Vier Wochen Finale – klettern und wandern durch ein Museum unseres Lebens.
Müsste ich für meine Kletterleidenschaft ein Synonym finden, dann lautete es: Finale! Damit meine ich nicht das klettersportliche Finale, das sich in meinem Alter allmählich abzeichnet. Ich meine das Klettergebiet um Finale Ligure.
Vor 45 Jahren kamen wir zum ersten Mal in die Gegend. Wir besuchten einen Bildhauer, der in einem Steinbruch unterhalb der Wand der Pianarella arbeitete, doch an Klettern dachten wir damals noch nicht. 1972 hatten die Brüder Eugenio und Gianluigi Vaccari aus Genua eine erste Route durch die senkrechte gelbe und graue Kalkwand mit ihren Höhlen und Überhängen gefunden – eine der ersten im Finalese überhaupt. Zehn Jahre nach unserem ersten Besuch konnte ich die ausgesetzte Mehrseillängentour klettern, es war der Beginn einer grossen Leidenschaft. Finale habe ich seither fast jedes Jahr einmal oder zweimal besucht für ein paar Klettertage mit Freunden oder mit meiner Frau Christa. Diesen Frühling für vier Wochen: Fels, Meer, Italianità, eine Landschaft der Erinnerungen – wir wandern und klettern durch ein Museum unseres Lebens.
Routen wie Kunstwerke
Wir klettern am «Tempio del Vento», hoch über dem stillen Tal des Rian Cornei. Rauer grauer Kalk, feingriffige Routen und die Erinnerung an eine dramatische Rettungsaktion am Neujahrstag 1992, die sich bis in die Nacht hineinzog. Ein junger Deutscher war abgestürzt, lag schwer verletzt am Fuss der Wand, Sicherungsfehler seines Partners. Für die Rettung zuständig war die Feuerwehr von Savona, der chaotische Verlauf der Aktion fand nach Jahren Eingang in meinen Roman «Finale» (Limmat Verlag, 2010). Das damalige Opfer lernten wir durch das Buch noch kennen, als Vater einer begeisterten Kletterfamilie im Berner Oberland.
An der Falesia del Silenzio haben wir zuvor, wie schon viele Male, «Golden Lady» geklettert, eine Route über einen steilen Pfeiler, so ideal und harmonisch angelegt, dass ich sie als Kunstwerk bezeichne. Eine begehbare Skulptur, senkrecht, gelber Fels mit grossen Lochgriffen, die oft etwas weit auseinander liegen. Zum Abschluss eine Finale-Delikatesse, eine graue abschüssige Platte mit mikroskopischen Griffen, denen und der Haftreibung der Kletterfinken zu vertrauen, hoch über dem Haken, ziemlich Mut erfordert. Der Lokalmatador Marco Tomassini wertet in seinem neuen Kletterführer das alte 6b+ auf ein 6c auf – das macht den Veteranen schon ein bisschen stolz.
Marco treffen wir im Saleva Mountain Shop an der Piazza Garibaldi in Finalborgo – dem Epizentrum der Kletterszene. Im Borgo gibt es mittlerweile etwa 5 oder 6 Kletterläden. Wovon sie alle existieren können, bleibt rätselhaft, denn so gross ist der Markt nun auch wieder nicht. Die Preise sind nicht mehr so günstig wie einst, als es nur den Rockstore von Elisabetta Belmonte und Andrea Gallo gab, der eher vom pionierhaften Nimbus lebt als von Professionaltät. Marco freut sich uns zu sehen, er ist ein freundlicher Mensch, unermüdlicher Erschliesser und -sanierer von mittlerweile 600 Routen, eloquenter Schriftsteller und Autor eines Kletterführers, der in der neuesten Ausgabe über 800 Seiten umfasst. Nebst Routenbeschreibungen enthält die Bibel des Finalekletterns auch Porträts grosser Kletterpioniere wie Gianni Calcagno, Alessandro Grillo, Andrea Gallo. Marco klagt ein bisschen in Deutsch, das er fleissig lernt, über den finanziellen Aufwand des Routensanierens – 50 Euro pro Route im Schnitt, Sponsoren finde er nur noch schwer. Gelegentlich hat die Gemeindeverwaltung von Finale Ligure etwas zugeschossen.
Schlüsselmomente im Kletterleben
Eines Nachmittags wollen wir am Monte Cucco klettern, der grossen klassischen Felsstruktur, wo wir früher auch bei Regen unter den grossen Überhängen des Anfiteatro trockenen Fels suchten. Die einstige Müllhalde am Wandfuss ist geräumt, ein kleiner Campinplatz eingerichtet. Unsere alten Traumrouten schauen wir nur noch von unten an, «Cocconut», «Ultima Via», «Stravolgimento Progressivo». Und «Oggi in Stereo» ist, wie eine Notiz am Einstieg warnt, besetzt von einem brütenden Wanderfalken. Wir bedauern und sind doch ein bisschen erleichtert, denn der erste Haken steckt bei dieser Route gefährlich hoch und ist nicht gerade einfach anzuklettern. Nebenan finden wir noch genügend schönes Klettergelände in der Abendsonne, der nette Falke, den wir seit Jahren kennen, lässt sich nicht gross stören, selbst durch einen fliegenden Menschen nicht …
Wehmütig auch der Blick zur Rocca di Corno, die wir auf einer Wanderung umrunden. Die Route mit dem schlichten Namen «Ten» gehört zu den Marksteinen meiner Kletterbiografie. Einst scheiterte ich an den harten Zügen über den kleinen Überhang und an meiner Angst vor dem folgenden Runout. Träumte jahrelang von der Route, bis ich eines Tages am Einstieg stand, die Wand lag im milden Licht eines späten Nachmittags, und ich wusste: jetzt schaffe ich sie. Nach sechs Jahren träumen durfte ich den Exploit als on-sight notieren. Ein flüchtiger Moment des Glücks. Auf unserer Wanderung kommen wir nahe am Einstieg vorbei, vielleicht, ja, vielleicht werde ich es nochmals versuchen. Irgendwann. Sicher jedenfalls im Traum.
Überrollt von Bikern
Finale und vor allem auch Finalborgo haben sich stark verändert in all den Jahren. Restaurants, Bars, schicke Boutiquen und Sportläden sind aufgegangen, Fassaden sind renoviert. Anderes ist verschwunden, die Bar Helvetia mit den feinen Pasticcini, das traditionsreiche Werk der Piaggio, «Simbolo dell’eccellenza tecnologica della Liguria» in Finale Marina ist eine Industriebrache mit ungewisser Zukunft. Auch die Bar Centrale in Finalborgo hat sich verändert, einst der Treffpunkt der Kletterszene, ist schicker geworden. Man hängt nicht mehr am Tresen herum, sondern wird bedient, auch auf der Piazza. Seit den Sechzigerjahren führt sie die Familie Grosso, und noch oft steht die niemals alternden und immer herzliche Signora Renata an der Kaffeemaschine.
Irgendwann hörte ich den Padrone des Hotels Florenz, Lorenzo Carlini, mit dem Kletterpionier Andrea Gallo über Biken diskutieren. Wir nahmen das nicht so ernst, Finale heisst klettern, nicht velofahren, dachten wir. Inzwischen haben die Biker die Kletterer sozusagen aus dem Stadtbild verdrängt. Wie Ritter gerüstet mit Helm und Panzer schieben die Downhiller abends ihre total verdreckten High-Tech-Gefährte über die Piazza. Bike-Shuttles fahren sie morgens auf die Höhen für den Tausend-Meter-Flow auf Downhillpisten. Familien schwärmen mit Oma, Opa, Kind und Kegel auf blitzblanken Bikes durch die Gegend. Obwohl Finale noch immer ein grosses Kletterparadies ist, sind wir Scalatori eine Minderheit geworden. Kein so bedeutender Wirtschaftsfaktor wie der Bikesport. Fast jedes Hotel am Ort nennt sich Bikehotel, und in die Ferienresidenz Sul Borgo, wo wir einen Monat wohnen, beherbergt auch das Schweizer Cross-Country-Weltcupteam. Fünf Fahrer, zwei Mechaniker, zwei Servicewagen. Finale Ligure nennt sich heute «Capitale dell’Outdoor».
Von Hardcore bis familienfreundlich
Wir kommen aneinander vorbei. Selbst auf den vielen Wanderwegen im Finalese stören uns weniger die Biker als die Spuren, die sie hinterlassen. Stark ausgefahrene Pisten, beträchtliche Erosion. Wir wollen die Umweltbelastung durch die verschiedenen Sportarten nicht gegeneinander aufrechnen. Auch die Erschliessung der letzten noch unberührten Felsen für den Klettersport ist ein Eingriff in die Umwelt. Mittlerweile gibt es um 3000 Routen in 180 Sektoren – in den Boomzeiten im Frühling und Herbst ist es oft schwierig, einen Parkplatz für den gewünschten Sektor zu finden. Denn auch im Finalese ist, wie leider in vielen andern Gebieten, das Auto der wichtigste Teil der Ausrüstung.
Nicht alle der neu erschlossenen Sektoren sind wirklich lohnend, wie wir feststellen. Doch sind in neuerer Zeit auch «familienfreundliche» entstanden wie die «Falesia del Gorilla» im Valle Aquila oder die «Tre Porcellini» an der Rocca di Perti. Interessante Linien auch unter dem Grad 6a und enge Abstände der sicheren Klebehaken. Nicht nur die Kleinen, auch uns Oldies freut das. Die Zeiten, in denen Finale als Hardcoregebiet mit harten Bewertungen galt, sind damit auch vorbei. Wir weinen ihnen nicht nach – oder dann höchstens mit einem Auge.