Allein auf weiter Flur

Määhh, ich habe Hunger! Ich stehe hier alleine, vor mir der Abgrund, und ich weiss nicht wohin! Mää-hää, wo bist du, Mam? © Annette Frommherz Vorder Glärnisch 08 2016 (33)

Sie haben mich eingekreist. Zwei Männer, ich kenne nur einen davon. Das ist der Älpler, hat Mam gesagt. Aber jetzt ist sie fort. Ich stehe vor diesem Absatz, die Steine sind rutschig, meine Beine zittern. Ich kann nicht weiter, weiter vorne ist nichts mehr. „Bliib stah, gopferteckel, susch bisch dune!“ Der Mensch, nicht der Älpler, der andere, der macht ein böses Gesicht, es ist ganz rot. Und er keucht. Wenn nur Mam jetzt da wäre, määhh! Bleib immer schön in meiner Nähe, hat sie mir beigebracht, die Hänge des Vorder Glärnisch sind steil, mäh, und das ist gefährlich, mein Kind.

Als die Sonne ganz oben am Himmel stand, haben sie 392 unserer Schafe weggetrieben. Das hat mir Mam erklärt. Ich weiss nicht, wie viele das sind, aber schon eine ganze Menge. Mam stand mit mir und den zwei weissen Schafen, die mit den schwarzen Köpfen, etwas abseits, weil da die Kräuter so fein schmeckten. Sagte Mam, ich habe ja nur getrunken. Und dann sind sie plötzlich weggesprungen, und ich hinterher. Die Geröllhalde hinunter, so schnell konnte ich gar nicht springen. Und dann waren sie weg, määhh, einfach weg! Ich habe hinterher geschrieen, aber es hat nichts genützt.

Vorder Glärnisch 08 2016 (24)

Jetzt stehen diese Menschen um mich, der Älpler und der andere, und packen mich. Ich kann gar nichts tun, määhh. „Chum, nimms in Rucksack, da gahts steil abe und dä Wäg isch lang.“ Nur mein Kopf bleibt im Freien. Es schaukelt. Der Mensch riecht nach Mensch, und ein bisschen nach etwas anderem. Es schlägt schnell in mir, ich kann fast nicht atmen. Mam, wo bist du? Määhh!

Vorder Glärnisch 08 2016 (4)
Vorder Glärnisch 08 2016 (28)

Wie wir endlich bei einer Hütte ankommen, sitzen da noch mehr Menschen, ganz verschiedene, und einer steht auf und nimmt mich endlich heraus. Er drückt mich an sich und streicht mir über das Fell. Immer wieder. Das tut gut. Es schlägt nicht mehr so schnell in mir. Der Mensch riecht etwas streng, aber ich darf mich auf seinem Schoss ausbreiten. Den Hund, der mich von vorne bis hinten leckt, den kenne ich, der rennt sonst immer ganz aufgeregt um uns Schafe herum. Jetzt stehen wir zusammen im Gras und sind schon fast Freunde.

Jeder will mich streicheln, dabei will ich nur zu Mam. Und mä-hää, ich habe Hu-unger! „Mir müend d’Muetter go sueche.“ Der Mensch trägt mich bald über die steile Böschung hinauf, die Glöcklein klingeln immer lauter. Die braunen Schafe schauen kurz vom Grasen auf, dann fressen sie weiter. Mam ist heller, ich weiss nicht so genau, wie hell, aber sie riecht so, wie sie muss.
Määhh! Jetzt höre ich sie. Mää-hää! rufe ich ihr zu. Und nun rieche ich sie! Ich komme, Mam, ich komme, mää-hää!

Mit freundlicher Genehmigung der Menschen, des Hundes und des Lamms.

Ach du, meine Heimat!

Was zeigt man einer Ukrainerin von der Schweiz? Sind es die Glarner Tüechli? Die Bergseen? Die SBB-Billetautomaten? Oder etwas ganz anderes? Ein Versuch. © Annette Frommherz Spilauersee mit Katja 07 2016 (23)

Katja ist vor zwei Monaten in die Schweiz gekommen. Nicht als Flüchtling, nein, sie ist aus der Ukraine gekommen, weil sie in ihrem Veterinär-Medizinstudium ein Praktikum in einem landwirtschaftlichen Betrieb absolvieren soll. Eigentlich hätte sie sich für einen Betrieb mit Tieren interessiert, doch nun muss sie sich mit dem alten Kater und mit den Beeren und Kirschen im Betrieb meines Liebsten zufrieden geben. Katja stemmt gerne ihre Hände in die Seiten. Neben den paar wenigen Brocken Hochdeutsch fällt vor allem ihr befreiendes Lachen auf und ihre Selbstsicherheit. Bald will sie alles wissen: Wie sie nach Zürich kommt, wo man Rucksäcke kaufen kann, was die Schweizer am liebsten essen. Wir verständigen uns mit Gesten, Geräuschen, Händen und Füssen – es ist ein herrliches Zuschauen.

Wir wissen wenig über ihre Heimat. Wissen wir mehr über unsere? Eines Sonntags fahren wir mit Katja Richtung Riemenstalden, um mit der Chäppeli-Luftseilbahn an Höhe zu gewinnen. Die nostalgisch anmutende Bahn scheint uns die richtige, um Katja etwas Abenteuer zu vermitteln. Sie fotografiert auf dem Weg dahin alles, was sie vor Augen bekommt. Klick. Eine Mutter mit ihrem kleinen Kind. Was ist daran so interessant? Klick. Der spiegelglatte Lauerzersee. Klick. Die Galerie der Axenstrasse. Klick. Ein Ameisenhaufen. Klick. Das Hinweisschild beim Parkplatz. Mit einem Male sehe ich die Schweiz, unsere Heimat, mit anderen Augen.
Wie muss es für eine junge Frau sein, in ein Land zu kommen, in dem eine fremde Sprache gesprochen wird und die Leute so anders sind als zu Hause? Mit welchen Erwartungen ist sie hierhergekommen? Katja ist – wie wir inzwischen wissen – auf dem Lande aufgewachsen. In ihrem kleinen Dorf lebt man von Selbstversorgung und dem Handel von Produkten. Die Pferde werden nicht geritten, sondern zum Ackerpflügen eingesetzt. Das Bild von Katjas Mutter und ihren Schwestern zeigt rotbackige, stämmige Frauen, die anpacken können. Ich könnte schwören, dass sie an den Händen Hornhaut haben.

Spilauersee mit Katja 07 2016 (2)

Wie ist die Schweiz? Was macht sie zu meiner Heimat? Wir zeigen Katja den Spilauersee, wie er im Wasser die Hänge spiegelt. Wir richten ihren Blick auf die Berge und hinunter in die Ebene; die Aussicht ist auf alle Seiten atemberaubend. Klick. Es ist die heile Welt, die wir ihr zeigen – in einer Welt, in der es Mode geworden ist, sich in die Luft zu sprengen und Unschuldige mitzureissen. Ich atme tief durch. Hier oben ist die Luft rein. Vielleicht wähnen wir uns auch einfach in falscher Sicherheit. Nichtsahnend liegen die grünen Matten, arglos wiegen sich die Blumen in der Alpwiese, makellos zeigt sich der Bergsee.
Ein bisschen berührt es mich schon, als wir mit Katja bei der Lidernenhütte ankommen und die Schweizerfahne sanft im Winde weht. Ist das der Heimatstolz? Klick. Katja hat die Speisekarte fotografiert und zeigt auf das Knoblauchbrot. Sie weiss, was sie will. Klick. Und weg wird sie sein. Schon in zwei Wochen. Wir werden sie vermissen.

Mit freundlicher Genehmigung von Katja, für Bild und Text.

Zeit totschlagen, aber richtig!

Es gilt als gutes Zeichen, wenn ich schreibe. Gesundheitsfördernd sozusagen. Der Weg der Besserung bietet Zeit, die nun anders genutzt werden will. © Annette Frommherz

In meiner Situation kann ich nur am Rande über Berge im eigentlichen Sinne berichten, weil auf sie zu steigen mir verwehrt ist. So verkommt der Bergblog kurzfristig zur Glosse, wofür ich mich entschuldige.
Sämtliche sportliche Aktivitäten sind wegen den Rückenbeschwerden von meinem Bewegungsplan gestrichen worden. Ersatzlos. Ich bin sozusagen zum Nichtstun verurteilt.

Aussicht vom Dent des Rosses
Aussicht vom Dent des Rosses

Lies, sagt mein Sohn, lies all die angefangenen Bücher auf deinem Nachttisch, in den verstaubten Regalen, lies sie alle endlich fertig, jetzt hast du Zeit dafür. L. rät mir, keine unnötigen Anstrengungen zu unternehmen, die Moral im Keller zu holen, die solle gefälligst selber die Treppe heraufkommen. „Sie werden von Gefühlen überwältigt und können mit dem Verstand nicht mehr viel ausrichten“, meint das Horoskop. Da liegt die Kissling goldrichtig. Die Ergänzung, es sei gut möglich, dass nun eine verflossene Liebe auftauche und mich verzücke, überlese ich bewusst. Schliesslich will ich meinen Liebsten, der sich in den Bergen vergnügt, nicht unnötig beunruhigen. Auch U.s dringenden Rat, ich solle den Magenschoner nicht vergessen, beherzige ich. Das hat mir bereits der Arzt mit erhobenem Zeigefinger beigebracht. Auch weitergehende Vorkehrungen habe ich getroffen: Die Suche nach einem Tangopartner ist vorläufig auf Eis gelegt. Ich versuche mich vermehrt in Meditation, Atemtechnik und Ablenkung; das ist rückenschonender. Die zweite U. rät mir zu Yoga, was mich nicht weiter erstaunt, weil sie es unterrichtet.

Wäsche bei der Cabane de Moiry
Wäsche bei der Cabane de Moiry

Jetzt hätte ich Zeit für Weiterbildung, meint M., sich weiterzubilden sei ein must-do. In der Zeitung, welche ich für meine weitere Bildung zur Hand nehme, lese ich, Fructose als Zusatzstoff sei der schlechteste aller Süssstoffe, aber das weiss ich bereits. Ich könnte meine Englischkenntnisse verbessern, nach alternativen Fettverbrennungs-Methoden suchen, den vielen Verschwörungstheorien nachgehen, mich mit dem Lehrplan 21 auseinandersetzen, die drastischen Auswirkungen der Gletscherschmelze studieren oder mich mit der Bundesfinanzierung des Asylwesens beschäftigen. Das alles würde meinen Allgemein-Bildungsstand enorm fördern und mich ablenken von der Tatsache, dass ich Berge nur von Ferne sehen kann.
Nun fehlen für diesen Text noch die Bilder. Die sind wichtig, denn wie ich aus verlässlicher Quelle erfahren habe, schaut mindestens einer nur die Bilder an, ohne den Text zu lesen. Und für den soll auch gesorgt sein.

Plan B

Oft genug befallen mich Zweifel, ob ich in der Lage bin, höhere Mächte einfach hinzunehmen. Noch bevor ich einmal mehr darüber nachdenken konnte, wurde mir Plan B vorgelegt. Ungefragt. © Annette Frommherz

Kunkelspass Ringelspitzhütte 07 2015 (20)
Wallis Val d'Annivier mit Lucas 07 2015 (8)
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Nächtens erwachte ich und hoffte, die Schwärze der Nacht möge die Schnelligkeit der Zeit nehmen, die Hast verschlingen und die Ruhe behutsam einfangen. So lag ich wach und versuchte, die Gedanken, die sich übereinander stapelten, zu sortieren.
Eben noch hatten wir das pompöse Sommerwetter genutzt, um mit den Bikes über den Kunkelspass auf die Ringelspitzhütte zu fahren. Ein paar Tage später kletterte ich im Val d’Anniviers mit einem Bergführer über Grate, im Blickfeld meist den Lac de Moiry und über uns die locker dahinziehenden Wolkenfetzen. Alles war so, was ein guter Sommer sein soll. Überhaupt: Mit etwas anderem hatte ich nicht gerechnet, bis wir es uns zur Ehre des Nationalfeiertages auf einem Maiensäss gemütlich machten und nach dem Feuerwerk mein Rücken, der gute, blockierte. Nichts ging mehr. Zwei starke Männer legten mich vorsichtig nieder; ich kam mir vor wie ein Käfer auf dem Rücken, nur dass ich nicht strampeln konnte. Die REGA flog mich anderntags ins Spital, wo ich im vierten Stock die Aussicht über Chur hätte geniessen können. Es war mir nicht danach.
Nun, da Plan A ausser Reichweite verschoben worden ist, schlucke ich, wieder zu Hause, zu den vorgegebenen Zeiten brav Voltaren, Dafalgan, Novalgin, Sirdalud, und wie sie alle heissen, die halbe Palette der Pharmaindustrie. Ich besuche mal wieder meine Ärztin, die mich seit dem gebrochenen Daumen nicht mehr zu Gesicht bekommen hat, und lasse mich von einem Physiotherapeuten behandeln. Ich lese endlich das Buch „Sieben Jahre in Tibet“, welches mir mein Sohn längstens und wärmstens empfohlen hat, und probe den inneren Aufstand gegen die negativen Gedanken. Auf keinen Fall will ich meine dünne Haut in Selbstmitleid hinübergleiten lassen, obwohl ich dem Ganzen (noch) keine positive Seite abgewinnen kann. Immerhin habe ich die Kletter- und Tourenwoche absagen müssen; der Liebste schliesst sich übermorgen alleine der Gruppe an. Das ist hart.
Was ich daraus gelernt habe? Plan A ist nicht immer durchführbar. Es ist nützlich, einen Plan B in der Tasche zu haben. Notfalls sogar einen Plan C, falls Plan B es sich anders überlegt.

Frühstück zu zweit

Dem Glück traue ich nicht immer über den Weg, aber ich begegne ihm gerne. Wie heute Morgen, als es mich im Vorbeigehen erwischte. © Annette Frommherz

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„Morgenstund‘ hat Gold im Mund“, sagte jeweils meine Mutter, nachdem sie sich noch vor der Morgendämmerung mit dem Kaffee an den Küchentisch gesetzt hatte. Es liegt demnach in den Genen, dass mein Sohn und ich spätabends beschlossen, am nächsten Morgen mit den Hühnern aufzustehen. Er will mit dem Bike auf den Bachtel, unseren Hausberg. Ich werde ab Oberorn den kurzen Weg unter die Füsse nehmen. Treffpunkt soll um viertel vor sechs am Bachtelturm sein. Dort wollen wir frühstücken.
Der Sohnemann ist bereits unterwegs, als ich kurz vor fünf Uhr aufstehe. Noch ist es dunkel, wie ich mit dem Auto die unbeleuchtete Strasse hügelwärts fahre. In der Schwärze leuchtet der rote Punkt des Turms, und schon bald sehe ich vor mir das blinkende Licht des Bikes. Er ist schnittig unterwegs, der Sohn, und ich rufe im Vorbeifahren ein „Guten Morgen, wir sehen uns!“ aus dem Fenster.
Bald schon schreite ich mit geschultertem Rucksack den Wanderweg hinauf; vorbei an den Rindern, die mich anschauen, als käme ich vom Mars. Komme ich nicht, liebe Rinder, ich bin nur etwas früh unterwegs, erkläre ich ihnen. Es dämmert bereits. Als ich unten auf dem Strässchen meinen Sohn erblicke, schicke ich einen Jauchzer in seine Richtung. Er wird die Augen verdrehen, ich weiss es. Der Bachtel, unser Berg. Er hat eine bescheidene Höhe und nichts an ihm ist spektakulär, und doch ist er uns von besonderer Bedeutung. Während ich den Kuhfladen ausweiche, denke ich zurück an die Jahre, in denen wir oft auf diesen Hügel gestiegen waren und wir mit jedem Höhenmeter die Sorgen hinter uns lassen konnten.
Fast zeitgleich treffen wir am Fusse des Turms ein, keine andere Menschenseele weit und breit. Der Morgen gehört ganz uns. Stark bläst der Wind auf der Plattform des Turms. Wir deuten die Orte der fernen Punkte, wo nun die Lichter erloschen sind. Dunkle Wolken treiben am Himmel dahin, nur dann und wann drängt sich ein Streifen Morgenröte dazwischen. Es braucht nicht viel für das Glück, es braucht nur diesen, unseren Augenblick.

Zweitausend Höhenmeter

Potztausend, zweitausend Höhenmeter sind kein Pappenstiel! Doch wollen wir ehrlich sein: Sie gingen bergab. © Annette Frommherz Davos Frauenkirch Downhill 07 2015 (10)

Davos Frauenkirch Downhill 07 2015 (4)
Davos Frauenkirch Downhill 07 2015 (18)
Davos Frauenkirch Downhill 07 2015 (22)

Seit ich von meinen Freunden zum runden Geburtstag ein nigelnagelneues Bike geschenkt bekam, sind wir ein unzertrennliches Paar. Ich kann von Glück reden, neigt mein Liebster nicht zur Eifersucht. Weil im Unterland die Temperaturen gar steil in die Höhe kurven, suchen wir uns ein mässiger heisses Plätzchen in höheren Lagen.
Wer im Gasthof Landhaus in Davos Frauenkirch nächtigt, wird herzlich empfangen und übersieht deshalb gerne die biederen und etwas in die Jahre gekommenen Zimmer. Das Drei-Frauen-Team hält die Fäden in der Hand, das Haus im Schuss und ihre Gäste bei Laune. Mein Liebster und ich hatten uns eine sanfte Bike-Tour zurechtgelegt: Von Davos aus durch das Flüelatal auf den Tschuggenberg, entlang dem Grat übers Hüreli und zurück ins flachdach-schändliche Davos. Die Chefin des Landhauses aber zieht uns in den Bann und schwärmt vom Alps Trail Davos, welcher im vergangenen Jahr in den erlauchten Kreis der besten Mountainbike-Trails der Welt aufgenommen und ausgezeichnet worden ist. Als längster Trail der Schweiz führt die Strecke vom Jakobshorn fast vierzig Kilometer bis hinunter nach Filisur. Sechshundert Höhenmeter hinauf, zweitausend Höhenmeter hinab. „Aber sagt meinem Vater nichts, der ist Wildhüter!“ trichtert uns die Wirtin ein. Wir nicken brav und ändern unsere Pläne. Um diese zu besiegeln, drückt uns die Chefin Gästekarten in die Hände, mit denen wir kostenlos die Bahnen benutzen können.
Inkognito steigen wir am nächsten Morgen samt unseren Bikes in die Gondel, die uns hinauf zum Jakobshorn bringen soll, und wir fragen uns ernsthaft, ob sich unsere Einstellung zu den Bergen verschoben hat. Helm festzurren, Sonnenbrille auf, Rucksack auf den Rücken schwingen. Neben uns montieren Downhiller Ellenbogen-, Waden- und Knieschoner, als würden sie gleich ins Tor des HC Davos schreiten. Wir lassen die Wilden vor uns hinabdonnern. Die Abfahrt ins Sertigtal verlangt volle Konzentration. Nicht umsonst ist sie auf der Bike-Karte schwarz gepunktet eingezeichnet. Bald folgt der erste Boxenhalt – ein „Schlangenbiss“ im Schlauch. Nachfolgende Biker nehmen eine Vollbremsung in Kauf, um uns mit einer Pumpe auszuhelfen; die unsrige liegt untätig zu Hause. Auf der anderen Seite des Tales gestaltet sich der Aufstieg Richtung Äbibrügg anstrengend, weil entweder Biker entgegenkommen oder unbescholtene Wanderer ihren Platz beanspruchen. Schlechtes Gewissen macht sich in uns breit. Was haben wir hier verloren?
Ab dem Rinerhorn beruhigt sich alles. Nur wenigen Wanderern kommen wir noch in die Quere. Im Vorbeibrausen enthaupte ich ein paar Stängel von wildem Rittersporn; ausweichen ist mit dem breiten Lenker unmöglich. Nicht unweit davon erhasche ich einen Blick auf Männertreu nur, indem ich ein brüskes Bremsmanöver wage. Über Steine und Wurzeln preschen wir, schieben an unmöglich steilen oder verwurzelten Stellen unsere Bikes, vorbei an Wacholder, Alpenthymian und Habichtskraut, ohne dass wir sie richtig sehen. Ich fürchte mich vor wenig, schon gar nicht vor neuen Erkenntnissen. Irgendwann zwischen Monstein und dem zweiten Schlauchwechsel wird uns klar: Wir sind hier im falschen Film.
Ein paar Staubwolken und ein verschrammter Ellenbogen später gelangen wir auf direkterem Trail zur Schlussstrecke in die Zügenschlucht und entlang dem Fluss Landwasser. Endlich drosseln wir unweigerlich das Tempo, schauen nach dem entschleunigten Wasser in der Schlucht, bestaunen das Viadukt hoch über uns. Diese wunderschöne Strecke auf der alten Zügenstrasse, wo bis 1974 noch Autos fuhren, versöhnt uns mit dem vorangegangenen schnellen Routenverlauf. Beim Bärentritt wage ich gar einen Blick in die Tiefe. Entlang dem Wiesener Viadukt – die Bike-Route führt über ein Metallgitter neben den Gleisen – gelangen wir hinab nach Filisur. Magerwiesen voller Margeriten säumen das Strässchen.
Verstaubt, wie wir am Bahnhof absteigen, sind wir uns einig: Wir sind nicht zum Downhiller geboren. Unsere Berge besteigen wir am liebsten aus eigener Kraft und lassen uns Zeit, andächtig und der Pracht der Natur ergeben. Am meisten wundert mich ja, dass mich nichts mehr wundert.

www.landhuus-frauenkirch.ch

Das Leben ist kurz

Sommer ists, hört‘ ich unlängst sagen. Wir machen uns auf, ihn anzuschauen. Wie wärs mal wieder mit Klettern? © Annette Frommherz Grimsel klettern Mittagfluh 06 2015 (16)

Grimsel klettern Mittagfluh 06 2015 (25)
Grimsel klettern Mittagfluh 06 2015 (38)

Lange ist es her seit dem letzten Achterknoten. Zu lange habe ich keinen warmen Felsen mehr erklettert. Die Tage sind jetzt am längsten, die Nächte lau und nur am Gotthard Stau. Uns zieht es Richtung Grimsel. In Meiringen, wo die Menschen schon viel gemächlicher vor sich hinleben, speisen wir in der Abendsonne. Zusammen mit der Rechnung werden uns zwei Glückskekse serviert. Mein Liebster liest: „Du wirst demnächst sehr stolz auf jemanden in deiner Nähe sein“, und bei mir steht die Zukunftsdeutung „Herausforderungen können Sie gelassen annehmen“. Wir werden sehen. Beim Eindunkeln parkieren wir den Lieferwagen etwas abseits im Grünen und nächtigen auf der Matratze mit Blick auf den sich füllenden Mond und auf Berggipfel, die sich schwarz abzeichnen.
Ich liege länger wach und horche nach den Geräuschen der Nacht. Ein Vogel ruft in die Dunkelheit. Es rauscht vom nahen Bach, dessen Wasser eilig aus dem Felsen in die Aare fliesst und noch einen weiten Weg vor sich hat. Während ich dem Wasser lausche, denke ich darüber nach, was ich in meinem Leben noch alles erreichen und erleben möchte. Die Optionen sind zahlreich. Ob die Jahre dafür reichen werden? Immer auf dem Sprung sein. Sich nicht auf morgen vertrösten lassen. Alles nur für einen kurzen Augenblick. Ist weniger mehr? Die Antwort finde ich nicht, ich schlafe vorher ein.
Am nächsten Morgen essen wir im Freien vom Sonntagszopf und trinken den Kaffee schwarz, weil der Rahm in der Wärme flockig geworden ist. Sogar ein paar wilde Erdbeeren verwöhnen unsere Gaumen. Die Vögel trällern ihr Konzert von den Bäumen. Sie kennen keine Ungeduld und streben nicht nach Höherem. Wenn sie die Würmer aus der Erde ziehen und morgens und abends ihr Lied singen, haben sie ihr Tagewerk vollbracht. Alles hat seine Zeit. Auch das Klettern, auf das wir uns nun freuen.
Gegen den Grimsel reckt sich dreieckig die Mittagfluh, ein Granitklotz mit einer markanten Präsenz. Wir steigen am späten Vormittag in die Südkante ein, die uns nach zehn Seillängen in luftige Höhen bringen wird. Weder die Klettertechnik noch die Höhenangst habe ich verlernt, aber es ist immerhin die leichteste Route an diesem Granitfelsen. Neben uns in der Nachbar-Route parlieren lautstark drei Ticinesen; es hallt in der Südwand, die nun ganz in der Sonne liegt. Ich rede mir ein, dass immer ein guter Griff in Armlänge sein muss, sonst wäre die Route strenger bewertet. Weit unten auf der Strasse preschen die Motorräder wie winzige Parasiten Richtung Grimselpass hinauf. Was sind wir doch alle unbedeutend klein auf dieser grossen Erde.

Grimsel klettern Mittagfluh 06 2015 (52)

Am gleichen Abend erreicht mich die traurige Nachricht, ein Kollege sei in den Bergen abgestürzt. Er war ein guter, ein erfahrener Berggänger. Seine Frau hat abends vergeblich auf ihn gewartet. Das Leben ist kurz; es ist immer viel zu kurz.

Eggenmandli versus Aktenberg

Mein Wissensdurst hinderte mich daran, Wetter und Berge vor dem Fenster zu sehen. Ich hielt meinen Blick auf Bücher gesenkt und tat so, als würde das Wetter draussen nicht stattfinden. Lange, viel zu lange mussten die Berge auf mich warten. © Annette Frommherz Eggenmandli 03 2015 (6)

Eggenmandli 03 2015 (19)
Eggenmandli 03 2015 (35)

Einen halben Winter lang versuchte ich den roten Faden durch Paragraphen und Artikel zu finden, und das Zivilgesetzbuch lag schwer in meinen Händen. Der Berg vor mir bestand aus Lektüre über ein breites Thema, das es zu fokussieren galt. Kein anderer als der Liebste verstand es, mich aus Theorie und Taumel zu führen und mich auf die Skier zu stellen.
Der Südwind fegt hoch über uns, als wir im Urnerland in die Seilbahn nach Brüsti steigen. Während die Bauern im Tal bereits mit Wonne ihren Mist zetteln, heisst uns hier oben der Winter willkommen. Wir müssen die Felle gut halten, damit der Wind sie nicht wegfegt. Eggenmandli? Noch nie gehört. Unser Ziel vernimmt sich in der sächlichen und verniedlichten Form so putzig, als wäre es gar kein richtiger Berg, sondern ein Urner Maskottchen aus selbstgestrickter Wolle. Tatsächlich steht er rundum von höheren Gipfeln beschützt. Brunnistock. Wissigstock. Wissberg. Schlossberg. Sie ermöglichen es uns später, in windgeschützter Spur an Höhe zu gewinnen. Die Sonne tut dem aktengebleichten Gesicht gut, die kalte Luft reinigt die modernden Gedanken.
Wir queren den heiklen Südost-Hang des Brunnistocks, wo kürzlich zwei Nassschneelawinen sich gelöst haben. In den Lawinenkegeln liegen markant die harten Brocken von gepresstem Schnee. Doch fast schweizweit steht heute die Gefahrenstufe auf „gering“, und wir sind beizeiten unterwegs. Den steileren Aufstieg auf den Surenenpass nehmen wir im hellen Vormittagslicht. Auf der Kuppe posieren die Schneewechten wie wuchtige Wogen des Meeres; gleich müssten sie uns wegspülen.
So windstill, wie uns der Gipfel empfängt, hätten wir es uns nicht träumen lassen. Brot und Käse und endlich auch ein Gipfelkuss lassen mich die Theorien der letzten Monate gänzlich vergessen. Die Bedingungen sind so sicher, dass wir über den abschüssigen Nordosthang abfahren können, wo ein kurzer, über vierzig Grad steiler Engpass meine Fahrkünste provoziert. Der Schnee ist pulvrig und herrlich, und mein Liebster schmiegt sich in den Hang, als hätte er den ganzen Winter nichts anderes getan. Unten wird es flacher, bald müssen wir uns mit den Stöcken durch den Talboden von Waldnacht stochern. Vor uns liegt nochmals ein kurzer Aufstieg zur Bahn, die uns wieder hinunter ins Tal bringen wird, wo die Krokusse längst ihre Häupter gereckt und die Schneeglöckchen sich flächendeckend verbreitet haben. Ein Blick hinauf zum Eggenmandli. Ein schöner Berg! Ein herrlicher Tag! Wie nur konnte ich mich so lange hinter Büchern verstecken. Es darf nicht sein, dass mir die Berge abhandenkommen. Noch während ich schwöre, ist es mit meinem Handschlag besiegelt.

Übermut tut gut

Meist sind es die kleinen Dinge, die unser Herz erwärmen. Für einmal war es etwas Grösseres, was Freude bereitete und schwärmen liess. © Annette Frommherz Hundwilerhöhe 10 2014 (31)

Hundwilerhöhe 10 2014 (3)
Hundwilerhöhe 10 2014 (1)
Hundwilerhöhe 10 2014 (18)
Hundwilerhöhe 10 2014 (46)

Der Liebste drängelte, sein neues Bike einzufahren. Nun denn, es war ihm nichts dagegen einzuwenden. Aus Erfahrung weiss ich, wie wichtig es den grossen Buben ist, ihr neues Spielzeug zu testen. Jetzt. Gleich. Sofort. Schon weil ich ein gefühltes Diplom für Herzensangelegenheiten besitze, konnte ich seinen Wunsch unmöglich ausschlagen.
Das Appenzellerland lockte mit seinen sanften Hügeln, die noch immer in einem satten Grün aufwarteten. Uns lächelte der Tag entgegen, als wir von Urnäsch über Gonten Richtung Hundwiler Höhi hielten. Der Herbst trieb es bereits in bunten Farben, nur eine riesige Esche zeigte sich in einem derart frühlingshaften hellen Blätterkleid, dass wir nach der richtigen Jahreszeit Ausschau hielten. Die Gegend machte uns staunen: schön in die Landschaft gesetzt prächtige Höfe mit Fassaden voller Bauernmalerei, auf den Weiden gekonnt verteilt das Braunvieh und die weissen, bärtigen Ziegen. Es sah ganz nach der Sage aus, wonach hier einst ein Riese vorbeigewandert sein soll und aus seinem löchrigen Sack die Bauernhäuser herausfallen liess. Den letzten steilen Rest bergauf zur Höhi mussten wir unsere Räder schieben, worauf Wanderer, die uns entgegenkamen, uns für die Rücksicht lobten und meinten, wir dürften schon fahren.
Dem Wanderer und Biker steht auf der Hundwiler Höhi, wenn nach dem Aufstieg sich Hunger und Durst bemerkbar machen, ein Berggasthaus zur Seite. Wir nahmen in der niederen Stube ein Auge voll von der heimatlichen Innenausstattung. Gehäkelte Spitzen, Streuwürze auf den hölzernen Tischen, blaue Saftkrüge. Perfekt getarnt hinter der Türe entdeckten wir eine Wurlitzer, die kultige Musikbox aus den Zeiten unserer Ahnen, mit der hier wohl seit Jahrzehnten die Vinylplatten aufgelegt wurden. Ein Geldstück einwerfen, eine dieser schwarzen Scheiben wählen, und schon werden sie abgespielt, von James Browns „I feel good“ bis zum Appenzeller Streichquartett mit „Öbe Schtock ond Schtee“. Ein Arbeiter des Lokals war gerade damit beschäftigt, die leeren Harasse zu beigen. Er deutete auf den Kasten und meinte, der sei schon eine Weile defekt. Derjenige, welcher ihn reparieren sollte, laufe eben nicht gerne den Berg hinauf. Der Mann hob seine mageren Schultern etwas in die Höhe und sagte, er könnte das Ding zwar auf den Traktor hieven und hinunterfahren, aber in die Stadt wolle er damit nicht. Und so wird die Jukebox weiterhin hinter der Türe stehen, bis sich jemand ihrer erbarmt.
Mein Liebster weilte indessen gedanklich bei seinem Bike. Er freute sich auf die Abfahrt, die steiler und länger würde als je erträumt. Übermütig schwang er sich auf sein Gefährt. Ich versuchte erst gar nicht, mit seinem Tempo mitzuhalten. Gar manches Mal entschwand er meinem Blickfeld, und mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht wartete er ein gutes Stück weiter unten auf mich. Bevor es vergessen geht zu erwähnen: Er war zufrieden mit seinem neuen Bike. Mit ihm und mit dem ganzen Tag.

Ausgeträumt

Zwei Bikes waren uns zum Testen überlassen worden. Nur die passende Tour musste noch gefunden werden. Im Zigerschlitz, wo das Wort „flach“ selten passt, wurden wir fündig. Doch etwas lag in der Luft. © Annette Frommherz Lachengrat 09 2014 (2)

Lachengrat 09 2014 (7)
Lachengrat 09 2014 (17)
Lachengrat 09 2014 (19)
Lachengrat 09 2014 (37)

Von Näfels aus ging es gleich zur Sache, also hinauf. Kontinuierlich steil führte uns das Strässchen zum Obersee, in dem sich die schroffen Hänge spiegelten, die wir noch vor uns hatten. Ich hätte allen Grund gehabt, mich über den Sonnentag zu freuen: Kaum ein hämisches Wölklein hing am Himmel, die Luft war perfekt temperiert, mein Liebster wohl gelaunt. Und doch: Etwas trübte die Lage meines Gemütes.
Entlang dem Obersee erprobten wir unsere Bikes der neuesten Generation. Die Gangschaltung war vom Feinsten. In allen Variationen testeten wir sämtliche Gänge, nachdem wir bis hierhin nur die zwei niedrigsten Einstellungen gebraucht hatten. Ich dachte an meinen treuen Drahtesel, der heute zu Hause bleiben musste und sich bestimmt schämte, weil er kein Neunundzwanzig-Zoll-Bike war.
Bis zur Lachenalp wurde der Weg, nun auf Kies, noch steiler. Zeitweise schoben wir unsere Räder. Isch öppis? fragte mein Liebster. Ich schüttelte den Kopf. Was wollte ich ihm, einem Mann, denn sagen? Aber es nagte in mir. Der Lachengrat lag direkt vor uns – oder besser: über uns. Ich blinzelte in die Sonne und tat, was getan werden musste: Ich hob, wie der Mann vor mir, das Carbongestell hoch und buckelte es mit schweren Beinen den Hang hinauf. Die Mühe war es wert. Oben auf dem Lachengrat warfen wir unsere Blicke auf sämtliche lohnenden Seiten. Ein Jäger sass gut getarnt neben uns auf Grasbüscheln, streichelte mit der einen Hand seinen Hund und hielt mit der anderen sein Handy ans Ohr. Ich hörte ihn sagen: „Das chasch grad vergässe, es hätt hüt viel zvill Lüüt.“ Zwar erspähten wir keine weiteren Homo sapiens, doch zugegebenermassen auch kein Wild.
Die Glarner Gipfel reckten ihre Häupter. Alles hier schien makellos und rein. Alles hätte perfekt sein können. Und doch gab es mir einen kleinen Stich ins Herz. Mein Liebster schaute nichts ahnend hinab zum Klöntalersee, der wie ein schwarzes Loch in der Tiefe lag. Wir zurrten unsere Helme fest. Der Lohn für den nahrhaften Aufstieg stand uns bevor. Beinahe zehn Kilometer bis zum See ging es nur abwärts. Der Sattel meines Bikes liess sich bequem per Hebelschaltung höher und niedriger einstellen. Welcher Luxus! Wir sausten die Strecke hinunter, Längenegg, Chängel, Lauiboden und Schwändeli flogen an uns vorüber. Entlang dem Ufer des Klöntalersees schauten wir hinüber zu den senkrechten Wänden des Glärnischmassivs. Schon zeigten die ersten Bäume ihre bunte Herbstkollektion, aber ich beachtete sie nur flüchtig. Ich ahnte es in meinem Innersten: Es war beschlossene Sache. Wehmut legte sich schwer auf meine Brust. Ich seufzte. Die letzte Wegstrecke führte uns über Netstal zurück nach Näfels, wo ich mir schwor, niemals (niemals!) wieder auf einen Frauensattel zu verzichten.
Wir verluden die Räder in den Wagen, schütteten Wasser in die durstigen Kehlen und fuhren uns durch die zerzausten Haare. Eine schale Traurigkeit breitete sich in mir aus. Nichts würde mehr sein, wie es gewesen war.
Wieder daheim, beschlossen wir, müde zu sein. Am anderen Morgen dann die traurige Gewissheit: Er hatte es tatsächlich getan. Clooney, der George aller Frauen, ist nicht mehr zu haben.