Ferrata di Morcata bei Varenna führt aus einer Strassengalerie in die senkrechte Wand oberhalb des Lago di Como; das Bad empfiehlt sich aber erst nach der Begehung… Zudem enthält der Führer den Sentiero Roma in den Bergeller Bergen, die Traversata alta delle Grigne sowie den allerdings nicht mehr in der Lombardei angelegten Sentiero dei Fiori – alles alpine Touren mit Abschnitten, wo man sich nicht immer am Eisen halten und sichern kann.

Das gilt erst recht für die Kletterrouten am Mont Aiguille (2087 m), diesem einzigartigen Tafelberg unweit von Grenoble. Die Erstbesteigung des rundum senkrecht abfallenden Gipfels durch Antoine de Ville und seine Gefährten anno 1492 markiert die Eroberung des menschlichen Horizontes in der Vertikalen, wie die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im gleichen Jahr diejenige in der Horizontalen. Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift «L’Alpe» berichtet nun, wie es dem französischen Historiker Stéphane Gal und seinen Leuten 2022 gelungen ist, nur mit zeitgenössischem Material eine Wandflucht des Mont Aiguille zu erklimmen, und zwar mit Seilen, Stangen, Holz- und Strickleitern, wie man sie im 15. und 16. Jahrhundert für das Erstürmen von Burgen und Stadtmauern brauchte. Heute werden städtische Mauern anders erobert. Zum Beispiel mit metallenen Griffen und Tritten für Kids von nah und fern.

Iris Kürschner: Klettersteige Schweiz. Rother Verlag, München 2025. Fr. 32.90.

Andrea ‹Bedoii› Carì: Klettersteige in der Lombardei. Versante Sud Edizioni, Milano 2024. € 35,00.

Artisans et métiers d’art. L’Alpe, N° 109, été 2025. Éditions Glénat Grenoble. Fr. 26.-

Das Jahrhundert des Automobils in Graubünden

Mitfahren und mitlesen in die Ferienecke der Schweiz. Autolust und -frust zwischen Maienfeld und Poschiavo, Müstair und Sedrun.

«Berninapasshöhe, 3. Juli 1927. Neben dem Hospiz hat sich eine Gruppe von Autofahrern und Autofahrerinnen zum Gruppenfoto versammelt. Es herrscht Freude, denn seit zwei Tagen ist Autofahren über den Berninapass ins Puschlav erlaubt. Bereits 1925 war das berüchtigte Bündner Autoverbot gefallen. Im Puschlav dauerte es zwar etwas länger, weil der Initiativtext von 1925 (vermutlich aus Rücksicht auf die dort verkehrenden Bahnen) die Albula- und die Berninapassstrasse ausgenommen hatte. Nun aber war auch hier die ‹herrliche Zeit des Autofahrens› gekommen, wie sich der Davoser Mechaniker Karl Grüger später erinnerte.»

So startet das herrlich bebilderte Sachbuch «Das Jahrhundert des Automobils. Graubünden 1925-2025». Die vorangehende Doppelseite zeigt die fröhliche Schar auf dem Berninapass und drei Autos, so einen Chrysler mit Berliner Kennzeichen und das Fahrzeug von Florian Zambail. Der Samedaner Arzt gehörte zu den rund 300 Personen, die im Sommer 1927 im Kanton Graubünden ein Auto besassen. Heute ist der grösste Kanton der Schweiz pro Kopf der Bevölkerung stärker motorisiert als ihr Durchschnitt. «Statistisch entfällt auf jeden Bündner Haushalt mehr als ein Personenwagen. Davon, wie das möglich war, handelt dieses Buch.»

Ein Autobuch als Bergbuch (der Woche)? Ja sicher, denn das Bündnerland ist Bergland und Passland, überzogen mit Saumwegen, Eisenbahnlinien, Strassenkurven, Brücken und Tunnels. Immer ist der Berg im Weg, zum Glück aber auch am Weg. Die Weltkurorte St. Moritz und Davos: Wer würde sie besuchen (und kennen), wenn sie nicht erreichbar wären auf Fuss- und Kutschen-, dann auf Eisen- und schliesslich auch auf Strassenstrecken.

«Da Fälle vorgekommen sind, in denen durch das Befahren der Strassen mit Automobilen, der Post- und der Fahrverkehr überhaupt gefährdet wurde und da solche Fälle sich wiederholen und zu eigentlichen Katastrophen führen könnten, beschliesst der Kleine Rat:

1. Das Fahren mit Automobilen auf sämtlichen Strassen des Kantons Graubünden ist verboten.
2. Dieser Beschluss wird zu sofortiger Nachachtung öffentlich bekanntgegeben.

Chur, den 17. August 1900.                           Im Auftrag des hochl. Kleines Rates
Der Kanzleidirektor: G. Fient.»

Dieser Erlass der Bündner Regierung, veröffentlicht im «Amtsblatt des Kantons Graubünden» vom 24. August 1900, blieb trotz heftigem Widerstand und neun Volksabstimmungen bis zum 21. Juni 1925 in Kraft. Erst dann hob eine Mehrheit der stimmberechtigen Männer in der 10. Abstimmung das Autoverbot auf, und der Kanton Graubünden erlaubte das Autofahren (vorerst nur auf den Hauptverkehrsstrassen, und noch ohne Albula- und Berninapass) als letzter Kanton der Schweiz.

In den vergangenen 100 Jahren erlebte Graubünden alle Vorteile, Reize und Herausforderungen dieser Erfindung, die Alltag und Tourismus grundlegend veränderte. Fünf Forscherinnen und Forscher präsentieren die Geschichte des motorisierten Verkehrs in Graubünden in ihrer ganzen Spannbreite. Christoph Maria Merki rast «von Null auf Hundert», Isabelle Fehlmann kurvt durch «Die Landschaft der Strasse», Simon Bundi setzt mit tollen Postkarten und Fotos die Schweinwerfer auf das «Land der Umfahrungen» und „Die Anziehungskraft des Automobils», Kurt Möser schaltet «Die Bündner Automobilgeschichte im internationalen Kontext» und Flurina Graf navigiert souverän durch Mobilitätsporträts von Menschen unterschiedlicher Altersgruppen. Kurz: Eine 325seitige, reich illustrierte Geschichte über eine persönliche Maschine, die emotional und verkehrspolitisch nicht wirkmächtiger sein könnte.

1968 notierte Max Frisch in «Tagebuch 1966–1971» unter dem Stichwort «SAN BERNARDINO» ein paar Zeilen: «Siebenmal im Jahr fahren wir diese Strecke, und es tritt jedesmal ein: Daseinslust am Steuer. Das ist eine grosse Landschaft. Vor allem in den Kurven: der Körper erfaßt Landschaft durch Fahrt, Einstimmung wie beim Tanzen.»

Simon Bundi, Isabelle Fehlmann, Flurina Graf, Christoph Maria Merki, Kurt Möser: Das Jahrhundert des Automobils. Graubünden 1925-2025. Herausgegeben vom Institut für Kulturforschung Graubünden. AS Verlag, Zürich 2025. Fr. 49.-

Folgenschwere Naturereignisse in der Schweiz

Zwei wissenschaftliche Wanderbücher, in denen die Geologie die Hauptursache ist.

«Bergstürze sind in allen grossen Gebirgsketten der Welt aufgetreten, von der Urzeit bis heute. Sie stauten Flüsse, verursachten Seen und löschten schon ganze Dörfer aus.»

Wie wahr leider! Heute Mittwoch vor genau vier Wochen kam es zum Bergsturz in Blatten im Lötschental. Am 28. Mai um 15.20 Uhr glitt ein grosser Teil des Birchgletschers unter dem Druck des auf ihm lastenden Bergsturzmaterials vom Kleinen Nesthorn auf dem vermehrt vorhandenen Schmelzwasser an der Gletschersohle ab, stürzte über die Karschwelle hinaus und in die Schlucht des Birchbachs hinunter. Die rund 10 Millionen Kubikmetern Fels-, Schutt- und Eismassen verschütteten in Blatten 130 Häuser wie auch die Kirche, insgesamt etwa 90 Prozent des Dorfes. Ganz zerstört wurden die talwärts liegenden Weiler Ried (mit dem 1868 eröffneten Hotel Nest- und Bietschhorn, dem ältesten Hotel im Lötschental), Oberried und Tännmatten. So kann man auf Wikipedia lesen.

Der Berg ruft eben nicht nur. Er kommt auch. Gestern, heute und sicher auch morgen. Gerade in der gebirgigen Schweiz. Berg- und Felsstürze, Hangrutsche, Murgänge, und Lawinen, dazu Erdbeben und Hochwasser. Einst die Bergstürze von Flims und Goldau, 2023/24 die bröckelnden Berge in Brienz GR, in Schwanden und ob dem Martinsloch, die Überschwemmungen und Steinlawinen im Misox, im Maggia- und Rhonetal. In diesem kompakten, mit zahlreichen Fotos, Tabellen, Profilen, Geländemodellen und Kartenausschnitten angereichertem Buch bewegen sich Walter Wildi und O. Adrian Pfiffner „Auf den Spuren folgenschwerer Naturereignisse in der Schweiz“, und zweimal auch im nahen Ausland, am Mer de Glace bei Chamonix und am Vulkan Hohenstoffeln bei Singen. Zudem schlagen sie 25 meist kurze Wanderungen vor (leider ohne Index und/oder Übersichtskarte), um die geologischen und klimatischen Ereignisse vor Ort aufzuspüren und mehr über die Landschaft und ihre Geschichte zu lernen. Ein buchstäblich bewegendes Buch. Der Berg wird nicht zur Ruhe kommen, im Anthropozän erst recht nicht.

Um Bergstürze geht es teilweise ebenfalls im Buch «Geologische Spurensuche. 30 erdwissenschaftliche Ausflüge und Touren im Kanton Bern», und zwar in den Touren 25 und 28. Da wird im Grindelwaldtal einerseits der «prä(?)historische Bergsturz von Burglauenen und der Untergang von Schillingsdorf» vorgestellt, andererseits das Kandertal als «Tal der Bergstürze» bezeichnet. Wie wahr auch hier wieder! Vom Spitze Stei am Doldenhorn droht ein grosser Bergsturz, den der neue Damm ob Kandersteg hoffentlich aufzufangen vermag. Düstere Aussichten. Und doch hochspannende Einsichten, welche dieses wissenschaftliche Wanderbuch vermittelt. Nicht nur zur Geologie der Stadt Bern, zum Berner Sandstein von Ostermundigen oder zu den Gisnauflüe bei Burgdorf. Sondern auch zur Glaziallandschaft Oberaargau, zu den fossilen Blockgletschern im Diemtigtal, stillen Zeugen vom vergangenen Permafrost, oder zur einzigartigen Kraterlandschaft Gryde-Stübleni oberhalb von der Lenk (auf dem Cover). Insgesamt 29 Ausflüge und Touren (und nicht 30, wie im Titel angezeigt) auf 308 Seiten, mit 220 Fotos, 85 Grafiken und 50 Karten, immer versehen mit genauen Legenden. Dazu eine Einführung zur Geologie des Kantons Bern, im Anhang Glossar und Literatur.

Die Nünenen in der Gantrisch-Kette war bis jetzt einfach der Kletterberg aus jungen Jahren, wo ich mit elf Jahren erstmals richtig abseilen musste («mit grosser Angst», wie mein Vater in meinem ersten Tourenbuch notierte). Aber nun erfahre ich, dass es sich bei den Kalkfelsen der Nünenen, an denen geklettert wird, um sogenannte Resedimente der Moléson-Formation handelt; sie bestehen überwiegend aus Kalkturbiditen, die am Schwellen-Abgrund in tiefere Meeresbereiche abgeglitten sind. Was die Geologen wohl dereinst zum Bergsturz-Kegel von Blatten sagen werden? Oder ist das Kleine Nesthorn samt Bietschhorn dann ganz auseinandergebrochen, nachdem die letzten Gletscher abgeschmolzen oder abgerutscht sind?

Walter Wildi, O. Adrian Pfiffner: Auf den Spuren folgenschwerer Naturereignisse in der Schweiz. Mit 25 geologischen Exkursionen. Haupt Verlag, Bern 2025. Fr. 38.-

Naturforschende Gesellschaft in Bern (Hrsg.), Thomas Burri, Jürgen Albrecht: Geologische Spurensuche. 30 erdwissenschaftliche Ausflüge und Touren im Kanton Bern. Haupt Verlag, Bern 2025. Fr. 38.-

Baden und wandern in der Romandie

Der Sommer kann kommen bzw. ist schon da. In den Rucksack packen wir nicht nur die Badesachen, sondern auch drei Führer für die Westschweiz. En route, mes amis!

«Wenn das Rhonetal zum Backofen wird, bleibt man am 1,3 Kilometer langen Stausee auf 2000 Meter über Meer cool. Es ist am Sanetschsee meist 7 Grad kühler als im Talgrund. Nach einem erfrischenden Bad kann man sich auf grünen Matten ausstrecken und die zerklüfteten Bergketten rundherum bestaunen oder – falls man mit dem Erfrischen übers Ziel hinausgeschossen hat – zum Ausflugsrestaurant Ta Cave Sanetsch oberhalb der Staumauer spazieren und sich mit einem dampfend heissen Käsefondue wieder aufwärmen.»

Diesen rundherum mutigen Tipp gibt Iwona Eberle in ihrem taufrischen Führer «Wild und frisch – Romandie. Die schönsten Badeplätze an Seen, Flüssen und Wasserfällen». Ob der Mann in der blauen Badehose auf dem Foto dann wirklich in den Lac de Sénin getaucht ist, wissen wir nicht. Das Signet zur Wassertemperatur im Juli und August zeigt «kalt» (14-16 Grad). Noch kälter, nämlich «eiskalt» (11-14 Grad), ist es in den Bassins de la Barberine im obersten Vallée du Trient an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich; dort sind auch die Liege- und Schwimmflächen mager. Dafür rauscht ein Wasserfall ins Becken, wohin die Frau im Bikini wohl gleich tapfer schwimmen wird.

Zwei von 100 bekannten und vor allem unbekannten Badeplätzen im Welschland (und auch im angrenzenden Frankreich) sowie zwei von rund 250 einladenden Fotos von Christoph Hurni, die der gut gemachte Führer vorstellt. Mit ihm werden wir in diesem Sommer und auch im nächsten zu coolen Erfrischungen kommen, überall im Jurabogen zwischen Ajoie und Rhonedurchbruch bei Genf, in den Seen, Flüssen und Schluchten im Mittelland sowie in den Alpen. Einziger Nachteil: Ganz alleine werden wir in der Tine de Montbovon oder am Wasserfall Turtmann nicht mehr sein; in der Tine de Parnant wohl schon, da es «zu diesem magischen Badeplatz nur Menschen schaffen, die gegen den Strom schwimmen.»

Aber vielleicht wollen wir gar nicht schwimmen, sondern nur kurz untertauchen während des Wanderns oder Velofahrens. Auch dazu hat «Wild und frisch – Romandie» viele Tipps bereit. Und sonst gibt es da noch zwei neue Führer, die kurze und lange Wanderungen am und rund um den grössten See der Schweiz und Frankreichs vorstellen. Einerseits Jean-Marc Lamory in «Les plus belles randonnées autour du Léman» mit 96 Touren, andererseits Bernd Jung in «Genfersee» mit 60 Touren; er basiert auf meinem Führer, der erstmals 2002 erschien und 50 Touren vorstellte. Die neue deutsche Ausgabe von 2022 ist die vierte; die aktualisierte französischsprachige vom letzten Jahr ist bereits die achte. Was bedeutet, dass der Lac Léman bei den Randonneurs beliebter ist als bei den Wandersleuten. Aber das wird sich jetzt vielleicht ändern, wenn letztere auch mit Iwona unterwegs sind.

Allerdings: Einer der feinsten und kleinsten Badeplätze am Léman findet sich in keinem der drei Führer. Deshalb hier die Infos zu den Bains Reymond. Eine felsige Plattform, die ins Wasser hinausragt. Platz für vielleicht ein Dutzend Badegäste, wenn sie sich gut mögen. Ein Sprungbrett. Ein Kieselstrand für eine Mutter mit einem Kind. Zwei kleine Umkleidekabinen, halb im Bahndamm drin. Zwischen dem Ufer und den Geleisen noch ein kleiner Rebberg. Zugang: Von der Station St-Saphorin auf der Uferstrasse Richtung Lausanne, dann über die Geleise; 8 Min. Kurz: Was für ein Ort!

Iwona Eberle (Text), Christoph Hurni (Fotos): Wild und frisch – Romandie. Die schönsten Badeplätze an Seen, Flüssen und Wasserfällen. Salamander Verlag, Zürich 2025. Fr. 39.90. Auch auf Französisch erhältlich: Au fil de l’eau – Suisse romande: Lacs, rivières et cascades: les plus belles baignades insolites.

Jean-Marc Lamory: Les plus belles randonnées autour du Léman. Régions de Genève, Lausanne, Vevey, Montreux, Evian, Thonon-les-Bains. Éditions Glénat, Grenoble 2025. € 17,90.

Bernd Jung, Daniel Anker: Lac Léman. Genève – Chablais – Riviera – Lavaux – La Côte – Jura. Rother Guide de randonnées, Munich 2024. € 16,90. Auch auf Deutsch erhältlich: Genfersee. Genf – Chablais – Riviera – Lavaux – La Côte – Jura.

Hans Roelli – Auf eigener Spur

Eine neue Biografie zum Dichter, Sänger und Skilehrer Hans Roelli, der als erster Kurdirektor von Arosa Spuren hinterliess. Und eine Tagung zur Alpenliteratur insbesondere von Graubünden.

Tief wogt der Sommer an dem Korn.
Die Gärten sind mit dunklen Rosen
beschenkt. Schon reifen Aprikosen.
Im fernen rollt Gewitterzorn.

Zweite Strophe im Gedicht «Die Jahreszeiten» von Hans Roelli (1889–1962), abgedruckt mit neun andern Gedichten als «Verse» im 20. Jahrgang von «Ski», dem Jahrbuch des Schweizerischen Ski-Verbandes vor nun genau 100 Jahren. Mehrheitlich sind es natürlich Winter- und Schneeverse – aber wir wollen die kalte Jahreszeit nicht zurück, oh nein, jetzt wo sich ein kräftiges Hochdruckgebiet aufgebaut hat.

Sommer- und Wintertourismus weiter ausbauen: Diese Aufgabe oblag Hans Roelli seit dem 21. Oktober 1920 als frischgewählter Kurdirektor von Arosa. Andere Bündner Kurorte hatten ebenfalls um den schweizweit bekannten Dichter und Lautensänger, Skilehrer und Conférencier gebuhlt. Zehn Jahre hält der immer braungebrannte Roelli das Amt inne, im Demissionsschreiben vom 18. Januar 1930 hält er fest: «Ich darf den Anspruch erheben – nicht zuletzt dank meiner Kunst, die Arosa genützt und nicht geschadet hat – ein persönlicher und geachteter Kurdirektor gewesen zu sein.» Ein paar Verse mehr zum dichtenden Oberskilehrer hier: https://bergliteratur.ch/alles-fahrt-schi/. Und am 12. Mai 2025 wurde im Kulturhaus Helferei in Zürich die neue Biografie von Bernhard Ruetz vorgestellt: «Auf eigener Spur. Hans Roelli. Dichter, Sänger, Liedermacher».

Auf 128 Seiten stellt Ruetz den umtriebigen, ruhelosen, scheinbar dauerfröhlichen Roelli vor, schildert seinen Werdegang aus dem braven Willisau ins quirlige Arosa und darüber hinaus. Nicht alle konnten ihm folgen, die beiden ersten Ehefrauen jedenfalls nicht. Und manchmal schien Hans selber aus der eigenen Spur zu fallen. Aber er schaffte immer wieder den Rank – und ganz bestimmt noch einen stimmigen Vers, ein neues Lied, ein weiteren Gedichtband. Illustriert ist das Buch mit stimmigen Fotos, auf denen neben Skis oft ein Musikgerät zu sehen ist: die Gitarre. Selbstverständlich sind auch Gedichte eingestreut. Zum Beispiel «Das Neue Wiegenlied» aus dem «ungewöhnlich düsteren» (so Ruetz) Gedichtband «Gegenwartslieder und Zeitgedichte» von 1937:

Schlafe Kind, schlafe ein:
draussen ist es wieder Krieg;
Vater ist in Flamm und Not,
Vater ist vielleicht schon tot –
schlafe Kind, schlafe ein.

Schlafe Kind, schlafe ein:
draussen ist es wieder Nacht;
Mutter irrt nach Milch und Brot,
Mutter ist vielleicht schon tot –
schlafe Kind, schlafe ein.

Schlafe Kind, schlafe ein:
wir zertrümmern Sonn und Stern
und die Liebe ging verloren,
warum wurdest du geboren? –
schlafe Kind, schlafe ein.

Schlafe Kind, schlafe ein:
vielleicht bist du das neue Licht,
das in unser Dunkel fällt
und aufgeht in der ganzen Welt –
schlafe Kind, schlafe ein.

Ein Wiegenlied von beängstigender Aktualität, das der alpine Verseschmied da gehämmert hat. Ums Schreiben im Alpenraum geht es am 12. und 13. Juni 2025 in Bern: «Alpen im Wandel – Literaturen zwischen 1945-1990». Diese öffentliche, literaturwissenschaftliche Tagung zur deutschen, italienischen und rätoromanischen Literatur Graubündens findet im Schweizerischen Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek statt. Und so liest sich der Auftritt: «Der kulturelle Wandel nach 1945 war im mehrsprachigen alpinen Raum Graubündens wie auch in den angrenzenden Regionen enorm: Eine in weiten Teilen bäuerlich geprägte Gesellschaft erfuhr grundlegende gesellschaftliche, technische, ökonomische und kulturelle Umwälzungen. Zugleich überformte die fortschreitende Touristifizierung dörfliche Strukturen sowie ganze Talschaften und damit das Bild, das sich Ortsansässige, Zugezogene und Reisende davon machten.» Mehr noch: Am Donnerstag, 12.Juni, gibt es von 19.30 bis 21.00 im Saal Friedrich Dürrenmatt eine Soirée littéraire mit den AutorInnen Flurina Badel, Romana Ganzoni und Andrea Paganini zum Thema «Scriver en Grischun – Letterature in dialogo» statt. Nicht verpassen!

Bernhard Ruetz: Auf eigener Spur. Hans Roelli. Dichter, Sänger, Liedermacher. Verlag Ars Biographica, Andelfingen 2025. Fr. 30.- www.arsbiographica.ch/buecher/auf-eigener-spur/

«Alpen im Wandel – Literaturen zwischen 1945-1990». Tagung am 12. und 13. Juni 2025 in der Schweizerischen Nationalbibliothek an der Hallwylstrasse 15 in Bern. www.nb.admin.ch/snl/de/home/ausstellungen-va/veranstaltungen-past/va2025/alpenimwandel.html Die Teilnahme an der Tagung inklusive Verpflegung ist kostenlos. Um Anmeldung wird gebeten: claudia.cathomas@nb.admin.ch.

Von der Bürglen auf den Gipfel der Welt

Sieben Krimis, in denen Berge eine Rolle spielen, manchmal nur nebenbei, aber immerhin. Vom Gäntu über Capri zu den Northwest Arctic Mountains. Sommerlektüre für Gipfelstürmerinnen und Beachboys.

«Jetzt wird’s kompliziert», sagte Müller, der nach wie vor kein Navigationsgerät im Auto besaß. «Die Quartierwege sind nach Bergen benannt, Stockhorn, Eiger, Jungfrau, Nünenen, Gantrisch, Niesen, Chutzen. Wir suchen die Bürglenstrasse.»
«Auch ein Berg?», fragte Bauer, der sich in der Berner Geografie nicht so gut auskannte.
«Ja, liegt zwischen Gantrisch und Ochsen im Alpenvorland. Habe ich in jüngeren Jahren mehrfach bestiegen. Tolle Aussicht.»

Stimmt! In jeder Hinsicht. Die Bürglen in der nördlichsten Kette der Berner Alpen bietet wirklich eine tolle Aussicht, gerade weil sie sich am Rande erhebt und so auch einen weiten Blick auf Mittelland und Jura ermöglicht. Auf der Sonnenseite reicht er vom Vrenelisgärtli über Monte Rosa bis Mont Blanc. Und: Auch ich habe die Bürglen mehrfach bestiegen, das erste Mal im Herbst 1962, mit acht Jahren. Gibt Jahrgang 1954. Privatdetektiv Heinrich Müller, die Hauptfigur in den Krimis von Paul Lascaux, hat Jahrgang 1955. Wie der Autor selbst auch. Und jetzt will Müller nach dem 17. Fall, der «Berner Revolte», die Detektei, die er zusammen mit Nicole Himmel führte, schliessen. Einen Nachfolger für Ermittlungen scheint er aber gefunden haben: den Reporter Simon Bauer. Zu ihm sagt der Bürglen-Besteiger: «Wir gehen morgen auf eine kleine Wanderung, und dann reden wir an einem ruhigen Ort darüber, wo uns keiner stört.» Machen wir auch: eine kleine Tour d’Horizon von Gipfel zu Gipfel, von Krimi zu Krimi, darin diese eine Rolle spielen.

«Le soleil couchant enflamme à nouveau les dents du Midi, le spectacle est toujours aussi beau quand les nuages laissent le couchant œuvrer. Mais curieusement nous constantons que l’une des dents reste sombre ! Quel drôle de phénomène ? Serait-ce dû à un nuage facétieux ou un autre message ? Tout le monde est pantois ; chacun rentre chez soi perplexe. Les anciens n’on jamais vu un tel phénomène.»

Die Dents du Midi, dieser gezackte Gipfelkamm hinter dem Lac Léman, mit dem Château de Chillon im Vordergrund links: ein ikonisches Bild der Schweiz, auf Gemälden, Plakaten und Fotos. Was für ein Anblick aber, wenn die untergehende Sonne einen der sieben Gipfel nicht beleuchtet. Ein schlimmes Zeichen? Mais bien-sûr, in einem roman policier. Philippe Tauveron hat seine «Meurtres en Suisse. Mystère à Champéry» wie ein Tagebuch über eine Skiwoche in Champéry und im grenzüberscheitenden Gebiet Portes du Soleil verfasst, mit Angaben zu den Pisten und Beizen. Aber wenn die Schatten über den Mittagszähnen immer auffälliger mit fatalen Geschehnissen übereinstimmen, wer steckt dann dahinter? Einheimische, Touristen? Mon Dieu, so ist Skifahren kein Plaisir mehr!

«Diesmal schien es ewig zu dauern, gleichwohl keine außerplanmäßigen Pausen eintraten und er die Bequemlichkeit der Polsterbank zu schätzen wusste. Er rumpelte durch den Zwischenhalt und war hingerissen vom Rundumblick, als die Blase zur Bergspitze aufstieg.
Soweit er in jede Richtung schauen konnte, gleißten die gebieterischsten schartigen Gipfel in der Sonne. Er versucht auszuknobeln, welcher der Mont Blanc war, welcher Mont Vélan, der Grand Combin, die Grandes Jorasses: die höchsten Berge Frankreichs, Italiens und der Schweiz. Der viele Neuschnee die Tage war bis hinunter auf die Talsohlen gefallen, und alles lag unter einem weißen Teppich begraben. Es war ein grenzenloses Wunderland.»

Fast grenzenlos verwunderlich ist auch dieser Ausschnitt. Nicht mal das mit den höchsten Bergen der Schweiz. Diese liegen bei Zermatt und nicht im Dreiländergebiet, in dem «Höhenangst. Der Hotelinspektor in den Alpen» von Henry Sutton spielt. Aber das Rumpeln durch den Zwischenhalt in einer Blase! Blasen mögen in Champagnerkelchen aufsteigen, aber nicht zu einer Bergspitze. Eine Luftseilbahn, bei der mehrere Kabinen an ein ständig umlaufendes Seil geklemmt sind, tut das hingegen schon, und wenn man in einer Gondel durch die Zwischenstation fährt, rumpelt es . Wenn jedoch die Gondelbahn zuweilen gar zum Skilift wird, darf die Frage gestellt werden, ob sich der Schneesturm, der das fiktive, exklusive Skiresort im Schnittpunkt der drei Alpenländer heimsucht, nicht auch auf die Übersetzung aus dem Englischen ausgewirkt hat…

«La pointe de Montagny ne présentait pas de difficulté particulière. D’abord un long zigzag jusqu’à une clairière avant de contourner la forêt pour trouver l’alpage de Rosset. La poudreuse était légère. Des plumes de duvet s’envolaient sous les bâtons, si légers qu’ils se posaient sans bruit. Seules les fixations émettaient un chuintement régulier, envoûtant. Pied gauche, pied droit, la régularité de métronome laissait l’esprit vagabonder. Avec la chute de neige de la nuit, il serait seul dans le vallon de Trécol, son jardin secret.»

Ist er leider nicht, der sympathische Laurent Bincaz. Er widersetzt sich mit Freunden einer immer beängstigenderen Inbesitznahme einer Gemeinde durch einen russischen Oligarchen, der sich einen Gipfel gekauft hat und diesen in einen luxuriösen Skitempel umgebaut hat. Denn ein Scherge von Oleg Aksakov’s Gnaden fellt auf einer andern Seite auf die Pointe de Montagny, und dann – schlimm endet die Begegnung der beiden Skitourengeher, obwohl in dieser Szene im ersten Krimi von Jacques Leleu der Schnee nicht rot wird. Die Pointe de Montagny in «Neige Rouge» ist fiktiv, das Vallon de Trécol in den savoyischen Alpen gibt es wohl, und Leichen beim Kampf um Macht und Geld leider auch. Aber warum nur lässt sich Vera, die im roten Rock aus dem Gipfelpalast flieht und sich in ein Pistenfahrzeug retten kann, in die Machenschaften einkleiden?

«Als sie den ersten Tunnel erreichten, ging der Doktor zu Boden und blieb minutenlang sitzen, während Charlotte ihm Wasser einflößte und Marlène die Wunde an seinem Kopf versorgte. Es war der Doktor selbst, der zum Aufbruch mahnte. Er hatte Schmerzen und war angeschlagen, quälte sich aber tapfer durch die drei Tunnel bis zum Point Sublime, wo Marlène den Notruf wählte. 30 Minuten später jagte ein Rettungswagen die Serpentinen herunter.»

Der Point Sublime ist kein eigentlicher Gipfel, aber ein bekannter Aussichtspunkt an der Gorges du Verdon, dieser 21 km langen und bis zu 700 Meter tiefen Schlucht in der Provence, Mekka der Kletterer, aber auch der Canyonisten und Wanderer. Im Grand Canyon du Verdon startet und schliesst Georg Heinzen seinen Côte d’Azur-Krimi «Ich schenk dir einen Mord», jeweils mit Rettungsaktionen bei gefährlichem Wetter. Zu Beginn mit David, am Schluss mit Marlène. Die Hauptfiguren sind bzw. waren ein Paar, er wird im Verlauf der Lektüre immer unsympathischer, sie nicht. Ein Ferienkrimi, den man auch im Sense-Canyon lesen darf, besser bei azurblauem Himmel als bei schwarzen Wolken.

«Die Böschung linker Hand schien streckenweise zum Greifen nahe und bestand aus dornigem Gestrüpp, während rechter Hand Anacapri zu sehen war, kleine weiße Häuser, wie über die Anhöhen gewürfelt. Dahinter schimmerte das Meer in leuchtenden Blautönen, und mittendrin thronte Ischia, die grüne Insel. All das hatte der unbekannte Mann, Alessandro, Stammgast der seggiovia, auf seiner Fahrt auf den Monte Solaro vor nicht mal einer Stunde auch gesehen, bevor er plötzlich gestorben war. Ob er gespürt hatte, dass der Tod nahe war?»

Der Monte Solaro (589 m), Top of Capri, locker erreichbar mit dem Einersessellift. Wenn man unterwegs nicht erledigt wird. Leichen auf und in Liften, eine beliebte Krimiszene (wie zum Beispiel in «Höhenangst»). Aber dass jemand sein Leben in einem schwebenden Einersessel lässt, ist doch ungewöhnlich. Luca Ventura spielt in «Grünes Gold», seinem sechsten Capri-Krimi um die Inselpolizisten Enrico Rizzi und Antonia Cirillo, erneut mit den Sehenswürdigkeiten der weltberühmten und entsprechend überlaufenen Insel im Golfo di Napoli. Doch auf ausgesetzten Pfaden sind Kriminelle und Touristen alleine unterwegs – und begegnen sich nur auf den Buchseiten. Apropos Buch: Auf der Übersichtskarte zu Capri hätte man den Monte Solaro schon einzeichnen können.

«Sie standen auf dem Gipfel der Welt. Zur Rechten der Miklluni Peak, zur Linken der Mount Kanuyaq, zu ihren Füßen das ‹Kind› und in ehrfurchtsvollem Abstand vor der stolzen Majestät des Angiaak versammelt der Rest der schroffen Zinnen. Von unten gesehen achtungsgebietend, wirkten sie aus der Höhe beinahe unterwürfig. Kates Blicke wanderten von ihnen zum Mond und den Stern noch über ihnen, und zum ersten Mal begriff Kate den wahren Reiz des Bergsteigens.»

Eine neue Region auf der Krimi-Landkarte: Alaska. Wenigstens auf Deutsch. Denn Dana Stabenow, 1952 in Anchorage geboren, schreibt schon seit einigen Jahren Krimis. Die 1992 gestartete Kate-Shugak-Reihe umfasst 23 Bände; die Übersicht findet sich hier: https://www.bookseriesinorder.com/dana-stabenow/. Natürlich musste für die deutschen Ausgaben der Ort des Geschehens auf den Titel: nach «In der Kälte Alaskas» erschien in diesem Frühling «Weit draußen in Alaska». Im Original heisst der zweite Band «A Fatal Thaw» – übersetzt «Tödliches Tauwetter». Hoffentlich passiert uns das weder auf der Bürglen (2165 m) noch auf der Haute Cime (3257 m) der Dents du Midi oder auf dem Angiaak Peak (2041 m) in den Northwest Arctic Mountains. Und wenn – dann nur auf Papier.

Paul Lascaux: Berner Revolte. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2025. € 16,00.

Philippe Tauveron: Meurtres en Suisse. Mystère à Champéry. Moissons Noires, La Crèche 2024. € 7,90.

Henry Sutton: Höhenangst. Der Hotelinspektor in den Alpen. Band 3 der Hotelinspektor- Reihe. Kampa Verlag, Zürich 2025. Fr. 24.90.

Jacques Leleu: Neige rouge. Guérin/éditions Paulsen, Paris 2025. € 18,00.

Georg Heinzen: Ich schenk dir einen Mord. Côte d’Azur-Krimi. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2025. € 14,00.

Luca Ventura: Grünes Gold. Der Capri-Krimi. Diogenes Verlag, Zürich 2025. € 18,00.

Dana Stabenow: Weit draußen in Alaska. Ein Fall für Kate Shugak. Kampa Verlag, Zürich 2025. Fr. 26.90.

Bergende Berge

Schweizer Literatur vor Ort erleben und oft im Berginnern: Zwei Werke ermöglichen Lesepfade, die freilich mehr Kopf- als Fussarbeit verlangen.

«Arbeit, täglich, an den Bunkern. Ich gehöre zum Gärtnertrupp. Pflanzen, Giessen. (…) Ich requiriere 3 Gartenschläuche, der Mechaniker setzt sie zusammen, ich spritze den ganzen Morgen lang die braunen Bunkerhügel, damit die angesähten Heublumen rascher spriessen.»

Das notierte Max Frisch im unveröffentlichten Notizheft 115 am 15. Mai 1940. Im Zweiten Weltkrieg leistete der Schweizer Schriftsteller und Architekt als Kanonier von 1939 bis 1945 insgesamt 650 Aktivdiensttage, wobei er auch Baupläne für einzelne Bunker entwarf. Seine Notizen aus dem Aktivdienst erschienen im Dezember 1939 unter dem Titel «Aus dem Tagebuch eines Soldaten» in der Zeitschrift «Atlantis» und 1940 als Buch unter dem Titel «Blätter aus dem Brotsack». Daraus nochmals ein Zitat zu einem dieser Bunker, die als wichtiger Teil des Reduit in den Schweizer Alpen erstellt wurden:

«Natürlich ist es nicht möglich, dass man ihn mit dem Pinsel zum Verschwinden bringt. Er steht auch unter dem Netz seiner Tarnfarben, die aus Schwarz und Grün und Ocker bestehen, noch immer klotzig genug. Immerhin, es lassen sie die harten Geraden, die verräterischen Umrisse verwirren, fürs Auge zerstücken und zerbrechen, die harte Fremde eines solchen Menschenwerkes, das inmitten natürlichen Gewächses steht, mindestens verunklären. Das ist der mögliche Zweck der Tarnung.»

Die beiden kurzen Bunkertexte finden sich in der 309-seitigen Schrift «Bergende Berge. Reduitfantasien in der Literatur», die Andreas Bäumler als Dissertation im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts «Gebirgskrieg und Reduit in der Literatur – Prekäre Alpen in national-imperialer Verschränkung (2019–2023)» an der Universität Luzern verfasst hat. Die Titel zeigen sofort, dass da gehörig mit intellektueller Kelle angerichtet wird. Wer wie ich bei den helvetischen Epistemen des Kalten Kriegs (Seite 34) nicht gleich warm wird, auf der intradiegetischen Ebene (166) ins Trudeln kommt, die Zwischentitel Digression statt Dissuasion (171) und ontologische Instabilität des Bunkers (179) nicht locker mitnimmt und spätestens im Kapitel Rückzugsfantasien im Modus der Dystopie (189) leicht angestrengt auf die Zeilen starrt, muss die Lektüre halt kurz unterbrechen und dort weiterfahren, wo die (Lese-)Arbeit mit Schlauch und Pinsel spriesst. Und man darf sich auch nicht davon verwirren lassen, dass es im dritten Hauptkapitel zweimal das Unterkapitel 3.1.1 gibt, einmal als Die Reinheit der Erzählung: Geschichtspolitik in der Nachkriegszeit und zehn Seiten weiter hinten als «Ich sehe nichts»: Dokumentation der Ereignislosigkeit im Abschnitt zu Max Frisch.

Denn: Die gebirgige Lektüre der Reduit-Literatur lohnt sich allemal, zuerst mal die Einleitung. Darin geht es nicht nur um das Reduit, um dieses System aus militärischen Verteidigungsanlagen in den Schweizer Alpen, die insbesondere im Zweiten Weltkrieg erbaut wurden, wie eben die von Max Frisch erwähnten Bunker. Sondern überhaupt um das Verhältnis der Eidgenossen(schaft) zu ihren Bergen, zur beliebten Durchlöcherung derselben, immer belegt durch zahlreiche Literaturhinweise. Und dann eben die tiefbohrende Untersuchung literarischer Texte, die das Reduit und so den Rückzug ins alpine Refugium erweitern: Texte von Graf Frédéric Gonzague de Reynold de Cressier, Max Eduard Liehburg und Felix Moeschlin, von Max Frisch, Otto F. Walter, Hermann Burger und Jürg Acklin, von Getrud Wilker, Friedrich Dürrenmatt, Claude Delarue und Christian Kracht. Nicht alle Texte scheinen per se lesenswert, Reynold und Liehburg schon gar nicht; aber wie Andreas Bäumler diese zerstückt und zerbricht, ist schon faszinierend, auch wenn man nicht sofort (oder überhaupt) jedes Wort versteht.

Weniger Kopf-, dafür mehr Fussarbeit verursacht «WanderOrte. Literarische Werke und ihre Schauplätze». Cyrill Stieger besucht mit 17 Autorinnen und Autoren 18 Orte, wo sie gelebt und/oder die sie in ihre Werke aufgenommen haben; Friedrich Glauser begleitet uns zweimal, in Münsingen sowie zwischen Heiden und Grub in Appenzell-Ausserrhoden. Mit Hermann Burger lernen wir das Ruedertal und mit Otto F. Walter das Maderanertal kennen, mit Dürrenmatt tauchen wir ein in die Twannbachschlucht – um die drei Schriftsteller zu nennen, die ebenfalls im Reduit-Buch auftauchen. Im Tessin begegnen wir Erich Maria Remarque und Aline Valangin, im Wallis Rainer Maria Rilke, Corinne Bille und Charles Ferdinand Ramuz. Dies aber fast mehr im Buch als vor Ort, weil die (wander-)touristischen Infos eher karg daherkommen. Illustriert ist es mit ganzseitigen aktuellen Farbfotos, auf denen nichts mehr angesäht werden muss.

Andreas Bäumler: Bergende Berge. Reduitfantasien in der Literatur. Signaturen der Moderne, Bd. 7. Schwabe Verlag, Basel 2025. Fr. 64.- https://schwabe.ch/Andreas-Baeumler-Bergende-Berge-978-3-7965-5180-2

Cyrill Stieger: WanderOrte. Literarische Werke und ihre Schauplätze. Mit einem Nachwort von Urs Faes. Orte Verlag, Schwellbrunn 2025.

Côte Bleue

Nur wandern ist schöner als lesen oder fahren. Zum Beispiel an der blauen Küste westlich von Marseille. Vier unvergessliche Tage an einer der schönsten Eisenbahnstrecken von Frankreich.

«Je découvris, à la nuit tombante, au bas d’un mauvais chemin en à-pic et très cassegueule avec ses pierres roulantes, la Calanque de La Redonne, encombrée de barques tirées sur les galets et sa placette rocailleuse.»

Diesen schlechten, steilen und mit seinen rollenden Steinen halsbrecherischen Weg findet sich in der Calanque de La Redonne nicht mehr. Die Zufahrtsträsschen sind geteert, und der Sentier des Douaniers, der so nah als möglich dem Mittelmeer entlang verläuft, ist dort breit ausgebaut. Aber andernorts an der felsigen Küste westlich von Marseille, zum Beispiel beim Aufstieg vom Plage de Figuerolles, ist der Weg genau so, wie Blaise Cendras den Abstieg nach La Redonne beschrieben hat. Mehr noch: Kurz nach dem erwähnten Aufstieg vom Figuerolles-Strand kommt man zu einer Passage, wo ein Fixseil über einen mitten auf dem Küstenpfad liegenden Felsblock hinweghilft. Und dann sind es nur noch zwanzig Minuten bis zum ersten Etappenort Niolon. Bienvenue sur la Côte Bleue!

Die Blaue Küste ist ein kleiner Abschnitt der französischen Mittelmeerküste. Sie erstreckt sich westlich von Marseille über 25 Kilometer bis zur Mündung des Canal de Caronte ins Meer, wobei an den Eckpunkten Hafen- und Industrieanlagen liegen. Wunder- und wanderbar gibt sie sich von Resquiadou bei L’Estaque bis zur Anse de Laurons (eine gute Wanderstunde südlich des Bahnhofs Martiques). Ein Sentier du Littoral erschliesst die Küste; im östlichen, wilden Abschnitt heisst er Zöllnerpfad; dort verläuft er teilweise direkt ober- oder unterhalb der Eisenbahnstrecke. Es sind dies die beiden einzigen Routen an dieser felsigen, mit Pinien bestückten Steilküste.

Die Ligne de la Côte Bleue zählt zu den schönsten Bahnstrecken Frankreichs, mit zahlreichen Viadukten, die die Küsteneinschnitte elegant überbrücken, während die Wanderer ab- und gleich wieder aufsteigen dürfen – bzw. müssen, wenn Beine und Rucksack schwer geworden sind. Christophe Pons stellt in den im Februar 2025 erschienenen «Balades curieuses sur la Côte Bleue» Abschnitte des Küstenweges vor, wenn dieser in die Rundtouren (von Bahnstationen aus) einbezogen wird. Insgesamt sind es elf Wanderungen und fünf Schwimmstrecken; dazu 26 Hintergrundgeschichten, wie eben zu Blaise Cendrars, der in «L’homme foudroyé» (Die Signatur des Feuers) seinen Aufenthalt in La Redonne festgehalten hat. Es ist dies einer der ganz seltenen (Wander-)Führer zur Côte Bleue. Zu den berühmten Calanques (östlich) von Marseille hingegen: zig Publikationen. Deshalb, meine Leute: Allons-y sur la Côte Bleue!

Hier nun ein Vorschlag für vier Wandertage an der blauen Küste.

1. Tag: L’Estaque – Niolon. Per Bahn nach Marseille St-Charles und weiter in wenigen Minuten nach L’Estaque. Runter zum Meer, nach rechts. Nun stundenlang links la Mer Méditerranée, rechts die Chaîne de l’Estaque. Kurz nach Resquiadou beginnt der malerische, schmale, oft ausgesetzte und meistens markierte Sentier du Littoral bzw. Sentier des Douaniers. Zeit: 2 h 20; Schwierigkeit: T3 mit Stellen T4. Nur wenige Unterkünfte in Niolon; empfehlenswert, auch nur zum Petit Déjeuner, das Bahnhöfli https://train-inc-cafe.com. Abendessen: Restaurant La Pergola.

2. Tag: Niolon – Carry-le-Rouet. Bis in die Calanque de Grand Méjean nochmals in jeder Hinsicht atemberaubend, bis La Redonne etwas ruhiger vom Untergrund, und dann eine Mischung aus Wegen, Strässchen und Treppen. Zeit: 4 h 10; Schwierigkeit: T3 (bis Grand Méjean), dann T2 und T1. Unterkunft in Carry-le-Rouet: sehr gediegen im Bleu Hôtel & Spa am Hafen. Abendessen: viele Restaurants am Hafenquai. Morgenessen: In der Boulangerie am Beginn der Avenue de Calanque.

3. Tag: Carry-le-Rouet – La Couronne-Carro. Auf gepflegten Wegen, auch auf Strassen, immer der nun eher flachen Küste entlang. Zeit: 3 h 45; Schwierigkeit: T2 und T1. Unterkunft: in La Couronne die Bastide des Joncas (Typ Maison de vacances). Abendessen: rund um den Hafen von Carro. Morgenessen: in einer der Strandkneipen an der Anse du Verdon.

4. Tag: La Couronne-Carro – Martigues-Lavéra: Bis zur Anse de Laurons auf Strassen und Wegen entlang der nun wirklich flachen Côte Bleue. Schwierigkeit: T1. Zeit: 1 h 30 bis in diese letzte Badebucht, dann eine gute Stunde meist auf Strassen, nach Unterquerung des Viaduc du Verdon immer östlich der Eisenbahn, zum Bahnhof von Martigues (im Ortsteil Lavéra). Es fährt auch ein Bus. Dann mit der blauen Bahn in einer knappen Stunde entlang der blauen Küste zurück nach Marseilles, und in gut sechs Stunden zurück nach Bern. Empfehlenswerte Lektüre: «Gefährliche Côte Bleue. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc» von Cay Rademacher. Zitat aus dem Start: «Als Calanques wurde die zerklüftete Felsenküste östlich und westlich von Marseille bezeichnet. Blanc hatte schon vom karibischen Wasser und von harzigen Pinien gehört, von halsbrecherischen Pfaden zwischen mürbem Gestein.» Bonne balade!

Christophe Pons: Balades curieuses sur la Côte Bleue. L’éco-guide. Éditions Glénat, Grenoble 2025. € 13,90.

François Meienberg: Zu Fuß durch die Provence. Weitwandern zwischen Mont Ventoux, Verdonschlucht und Saint-Tropez. Rotpunktverlag 2019. Die Côte Bleue als Dreitagestour beschrieben, mit einer zu langen ersten Etappe (von L’Estaque bis Carry-le-Rouet) und zuletzt mit dem Marsch ins Zentrum von Martigues und nicht zum Bahnhof (so verpasst man die Rückfahrt mit der Ligne de la Côte Bleue).

Blaise Cendras: L’homme foudroyé, 1945. Die Signatur des Feuers. Lenos Verlag 2000.

Cay Rademacher: Gefährliche Côte Bleue. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc.  Band 4. Dumont Verlag 2017.

Vitesse

Die dritte Ausgabe von «Les Sports Modernes» gibt Vollgas. Bitte anschnallen und Helm aufsetzen. Die Lesebrille ebenfalls.

«Genau ab der Türe dieses Hauses [‹Restaurant du Théâtre› beim Zytglogge in Bern] fuhren wir damals jeweils am Samstag, wenn es die Schneeverhältnisse erlaubten, mit Pierres rassigem Bignan-Sportwagen, durch ein Bergseil verbunden, im Höllentempo über die Kirchenfeldbrücke, so dass der Streusand Funken sprühte, dem Wochenende in Grindelwald oder Lauterbrunnen entgegen.»

An diese auffallende Verbindung von zwei schnellen sportlichen Fortbewegungsmitteln erinnerte sich Walter Amstutz im Kapitel «Die Skiwelt von gestern» im Jubiläumsjahrbuch «Der Schneehase» des Schweizerischen Akademischen Ski-Clubs von 1974. Im «Du Théâtre» hatte der aus Mürren stammende Amstutz zusammen mit zwei Freunden am 26. November 1924 den SAS gegründet. Fünf Jahre später wurde er zum ersten Kurdirektor von St. Moritz gewählt. Im Sommer 1929 fand die erste Internationale St. Moritzer Automobilwoche statt; ein Höhepunkt dabei war das Kilomètre lancé am 29. August 1929, ein Geschwindigkeitsrennen auf der schnurgeraden «Shellstrasse» zwischen Samedan und Prontresina. Bereits im Herbst dieses Jahres lancierte Amstutz die Arbeiten für eine steile Piste, die von der Bergstation der Corviglia-Standseilbahn ins Val Saluver hinabzieht. Dort fand am 14. Januar 1930 das erste Kilomètre lancé auf Ski statt. Der Innsbrucker Gustav Lantschner siegte mit 105,675 km/h und stellte damit den ersten Geschwindigkeitsrekord auf. «Eine phantastische Geschwindigkeit!» So das Jahrbuch des Schweizerischen Skiverbandes von 1930: «Wird sie noch überboten werden? Schon möglich. Tempo, Tempo, Tempo! Ist nicht so das Charakteristikum unserer Zeit?»

Was für eine Frage vor knapp hundert Jahren! Dem Tempo ist die dritte Ausgabe der sporthistorischen Publikation «Les Sport Modernes» gewidmet, nach den Bergen (mit Amstutz auf dem Cover) und der sportlichen Führungskraft. Die Geschwindigkeit ist, so schreiben Christophe Jaccoud und Laurent Tissot im Editorial, «ein zentraler Begriff, ja sogar mehr noch, ein Begriff, der im Herzen des Sports und der sportlichen Praxis selbst verankert ist. In einem ersten Sinne ist sie das absolute, unbestreitbare Kriterium für Leistung, und zwar in allen Sportarten. Eine prosaische Selbstverständlichkeit, die auf eine dem Sport eigene Form der Gerechtigkeit hinweist, die sich in der Formel verkörpert: Der oder die Schnellste gewinnt.» Doch die Geschwindigkeit geht darüber hinaus. Nochmals die beiden Herren, nochmals in Übersetzung: «In einem zweiten Sinne und in Sportarten, in denen die Zeiterfassung nicht das absolute Kriterium für die Leistung ist, stellt die Geschwindigkeit, gekoppelt mit der Präzision, den grundlegenden Parameter für eine gute sportliche Geste und ihre Wirksamkeit dar. Schliesslich wurzelt die eigentliche Logik der sportlichen Praxis in den hyperbolischen Werten der Selbst- und vor allem der Fremdüberwindung; die Sportkultur zahlt gewissermassen ihre Schuld an die Welt, in der sie entstanden ist: die Welt des Kapitalismus, der Produktivität und des allgemeinen Wettbewerbs.»

Alles klar? Nun aber mit Vollgas zu den 32 Beiträgen, darin sich acht dem Automobil(rennsport) widmen. Zum Beispiel der italienisch-schweizerischen Pilotin Luisa Rezzonico, die am 1. Oktober 1954 mit 21 Jahren während des ersten Autogiro d‘Italia auf der dritten Etappe von Napoli nach Bari mit 130 km/h an einer Mauer verstarb. Oder dem Verbot von Autorundstreckenrennen in der Schweiz. Der Skisport kurvt im Buch natürlich rassig mit. Grégory Quin bespielt die beiden Kilomètre lancé von St. Moritz und verknotet sie mit der Geschichte der Erstdurchsteigung der Eigernordwand (wenn Heckmair und Vörg nicht die langsameren Harrer und Kasparek im Schlepptau hätten mitnehmen müssen, wären sie vielleicht noch vor dem Wetterumschlag ausgestiegen). Ein Artikel beleuchtet «vitesse et ski dans le cinéma en Suisse, 1900–1965», ein zweiter den Skilift-Pionier Ernst Constam, einen «Ingenieur der Geschwindigkeit (und des Rhythmus)». Susanne Stacher untersucht, wie Architektur in den Bergen «mit dazu beitragen kann, Geschwindigkeit zu steigern, indem sie den Körper beschleunigt»; das gilt für die Seilbahnstation Cima di Furggen zwischen Breuil-Cervinia und Zermatt oder die Bergisel-Sprungschanze in Innsbruck. Im Beitrag «Pferdestärken» dreht sich alles um die Paliorennen der italienischen Renaissance und das Erlebnis von Tempo. Laurent Tissot zeigt anhand von Tagebucheinträgen und Fotografien auf, wie der Neuenburger Himalaya-Pionier Jules Jacot-Guillarmod um 1900 mit Velo und Auto neue Geschwindigkeiten erfuhr. Beim Sprint im Bahnradsport kann auch die Person gewinnen, die am längsten still zu stehen vermag; Stehversuch, englisch standstill, heisst dieses taktische Manöver mit möglichst Null Fahrtwind.

Mitten in der 250seitigen Publikation «Vitesse» findet sich ein aufschlussreiches Gespräch mit Vincent Kaufmann, professeur de sociologie urbaine et d’analyse des mobilités à l’Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL). Darin geht es ganz allgemein um Geschwindigkeit, Beschleunigung und Mobilität, um ihre soziologischen, wirtschaftlichen und philosophischen Aspekte. Nur ein kurzes Zitat: «On est de plus en plus rapide, c’est à dire que le lent d’il y a trente ans est beaucoup plus lent que le lent aujourd’hui.»

Langsam käme sich sicher auch Gustav Lantschner vor. Der Geschwindigkeitsrekord auf Ski liegt heute bei 255,500 km/h (Männer) und 247,083 km/h (Frauen). Der Franzose Johan Clarey raste 2003 mit 161,9 km/h durch den Hanegg-Schuss – das höchste je gemessene Tempo in einem Abfahrtsrennen. Die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit erreichte 1993 Armin Assinger mit 112,37 km/h in der Abfahrt in der Sierra Nevada. Und wenn vom Durchschnitt die Rede ist: Albert Guyot gewann 1921 auf einem Bignan 3,0 l den Grossen Preis von Korsika über 443 km, mit einem Schnitt von 72,420 km/h. Skijöring mit diesem Tempo auf der Kirchenfeldbrücke – wirklich höllisch!

Christophe Jaccoud, Grégory Quin (Hrsg.): Vitesse. Compétition, performance et accélération dans le sport. Les Sports Modernes n°3, Société, Culture, Temporalité, Territoire. Éditions Alphil-Presses universitaires suisses, Neuchâtel 2025. Fr. 35.- https://www.alphil.com/livres/1424-1768-les-sports-modernes-numero-3-2025.html#/1-format-livre_papier. Für Mitglieder der Association pour la valorisation des archives et de l’Histoire des sports (AvaHs) ist die Publikation im Jahresbeitrag von Fr. 60.- inbegriffen.

Gischterwäng

Humorvolle Bergbücher lassen sich an zwei Kletterhänden abzählen. Am Weltbuchtag greifen wir lachend zum jüngsten.

«Wenn ich darunter leide, in der Gesellschaft zu wenig Ansehen zu geniessen, besteige ich den Mount Everest und schreibe anschliessend ein Buch darüber. Das haben schon viele getan. Auf einen Schlag werden mich alle bewundern. Das Buch wird vielleicht niemand lesen, aber alle denken sich: Wow, der hats weit gebracht und hat auch noch ein Buch darüber geschrieben!»

So steil steigt der Kletterführer «Gischterwäng» von Tinu Schwarz und Röfe Maler ein. Mit ihnen und ihrem Werk feiern wir heute den Welttag des Buches und des Urheberrechts. Seit 1995 ist der 23. April «ein von der UNESCO weltweit eingerichteter Aktionstag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren», heisst es auf Wikipedia. «Das Datum des 23. April geht zurück auf den Georgstag. Es bezieht sich auf die katalanische Tradition, zum Namenstag des Volksheiligen St. Georg Rosen und Bücher zu verschenken.» Wir bleiben auf Empfang und klettern weiter durchs Vorwort:

«Wir jedoch haben kein Geld, um den Everest zu besteigen, also suchen wir etwas anderes. Warum nicht etwas Grosses im Sportklettern vollbringen? Aber was? Eine Erstbegehung in der Eigernordwand? Geht nicht, das Routennetz ist leider bereits zu dicht und alle anderen berühmten Wände sind erschlossen. Dann aber entdecken wir eines schönen Herbsttages die grosse Felsenfluh Gischterwäng! Noch kein Kletterer hat hier je geklettert. Die einsamen Felsen warten darauf, von uns erschlossen zu werden. Ein Traum wird wahr! Eroberungsgefühle steigen auf, Erstbegehungsfieber liegt in der Luft. In Gedanken reihen wir uns bereits in die Liste der grossen Kletterpioniere ein. Jetzt haben wir ein grosses Ziel: Wir wollen die Kletterwelt zum Staunen bringen! Wollen die schönsten aller Routen erstbegehen. Wollen ein Buch darüber schreiben und in die Klettergeschichte eingehen.»

Das ist den beiden Bernern und Neo-Autoren gelungen. Wie sie übrigens wirklich heissen, kennt nur eine Handvoll Leute. Wichtiger ist, dass ihr Buch in die Geschichte der Bergliteratur eingehen wird. Denn humorvolle Bergbücher lassen sich an zwei Kletterhänden abzählen. Bereits beim Lesen der Legende zum Cover der erste Lacher: «Tinu S. im erfolglosen dreiundvierzigsten Versuch der Route ‹Pech und Penis› 8c+.» Erst recht dann beim Aufklappen der Übersichtskarte, die einem Ausschnitt der Landeskarte täuschend ähnlich ist. Aber diese Namen im Ängistirntal und Schluckhalstal! Härdöpfelstock, Eierstock und Schlagstock, Schnuddersee, Eiterbibeli und Hosebislerquell lassen nur bedingt Vorfreude aufkommen, die «über 90 Top-Routen im bestem Sediment-Polyporphyr» auch wirklich zu klettern. Leider bzw. zum Glück gibt es die Anstiege «No es Löffeli Adrenalin füre Moudi», «Das ist mir Schuppe» und «Fliegenlandeplatz» wohl nur in diesem Kletterführer. Darin wird wirklich alles – vom Naturschutz und Geologie über Unterkünfte und Fahrplan bis zu Routeninfos, Fotos und Reklamen – höchst amüsant und ziemlich schräg behandelt und beschrieben, und das Seite für Seite, Satz für Satz und Bild für Bild. Ein Meisterwerk, fürs Klettervolk sicher noch um eine Seillänge mehr, aber gerade das Kapitel zur Alpingeschichte des Ängistirntals wird auch Flachwanderer und Hochlandtouristinnen begeistern. Wer schon etwas schnuppern will, gibt www.gischterwaeng.ch oder auch https://egopoint.ch/ ein. Aber vorher klettern wir noch zum Ausstieg der Einleitung:

«Unsere Gischterwäng ist unser kleiner Everest. Und wenn wir nicht unverzüglich mit der Erschliessung beginnen, kommen andere und schnappen uns alles weg. So konzentrierten wir unser gesamtes Engagement in den letzten Jahren auf die Gischterwäng. Und nun ist alles fertig. Wir haben es geschafft. Stolz präsentieren wir hier unseren Kletterführer!»

Tinu Schwarz, Röfe Maler: Gischterwäng. Kletterführer. Topo.Verlag, Frenkendorf 2024. Fr 27.-