Badile

Was wäre wenn? Eine Frage, die man sich als Bergsteiger gelegentlich stellt. Auch nach fünfzig Jahren noch.


Am 28. Juli 1962, also heute vor fünfzig Jahren, stiegen zwei junge Männer in die Nordostwand des Piz Badile ein, neunzehn der eine, Lehrling, zwanzig der andere, Student. Ein warmer Tag kündete sich an; über den Gipfel, neunhundert Meter über ihnen, zog fasriges Gewölk, das sich bald rötlich verfärbte. Die beiden kletterten schnell. Die Nacht hatten sie auf Schuttbändern über dem Bergschrund verbracht, weder Pullover noch viel Proviant hatten sie dabei. Wir müssen schnell sein, hatten sie sich gesagt. Durch die Dunkelheit sahen sie Lichtpunkte über die Moränen von der Sciorahütte her auf die Wand zukommen. Sieben Seilschaften stiegen hinter ihnen ein, aber da waren sie schon einige hundert Meter hoch. Beim kleinen Eisfeld unter der Wandmitte, das es damals noch gab, bemerkten sie im Westen über Soglio die schwarze Wand einer Gewitterfront. Die Seilschaften hinter ihnen kehrten um, die beiden Jungen jedoch kletterten ohne viel Worte zu wechseln weiter.
Kurz nach Mittag brach ein gewaltiges Gewitter über das Bergell herein, ein Hagelsturm folgte, kalte Regenschauer, fast unablässig schlugen Blitze in Grate und Gipfel. Die Route führt im oberen Wandteil durch einen Riss, der sich zum Kamin und schliesslich zur Schlucht erweitert, ein Trichter in dem sich das Wasser und Steine sammeln und alles mit sich reissend über die Wand stürzen. Die sieben Seilschaften hatten eben den Wandfuss erreicht. Die beiden Jungen waren verschwunden. Was wäre wenn, fragt man sich gelegentlich, auch nach fünfzig Jahren noch.
An diesem Abend war die Sciorahütte gerammelt voller Gäste, Spaghetti dampfte auf den Tischen, Bierdosen wurden aufgerissen. Nach neunzehn Uhr polterten durchnässte und halb erfrorene Gestalten in den Vorraum, behängt mit Seil und Haken. Lucia, die Hüttenwartin, umarmte die beiden jungen Kletterer, küsste sie, und so kamen sie wieder ins Leben zurück wie die Prinzen im Märchen vom Froschkönig. Heute vor fünfzig Jahren.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert