Bätzings Alpen

«Aus der Region, für die Region», lautet ein Werbespot der Migros. Der Autor der vorgestellten Publikationen würde dem sicher zustimmen. Doch das ist nur ein Aspekt der Diskussion um die Zukunft der Alpen als Wirtschaftsraum. Was soll aus unserer Bergwelt werden? Fun- und Freizeitpark? Riesiger Wasserspeicher für Europa? Sich selbst überlassene Wildnis? Werner Bätzing zeigt Perspektiven auf.

Cover Streitschrift

ZEIT: In Ihrer eben erschienenen Streitschrift Zwischen Wildnis und Freizeitpark entwickeln Sie eine Vision, wie man in Zukunft in den Alpen wirtschaften könnte. Sie setzen dabei vor allem auf regionale Produkte. Reicht dieses Klein-Klein, um den Wohlstand in den Bergen zu erhalten?
Bätzing: Ich halte es überhaupt nicht für klein, wenn man voll auf regionale Produkte setzt. Das ist eine groβe Idee, die gleichwertig zum globalen Wirtschaften geht.
ZEIT: Aber die Bergler argumentieren: Ihr im Unterland habt uns nicht zu sagen, was wir zu tun zu haben. Wir haben Anrecht auf denselben Wohlstand wie ihr.
Bätzing: Das ist das, was ich in meiner Streitschrift als Nachholmoderne beschreibe. Die Bergler wollen das Gleiche wie die Flachländer. Das geht aber nicht – dabei verstädtern die Alpen bestenfalls, oder sie werden menschenleer.

Ausschnitt aus einem hochspannenden Gespräch über Dirndlabende und Spektakeltourismus, verhökerte Berge und gigantische Luxusprojekte zwischen dem Alpenforscher Werner Bätzing und der Schweiz-Redaktion in der aktuellen Ausgabe der deutschen Wochenzeitschrift „Die Zeit“. Ausgangspunkt ist das jüngste Werk von Bätzing, emerierter Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Es heisst „Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen“, ist 145 Seiten dünn, vom Gehalt her aber mindestens dreifach so dick, und kostet nur elf Schweizer Franken. Ich kenne keine andere Schrift über die Alpen, die finanziell und grammmässig so leicht und inhaltlich so gewichtig daherkommt. Darin skizziert der Autor, der Geschichte und Gegenwart im ganzen Alpenbogen so umfassend kennt wie sonst kaum jemand, mögliche und unmögliche Zukunft-Szenarien: Die Alpen als ein einziger Fun- und Freizeitpark? Als riesiger Wasserspeicher für Europa? Als fremdbestimmter Ergänzungsraum der Metropolen? Als sich selbst überlassener Wildnisraum?

Cover Die Alpen

Ausgehend von den in jeder Hinsicht verwildernden Alpen analysiert Bätzing fünf Zeitgeist-Perspektiven, deren Vor- und Nachteile er gegeneinanderstellt. Daran anknüpfend stellt er fünf unzeitgemässe Perspektiven vor, die alle die Alpen als dezentralen Lebens- und Wirtschaftsraum begreifen. Und da ergäben eben klug angebaute und vermarktete regionale Produkte deutlich bessere Aussichten als der geplante 380 Meter hohe Wolkenkratzer von Vals. Dazu nochmals Bätzing: „Das ist ein städtisches Angebot. Der Turm könnte überall stehen. Nicht umsonst fällt im Zusammenhang mit Vals das Stichwort Dubai. Langfristig muss der Alpenraum auf seine Besonderheiten setzen.“

Bätzing hat als einer der Erster alle Alpengemeinden zwischen Nizza und Wien untersucht und daraus bahnbrechende Erkenntnisse gezogen. Sein Hauptwerk „Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft“ hat sich seit 1984 zum Klassiker kritischer Alpenliteratur entwickelt und ist nun in einer grundlegend überarbeiteten Neuausgabe herausgekommen. So hat der Verfasser das Kapitel über die gegenwärtigen Entwicklungen stark verändert und dasjenige über die Zukunft der Alpen ganz neu geschrieben.

Wer Bätzing noch nie gelesen hat, wird zuerst zur Streitschrift greifen. Es liegt in der Natur einer solchen Publikation, dass sie kurz, prägnant und manchmal auch polemisch ist. Aber dann darf, ja sollte man ruhig erst- oder nochmals zu „Die Alpen“ greifen. Dieses Buch ist mindestens so spannend und lehrreich wie jenes Lehrgedicht Albrecht von Hallers, das 1732 publiziert worden ist. Der Titel ist der gleiche, der Umfang ähnlich: 49 zehnzeilige Strophen damals, 484 Seiten heute.

Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen. Rotpunktverlag, Zürich 2015. Fr. 11.-

Werner Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. 4., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. Verlag C.H. Beck, München 2015. Fr. 49.90.

„Ich will die Revolution!“ Ein Gespräch mit Werner Bätzing in „Die Zeit“ vom 29. April 2015.

6. Mai 1015, 19 Uhr, Alpines Museum der Schweiz in Bern: Buchvernissage „Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen“. Werner Bätzings Leitideen und Thesen werden mit Mario Broggi (Forstingenieur und Ökologe), Stefan Otz (Tourismusdirektor Interlaken) und Thomas Egger (Direktor der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete) diskutiert. Moderiert wird das Gespräch von Jürg Steiner (Redaktor der „Berner Zeitung“).

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