Skitouren Romandie, Aostatal und Alpen überhaupt

Vier neue Skitourenführer. Mal sehr steil, mal mehrtägig, mal vor allem italienisch, mal mehr französisch. Aber immer verlockend, wenn man einigermassen sicher auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten.

«Die Tourenauswahl in diesem Buch ist letztlich rein subjektiv und soll einen Querschnitt über die Alpen bieten. Die ‹schönste› Tour ist im Zweifelsfalle meist die gerade erlebte Tour – oder die nächste auf der Bucket-List!
Die Freude am Aufstieg an einem sonnigen Tag. Das mühelose Gleiten im glitzernden Pulverschnee. Die alpine Herausforderung und das Risikomanagement machen für uns das Erlebnis Skialpinismus aus. Wir wünschen allen Lesern unvergessliche Stunden in den schönsten Steilhängen der Alpen.»

Recht hat er, der Marius Schwager, im Vorwort seines jüngsten Buches. Die Einschätzungen gelten natürlich auch für Skitouren, auf denen alpine Herausforderungen und Risikomanagement keine grosse Rolle spielen. Auf den Abfahrten, die er im Bildbandführer «45° – Skialpinismus. Steilwandklassiker der Alpen» präsentiert, tun sie das hingegen schon. Für Eiger-Westflanke, Matterhorn-Ostwand oder Fletschhorn-Nordwand, um drei der vierzehn steilen Abfahrten in den Schweizer Alpen zu nennen, braucht es mehr als sonniges Wetter und pulvrigen Schnee. Wer die skitechnischen und alpinistischen Fähigkeiten mitbringt, um in 45 bis 50 Grad steilem Gelände sicher zu kurven, wird in Schwagers Buch ein paar ganz grosse und stotzige Ziele zwischen Dachstein und Monte Argentera finden. Nur schade, dass die Legenden zu den oft schwindelerregenden Fotos meistens fehlen, wie auch die Routenlinien in den gezeichneten Gipfelansichten. Die technischen Angaben zu Steilheit, Schwierigkeit, Exposition etc. finden sich; wenn bekannt, ebenfalls die Namen der Erstbefahrer. Ein Name taucht am häufigsten auf: Heini Holzer. Der Südtiroler, der über 100 Steilabfahrten als Erster machte, kam am 4. Juli 1977 bei der Abfahrt durch die Nordostwand des Piz Roseg ums Leben. Der ins Buch aufgenommene Canale Holzer am Sass Pordoi «ist das klassische skialpinistische Couloir schlechthin».

Wir ziehen unsere Spuren weiterhin in Italien, nun aber in seinen Westalpen, genauer im Valle d’Aosta, dem Tal mit den höchsten (und schönsten?) Bergen der Alpen. Mit steilen Hängen ebenfalls, aber diesmal sollen es vor allem Skitouren sein, bei denen ein Sturz drinliegen darf. In der Nordost- bzw. Südostwand der Grivola, je beschrieben in «45°», wäre ein solcher ja fatal. Deborah Bionaz und Ilaria Sonatore stellen in «Scialpinismo in Valle d’Aosta» 101 Skitouren in diesem grossartigen Tal ennet der Schweiz vor. Mehrere Skiziele liegen auf der gemeinsamen Grenze, wie Tête Blanche de By, Tête du Filon oder Trauma des Boucs (3263 m). Wohl noch nie gehört, nicht wahr? Liegen alle in den Walliser Alpen, wie die Punta Zumstein und die Punta Gnifetti, Nummer drei und vier der höchsten Gipfel der Schweiz; Tour 57 besucht gleich beide.

Die Walliser Alpen erheben sich bekanntlich südlich der Rhone. Die Gipfel nördlich von ihr gehören zu den Berner und Waadtländer Alpen. Stephanie Heiduk (Text) und Udo Laber (Fotos) haben in «Skitourenerlebnis Schweiz. 24 Mehrtagestouren und über 100 Gipfel» die Zweitagestour von Anzère über das Wildhorn in die Lenk auch zu den Walliser Alpen gezählt. Aber wir lassen uns durch diese falsche Einordnung nicht stören. Und geniessen vom Sex Rouge die Aussicht auf Walliser Alpen gegenüber. Das Autorenduo stellt je drei mehrtägige Skitourenfahrten in diesen Alpen und im Tessin, je vier in den Glarner Alpen und in der Zentralschweiz und je fünf in den Berner und Bündner Alpen vor. Die längste führt über 78 Kilometer aus dem Puschlav ins Oberengadin. Nur gerade ein Vorschlag ist blau eingestuft, drei Tourenrunden haben die Schwierigkeit rot, der Rest ist schwarz.

Schwarz ist definitiv ebenfalls Route 37 auf den Combin de Grafeneire (4313 m) im Führer «Les Alpes de la Romandie. 150 randonnées à ski magnifiques». Georges Sanga beschreibt mit allem Drum und Dran 19 Touren in den Freiburger, 31 in den Waadtländer und 7 in den Berner Alpen sowie 65 in den Bergen links der Rhone, also im Chablais, im Montblanc-Massiv und in den Walliser Alpen, immer mit Fotos, auf denen die Routen eingezeichnet sind. Dem oben erwähnten Sex Rouge oberhalb von Anzère gab Sanga das Prädikat «Super Choix». Worauf warten wir noch? En route, mes amis!

Marius Schwager: 45° Skialpinismus. Steilwandklassiker der Alpen. Die 45 schönsten steilen Abfahrten der Alpen. Verlag Mountain Moments, Reilingen 2024. € 39,00. www.mountainmoments.de

Deborah Bionaz, Ilaria Sonatore: Scialpinismo in Valle d’Aosta. 101 itinerari: dai super classici ai più ricercati. Versante Sud Edizioni, Milano 2024. € 37,00. Auch in einer englischen Übersetzung erhältlich: Ski Mountaineering in the Aosta Valley. 101 itineraries: from the super classics to the most sought after.

Stephanie Heiduk (Text), Udo Laber (Fotos und GPS-Tracks): Skitourenerlebnis Schweiz. 24 Mehrtagestouren und über 100 Gipfel. Bergverlag Rother, München 2025. Fr. 41.90.

Georges Sanga: Les Alpes de la Romandie. 150 randonnées à ski magnifiques. Weber Verlag, Thoune/Gwatt 2024. Fr. 59.-, SAC-Mitglieder 49.-

8000er und 4000er

Zwei Bildbände über das Besteigen einer genau bestimmten Anzahl Gipfel. Alle 14 Achttausender für die schweizerisch-französisch-kanadische Alpinistin Sophie Lavaud. Alle 82 Alpenviertausender für die berner-oberländischen Gleitschirm-Bergsteiger Chrigel Maurer und Peter von Känel.

«Die Wolkenbasis steigt, und wir können oberhalb der Täschhütte erstmals auf 4000 m aufdrehen. Wir gleiten am Feechopf vorbei und landen unterhalb des Rimpfischsattels auf 3650 m. Die Schirme deponieren wir auf dem Sattel und stehen wenig später auf dem Rimpfischhorn. Ein kurzer Flug bringt uns vom Schirmdepot an den Fuss des Strahlhorns, und kurz darauf stehen wir auch auf diesem Gipfel. Diebisch freuen wir uns über diesen Magic Move, sind wir doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ersten, die am gleich Tag das Finsteraarhorn, das Rimpfischhorn und das Strahlhorn besteigen – notabene mit Tourenskis und ohne motorisierte Unterstützung. Unterhalb des Strahlhorns machen wir uns flugbereit. Wir nutzen den NW-Wind, um mit den Skis an unseren Füssen zum Gipfel hochzukiten, und fliegen anschliessend bei schönem Abendlicht und einem breiten Grinsen im Gesicht zur Monte Rosa-Hütte, wo wir gerade noch rechtzeitig zum Abendessen landen.»

In «xPeaks. Neue Wege auf alte Berge» erzählt Peter von Känel aus Frutigen frisch und frech, wie er zusammen mit Chrigel Maurer aus Adelboden im Sommer 2024 in nur 51 Tagen alle 82 Viertausender ausschliesslich zu Fuss, mit Ski und per Schirm besucht und bestiegen hat. Die Seilschaft zwischen Bergsteigen und Gleitschirmfliegen ermöglichte verblüffende und ausgesprochen elegante Touren – wenn man so gut fliegen und klettern kann wie die beiden nicht mehr ganz jungen Berner Oberländer. Die Fotos, pendelnd zwischen erhaben und ergötzlich, bereichern das Buch. In seinem Anhang findet sich die Übersicht, wie Maurer und von Känel zwischen Piz Bernina und Barre des Écrins hin und her geflogen sind. Manchmal auch bei turbulentem Wetter.

«Dans le mauvais temps, nous atteignons les pentes sommitales, raides, engagées. Depuis plusieurs heures, nous évoluons sans cordes fixes.
Quelques dizaines de mètres sous le sommet, nous croisons Kristin. Elle me serre dans ses bras. L’émotion m’envahit. ‹You are so close from summit, your fourteen peaks! Congratulations, dear Sophie!› Moment de joie furtif, mais il faut poursuivre jusqu’en haut malgré le blizzard.
Nanga Parbat, 8126 mètres, 26 juin 2023. Quelques photos, un selfie, une accolade avec Sangay, un point GPS. Cinq minutes, dix minutes? Guère plus, nous sommes préoccupés par la descente.»

Auf vierzehn mit «Le carnet de Sophie» überschriebenen Seiten erzählt die bei Genf wohnende Alpinistin Sophie Lavaud besondere Momente ihrer Besteigungen der vierzehn Achttausender. Am 11. Mai 2012 stand sie auf ihrem ersten 8000er, dem Sishapangma, dummerweise nur auf dem Mittelgipfel (8013 m) und nicht auf dem Hauptgipfel (8027 m); letzteren bestieg sie am 26. April 2023. Zwei Monate später dann der Nanga Parbat. Damit wurde Sophie Lavaud «le premier Français (également première Suissesse et le premier Canadien) à fouler la cime des plus hautes sommets de la Terre». Das lesen wir auf der Rückseite des Buches «Les quatorze 8000 de Sophie Lavaud». Sie ist nämlich Schweizerin, Französin und Kanadierin. Der erste Schweizer auf allen 8000ern war Erhard Loretan; für Frankreich und Kanada ist Sophie Lavaud aber die erste Person, die dieses grosse Ziel geschafft hat. Der gemeinsam mit François Damilano geschaffene Bildband – der Bergführer und Filmer aus Chamonix begleitete sie auf drei Expeditionen – blickt zurück auf ihre Besteigungen, auf die alpinistische Geschichte dieser so sehr attraktiven Berge und stellt die Normalrouten vor.

Ein sehr hohes Ziel, die 14 Achttausender. Vielleicht doch eher die 82 Viertausender der Alpen. Wie wär‘s jedoch mit den 15 Vierzehntausendern Kaliforniens oder den 282 Dreitausendern von Schottland? Bei beiden geht es allerdings um Fuss und nicht um Meter: Sie müssen höher als 14‘000 ft (= 4267 m) bzw. 3000 ft (= 914 m) sein. So oder so viel Spass beim Gipfelsturm!

Peter von Känel: xPeaks. Neue Wege auf alte Berge. Edition Filidor, Reichenbach 2024. Fr. 48.-

François Damilano, Sophie Lavaud: Les quatorze 8000 de Sophie Lavaud. Éditions Glénat, Grenoble 2024. € 36,00.

Schneegeschichten

Bücher und Begegnungen mit dem flüchtigen Element Schnee. Sich warm anziehen, bitte!

«Ich erreiche die Alp von Rodomont Derrière. Aus einem breiten Schornstein steigt Qualm auf und sagt mir, dass die Käser an ihren Kesseln stehen. Kein Hund bellt. Richtung Gstaad erkenne ich das Weiß des Palace Hotels und die von Skiliften wie von Reißverschlüssen durchzogenen Wälder. Ich laufe wieder querfeldein. Den Kuhfladen ausweichend, steige ich dem Plateau des einstigen Adlerhorstes entgegen, jener Stelle, an der Springers Chalet gestanden hat.»

Ausschnitt aus «Ein Sonntag in den Bergen» des Genfer Schriftstellers Daniel de Roulet. In diesem 2006 erstmals auf Französisch und Deutsch veröffentlichten Bericht erzählt er, wie er am 5. Januar 1975 zornig und blind das Chalet von Axel Springer auf dem Gipfel von Rodomont Derrière (1857 m) oberhalb von Rougemont im Pays d’Enhaut abgefackelt hat. Jahre später, aber nun im Hochsommer, zog es de Roulet zurück an den Ort der Untat und findet ein paar kümmerliche Überreste, an denen eine Kupfertafel mit dem Bild des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von der Flüe und einem zweisprachigen, schwer verständlichen Zitat angebracht ist. Nun ist eine Neuauflage dieses Berichts erschienen, der nicht nur die Beweggründe für das Abfackeln nachvollziehbar macht, sondern der ebenfalls eine Ski(tour)geschichte ist. Im Nachwort zur Neuauflage schreibt de Roulet, wie unterschiedlich «Un dimanche à la montagne» in Frankreich und Deutschland bzw. in der Schweiz aufgenommen wurde. Seine Verleger mussten 2006 beteuern, «der Autor habe nicht vorgehabt, sich mittels dieses Buchs zu bereichern, vielmehr habe er sein Honorar den Feuerwehrleuten zukommen lassen, die durch seine damalige Brandstiftung mitten in den Nacht aufgescheucht worden seien.» Mehr noch: Mit seinem Geständnis habe er 2006 die Gemeinde Rougemont von einem Fluch erlöst. Mehr sei hier nicht verraten.

«Um den See herum war es zu flach, um zu fahren. Stille umgab Lena, während sie am Ufer entlangging, lediglich das Geräusch ihrer Stöcke, die sich rhythmisch in den Schnee gruben, war zu hören. Winterkind, das sie war, liebte sie normalerweise die Stille, die den Winter für sie so besonders machte. Nur der Schnee, der alles zudeckte und alle Geräusche dämpfte, vermochte diese Art von Ruhe hervorzubringen. Heute aber war sie zu unruhig, um ihre Wanderung durch die Winterlandschaft zu genießen. Vor ihrem geistigen Auge spulte sich bereits die Rettungsaktion ab.»

Lena Veith ist Leiterin der Bergwacht im fiktiven Ort Bichlbrunn unweit von Garmisch-Partenkirchen – und Hauptperson in der Trilogie «Die Bergwacht» von Sophie Zach; so das Pseudonym einer Autorin von Krimis, Liebes- und historischen Romanen. Die beiden ersten Bände habe ich vorgestellt: https://bergliteratur.ch/gipfelsturm-und-liebe/. Im dritten Band, «Schneetreiben», muss Lena mit ihren Leuten und alleine Folgendes retten: einen verunglückten Gleitschirmflieger, steckengebliebene Gondelbahnfahrer, im tief verschneiten und fast unzugänglichen Gelände sich verirrte Jugendliche, ein Mädchen und seinen Hund, die von einer grossen, wegen Abholzen des Schutzwaldes niedergegangenen Lawine verschüttet wurden, dazu ihre Tante Res, die ganz alleine oben auf einem Berg haust – und ihre Liebe zum Ranger Ben Fellner. Wenn das nur ein Happyend gibt!

Der Abend kommt von weit gegangen
durch den verschneiten, leisen Tann.
Dann preßt er seine Winterwangen
an alle Fenster lauschend an.

So beginnt ein winterliches Gedicht von Rainer Maria Rilke (1875–1926); 2025 und 2026 sind Rilke-Jahre. Das Gedicht fand ich neben ein paar anderen im Bildband «Winterreise. Deutschland in der kalten Jahreszeit». Nein, diese Publikation steht nicht für die politische Stimmung im Nachbarsland, die gar eiskalt werden könnte. Alexandra Schlüter nimmt uns mit auf eine sonnige und auch neblige, idyllische und positive Reise durch ein verschneites Deutschland – wie schön und geheimnisvoll, die Sächsische Schweiz, die Hallig Oland in der Nordsee, der Lusen (1373 m) im Bayerischen Wald oder die Lüneburger Heide, wo die Sachbuchautorin wohnt, in Weiss. Und wenn wir vielleicht grad keine Zeit finden, nach St. Märgen im Hochschwarzwald oder an den Schönberger Strand an der Ostsee zu reisen: lesen geht immer, beispielsweise das Gedicht «Wenn es Winter wird» von Christian Morgenstern.

Apropos lesen und reisen. Und gehen und fahren im Schnee. Vom 28. bis 31. Januar 2025 findet im Montafon ein Hemingway-Revival statt. Ernest Hemingway verbrachte mit Frau, Geliebten und Schriftstellerkollegen John Dos Passos zwei Winter (1924/25 und 1925/26) in Schruns; mehr dazu hier: www.montafon.at/hemingway. In «Paris, ein Fest fürs Leben» gedenkt der skifahrender Nobelpreisträger jener Zeit:

«Ich erinnere mich, wie der Schnee auf der Straße zum Dorf knirschte, wenn wir mit unseren Skiern und Skistöcken auf den Schultern in der Kälte nach Hause gingen, wie wir nach den Lichtern ausschauten und dann schließlich die Häuser sahen und wie jeder auf der Straße ‹Grüß Gott› sagte.»

Daniel de Roulet: Ein Sonntag in den Bergen. Ein Bericht. Neuauflage mit einem Nachwort des Autors. Limmat Verlag, Zürich 2025. Fr. 30.-

Sophie Zach: Die Bergwacht. Band 3: Schneetreiben. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2025. € 13,00.

Alexandra Schlüter: Winterreise. Deutschland in der kalten Jahreszeit. Prestel Verlag, München. € 36,00.

Grenzen

Drei Bücher, die sich mit ganz unterschiedlichen Grenzen befassen. Quer durch Köpfe, Körper und Kooperationen. Vom Fextal via Disentis, Gotthard und Kandersteg bis zur Eisernen Hand bei Basel.

Madrisa schütz mit Deinen Scharen
Dies Haus vor Unbill und Gefahren
Lenk weise der Lawinen Weg
Und schirm des Thales Flur und Steg

Rot bemalter Hausspruch im Ortsteil Klosters-Platz aus dem späten 19. Jahrhundert, abgebildet im Buch «Grenzgänge – Religion und die Alpen», und zwar im Kapitel «Die wilde Bergfee im Freizeitparadies. Inszenierungen von Madrisa im Wandel der Zeit», das Mitherausgeberin Anna-Katharina Höpflinger verfasst hat. Eines der 19 Kapitel in einem rundum faszinierenden und überzeugenden Buch, das viel weiter und tiefer geht, als der Untertitel vermuten lässt. Klar, da befassen sich die Autoren und Autorinnen mit Gipfelkreuzen, mit Glockengeläut gegen Unwettergefahren und mit drei sakralen Bauten in der Val Lavizzara, mit der Geopolitik der Religion im Alpenraum im 16. bis 19. Jahrhundert, ja mit der buddhistischen Gemeinschaft im italienischen Bergdorf Bordo. Aber auch die Religion des Tunnels wird ausgeleuchtet, die Alpenromane von Charles-Ferdinand Ramuz wie «Derborence» und das epochale Epos «Die Alpen» von Albrecht von Haller werden neu beleuchtet, die Belle Epoque Woche in Kandersteg und die Passionsspiele im Oberammergau stehen im Scheinwerferlicht.

Das Buch «Grenzgänge – Religion und die Alpen», Resultat eines inter- und transdisziplinären Forschungsprojekt, besticht durch ein frisches Wechselspiel zwischen dichten Texten, den starken Fotos von Marco Volken und – dank QR-Codes zugänglichen – Musikkompositionen von Darija Andovska und Matthias Arter, gespielt vom Ensemble pre-art soloists. Kurz: Da werden die unterschiedlichsten Grenzen gezogen und überschritten, nachvollziehbar nicht zuletzt dank der aufklappbaren Übersicht, darin die Verbindungen zwischen den Themen und zwischen Grenoble und Salzburg sichtbar werden.

Das Thema Grenze an einem genau bestimmten Gebiet und von ganz spezieller Art im 550seitigen Buch «Grenz-Erfahrungen. Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948». Die Staatsgrenze Schweiz-Italien war das Terrain, das es damals zu kontrollieren, zu verteidigen, zu überwinden galt, oft unter Todesgefahr, aus verschiedenen Lebensnotwendigkeiten. Wir hoffen und leiden mit den Grenzwächtern, Schmugglern und Flüchtenden, mit der lokalen Grenzbevölkerung ebenfalls. Mit Zeitzeugenberichten, bisher unbekannten Grenzwachtdokumenten und vielen Fotos sowie Kartenausschnitten veranschaulichen die Kultur- und Literaturwissenschaftler Mirella Carbone und Joachim Jung eindrücklich die Ambivalenzen, die Grenzen innenwohnen. Ein wichtiges Buch aus den Bergen.

Die Grenze an Ort und Stelle markieren und festlegen: Dafür sorgen Grenzsteine seit jeher. Sie bestimmen aber nicht nur den Verlauf, sondern erzählen auch Geschichte(n) mit den Wappen, den Jahreszahlen, ja den Nummern. Der Ingenieur und Historiker Olivier Cavaleri kennt sich mit den Grenzmarkierungen zwischen der Schweiz und ihren Nachbarsländern bestens aus. Auf bergliteratur.ch wurden seine Publikationen immer wieder vorgestellt, zuletzt «Histoire de bornes. La frontière entre le canton du Jura et la France. Balades – découvertes – histoire». Nun ist der Band zu einer eher kurzen Grenze erschienen, nämlich zu derjenigen zwischen Basel-Stadt und Deutschland. «Grenzsteine. Die Grenze zwischen Basel und Deutschland. Wanderungen – Geschichte» stellt mit viel Hintergrund fünf Wanderrouten zwischen Kleinhünigen und Grenzach vor. Besonders interessant ist dabei die Eiserne Hand, ein 1,7 Kilometer langes und maximal 300 Meter breites Landstück der Schweiz, das seit fast 500 Jahren nach Deutschland hineinreicht. Die Grüne Grenze an der Eisernen Hand war in der Vergangenheit Schauplatz vieler Flüchtlings- und Schmuggelvorkommnisse, wie auch während der Corona-Pandemie. Kurz vor der mit mehreren Grenzsteinen markierten Spitze der Eisernen Hand entdeckt man an einer Buche ein halb im Stamm verschlungenes Schild:

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Anna-Katharina Höpflinger, Daria Pezzoli-Olgiati, Boris Previšić, Marco Volken (Hg.): Grenzgänge – Religion und die Alpen. Theologischer Verlag Zürich, 2024. Fr. 28.80. www.kulturen-der-alpen.ch

Am Donnerstag, 23. Januar 2025, präsentiert das Urner Institut Kulturen der Alpen um 19 Uhr im Zeughaus Altdorf seine Publikation «Grenzgänge. Religion und die Alpen». https://www.kulturen-der-alpen.ch/fileadmin/Bilder/News/Grenzgaenge._Religion_und_die_Alpen/_KDA_Buchpraesentation_Grenzgaenge_2025.pdf

Mirella Carbone, Joachim Jung: Grenz-Erfahrungen. Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930-1948. Institut für Kulturforschung Graubünden, Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2024. Fr. 49.-

Olivier Cavaleri: Grenzsteine. Die Grenze zwischen Basel und Deutschland. Wanderungen – Geschichte. BoD, Norderstedt 2024. € 36,00. info@grenzsteine.ch

L’alpinisme au féminin

Frauenalpinismus: ein Buch, ein Film und eine Ausstellung.

«En 1992, à 49 ans, Wanda Rutkiewicz est au pied du Kangchenjunga, son neuvième 8000, avec le Mexicain Carlos Carsolio. Les deux alpinistes partent à 3 h 30 du matin. Carlos Carsolio se hisse à la cime après douze heures de combat dans une neige profonde. En descendant, il retrouve Wanda, qui s’abrite dans une grotte, à environ 8200 mètres d’altitude, et discute avec elle sur son intention de bivouaquer et de tenter le sommet le lendemain. Il racontera plus tard: ‹Je ne pouvais pas lui dire de ne pas y aller. Je lui ai suggéré Wanda, il fait trop froid, l’ascension est encore longue, le mauvais temps arrive, sans pour autant lui déclarer Wanda, arrête, descends avec moi. Je n’ai pas eu le courage de mettre fin à son rêve. Elle risquait sa vie, c’était sa décision.› Elle ne reviendra jamais au camp de base.»

Das ist DIE Frage. Blieb die polnische Topalpinistin Wanda Rutkiewicz am 12. Mai 1992 irgendwo an ihrem neunten Achttausender oben, nachdem Carlos Carsolio alleine seinen Abstieg vom Kangchendzönga (8586 m), dem dritthöchsten Berg der Welt, fortsetzte und zuerst in einem Höhenlager auf sie wartete, später dann im Basislager? Oder gelang ihr irgendwie und unerkannt auch der Abstieg aus der tödlichen Höhe? In einem Tamedia-Interview von letzter Woche sagt die polnische Regisseurin Eliza Kubarska der eben angelaufenen, schweizerisch-polnischen Co-Produktion «The Last Expedition» zur immer wieder geäusserten Vermutung, dass sich Wanda Rutkiewicz in einem buddhistischen Frauenkloster verstecke: «Wandas Mutter glaubte bis zum Tod daran, dass ihre Tochter lebt. Und es gab immer mehr Hinweise. Zum Beispiel sahen zwei Touristen in einem buddhistischen Kloster eine Frau, die wie Wanda aussah. Und als sie nach ihr fragten, wurden sie von der Lama gebeten, das Kloster zu verlassen.»

Das Schicksal der ehemals besten und bekanntesten Höhenalpinistin beschäftigt bis heute. In ihrem druckfrischen Buch «Une histoire de l’alpinisme au féminin» widmen Stéphanie & Blaise Agresti dem «spoutnik nommé Wanda» eine Doppelseite. Die Publikation ist der vierzehnte, wie immer fein illustrierte Band in der Glénat-Reihe «Une histoire de…»; bergliteratur.ch hat ein paar vorgestellt, zuletzt den Band zu den Berghütten. Natürlich erschien auch schon «Une histoire de l’alpinisme», darin die Frauen ihren Platz am Seitenrand und auf gerade mal acht Fotos gefunden haben. Doch nun stehen sie im Zentrum. Die Mutter von Blaise, Isabelle Agresti, war in den 1960er Jahren eine der wenigen Frauen, die auf über 7000 Metern gestanden hatten. Mit ihrem Mann Henri unternahm sie Expeditionen auf der ganzen Welt, und in den Alpen kletterte die Seilschaft Isabelle & Henri schwierigste Routen wie Frêney-Pfeiler am Montblanc oder Directe Americaine an den Drus. Auf dem Cover des Buches ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter ist Isabelle unterwegs am Kohe Setara (6050 m) in Afghanistan. Une affaire de famille der schönen Art.

Gibt es überhaupt einen weiblichen Alpinismus? Um das herauszufinden, klettern Stéphanie & Blaise Agresti zurück in die Geschichte des Alpinismus, zu den Pionierinnen, die sich nicht scheuten, in diesem männerdominierten Sport mitzumachen, und das unter unter grossen Schwierigkeiten. Eine der Frauen, die sogar vorangingen, war Elizabeth Main, auch bekannt als Mrs. Fred Burnaby, Mrs. John F. Main und Mrs. Aubrey Le Blond. Denn Elizabeth, geborene Hawkins-Whitshed, war dreimal verheiratet. Die verschiedenen Namen sind mit ein Grund, warum ihre Vorreiterrolle am Berg und als Autorin nicht immer wirklich gross gewürdigt wird, auch im Agresti-Buch nicht. Denn wenn Alpinistinnen schon rar waren, wie sind es denn erst recht Frauen, die über das Bergsteigen geschrieben haben. Die Zeiten haben sich geändert, und Stéphanie & Blaise Agresti zeigen im letzten Kapitel «Et demain: liberté, egalité, sororité?», wohin schwesterliche Bergtouren gehen. Da sind zum Beispiel die Cholitas Escaladores in Bolivien, eine 2015 in Bolivien gegründete Gruppe von einheimischen Frauen, die in traditioneller Kleidung die hohen Berge dort besteigen. Da ist die Iranerin Nasim Eshqi, die sich für die Frauen und für Freiheit in ihrem Land einsetzt. Da ist die französische Topalpinistin Lise Billon, die als erst zweite Frau einen Piolet d’Or (höchste Auszeichnung für Bergsteigende) erhalten hat: «J’ai envie d’être vue comme une alpiniste, pas comme une femme alpiniste. Tant qu’on me pose la question, c’est que je continue d’être vue comme une femme alpiniste.»

Frauenalpinismus: ein Buch, ein Film. Und eine Ausstellung: «Starke Frauen am Seil. Die Geschichte des Rendez-vous Hautes Montagnes» im Tal Museum Engelberg. Natürlich in Engelberg: Denn das erste Treffen von Alpinistinnen aus West und Ost wurde auf Initiative der in Engelberg wohnhaften Baronin Felicitas von Reznicek organisiert und am 16. Mai 1968 mit einer Flasche Champagner auf dem Gipfel des Titlis begossen. 70 Frauen nahmen an diesem ersten Rendez-vous Hautes Montagnes teil. Die Mitgliedschaft im RGM steht allen Frauen verschiedener Nationalitäten offen, die den Schwierigkeitsgrad V als Seilerste beherrschen und ihre Touren selbständig durchführen können. Auch heute noch treffen sich jedes Jahr Alpinistinnen aus aller Welt, um gemeinsam Berge zu erklettern. Die Ausstellung in Engelberg erzählt die Geschichte der Vereinigung, deren Gründerin und lässt Frauen und Männer zu Wort kommen. Mit dabei bei der Gründung war auch Loulou Boulaz gewesen, die erste Frau in den Nordwänden von Eiger und Grandes Jorasses. Vier Seiten widmen Stéphanie & Blaise Agresti der Genferin, die «parmi cette petite élite des très grands alpinistes du XXe siècle» gehört.

Stéphanie & Blaise Agresti: Une histoire de l’alpinisme au féminin. Éditions Glénat, Grenoble 2024. € 25,95.

The Last Expedition. The Mystery of Wanda Rutkiewicz. A film by Eliza Kubarska. Läuft in verschiedenen Kinos in der Schweiz. Zum Beispiel im Kino Rex in Bern, www.rexbern.ch/filme/the-last-expedition.

Starke Frauen am Seil. Die Geschichte des Rendez-vous Hautes Montagnes. Ausstellung im Tal Museum Engelberg. Bis 21. April 2025. Öffnungszeiten Mittwoch bis Sonntag, 14-17 Uhr. Erzählcafé am Sonntag, 9. Februar 2025, 14-16 Uhr. Workshop: Was braucht Frau am Berg? am 23. März 2025, 14-15.30 Uhr. www.talmuseum.ch; www.rhm-climbing.net

Schweizer Bergbau

Zwei neue, reicht bebilderte Bände vertiefen sich im helvetischen Untergrund.

«Während der Zeit, in welcher ich bei der Schweizerischen Geotechnischen Kommission SGTK für die historischen Rohstoffe der Schweiz zuständig war, befuhr ich zahlreiche Bergwerke und hatte dabei noch das Glück, Menschen kennenzulernen, die früher selber in diesen Bergwerken gearbeitet hatten. Ich erfuhr von den Schicksalen dieser Bergleute, erlebte, in welch unwegsamem Gelände sich die Bergwerke befanden und welche Strapazen die Menschen auf sich nahmen, um an die damals noch begehrten, oder einfach nur benötigen Rohstoffe zu gelangen.»

Mit diesem Absatz leitet Roger Widmer seinen prächtigen Bildband zur Geschichte und Aktualität des Bergbaus hierzulande ein. In «Bergwerke. Schweizer Bergbau. Die Geschichte von Glücksrittern» begegnet man der steinreichen Schweiz einmal ganz anders: Asphalt, Kupfer, Gold, Eisen, Kohle, Schiefer, Gips, Salz, Blei, Erdöl, Ölschiefer, Kobalt und Quarzsand. All das wurde hierzulande abgebaut. Manchmal mit Erfolg: Mit dem Asphalt aus dem Val de Travers wurden die Champs-Élysées überzogen, der Quarzsand aus Buchs fand für die bekannten grünen Bülacher Einmachgläser Verwendung. Andere Minen lohnten kaum den Aufwand der Bohr- und Locharbeiten. In letzter Zeit interessieren sich die Menschen immer mehr für den Bergbau in der Schweiz. Es entstehen Bergmannsvereine, und verfallene Stollen werden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Höchste Zeit für ein entsprechendes Buch. Nach einer Einleitung zu Rohstoffen, Lagerstätten und Abbautechnik stellt Roger Widmer 22 Bergwerke aus dem ganzen Land näher vor, mit historischen Fotos und Plänen, eigenen Farbfotos von heute sowie mit Infos, wie und wann die Bergwerke besucht werden können (oder auch nicht). All das weckt Lust und Neugierde, die unterirdische Schweiz noch näher kennenzulernen; sicherer ist‘s jedoch, sich nicht auf eigene Faust in die Stollen vorzuwagen.

Das gilt auch für die Bergbaustätten im Kanton Neuenburg, die Maurice Grünig im Bildband  «L’extraction minière en terre neuchâteloise. Une histoire méconnue» vorstellt. An der Oberfläche wurden die Zeichen dieser industriellen Vergangenheit durch nachwachsenden Wald vielerorts ausgelöscht. Von den zahlreichen und imposanten Gebäuden sind oft nur noch einige moosbewachsene Ruinen übrig geblieben; im Untergrund sind die verlassenen Stollen teils durch Einstürze verfallen. Aber sie sind noch sichtbar und werden nun auf Papier zu neuem Leben erweckt. Der erste Teil des reich illustrierten Werkes befasst sich mit der Geologie und der Entstehung des Jura, der die für die Zement- oder Asphaltproduktion günstigen Gesteine nahe an die Oberfläche brachte, sodass sie Millionen von Jahren später abgebaut werden konnten. Weiter geht es mit den ehemals in der Schweiz abgebauten Rohstoffen, dann mit der Neuenburger Bergbaugeschichte im 18. Jahrhundert aus wirtschaftlicher und politischer Sicht. Der zweite Teil beschreibt die Neuenburger Bergbaustätten nach den abgebauten Gesteinen und ihrer Verwertung. Am bekanntesten ist die Asphaltmine La Presta im Val de Travers, seit 1987 ein Besucherbergwerk. Im gleichen Tal, am oberen Eingang in die Areuse-Schlucht, versteckt sich die Kalkmine Furcil mit einer Stollenanlage von rund 11 km Länge auf drei Sohlen; die überirdischen Gebäude stehen noch, die Stollen sind teilweise eingestürzt, und gleich oberhalb der 1935 eingestellten Mine verläuft die Via ferrata du Tichodrome. Ebenfalls im Val de Travers befinden sich die Kalkbergwerke von St-Sulpice. Dort transportierte anfangs des 20. Jahrhunderts eine Seilbahn das aus dem Berg geholte Material direkt zur Verarbeitung in der Zementfabrik im Tal – eine der ersten Luftseilbahnen im sowohl stein- wie seilbahnreichen Land.

Roger Widmer: Bergwerke. Schweizer Bergbau. Die Geschichte von Glücksrittern. AS Verlag, Zürich 2024. Fr. 49.80. Die französische Ausgabe, ebenfalls im AS Verlag: Mines. L’industrie minière en Suisse. Une histoire d’aventuriers.

Maurice Grünig: L’extraction minière en terre neuchâteloise. Une histoire méconnue. Cahiers de l’Institut neuchâtelois, nouvelle serie, cahier 39. Éditions Livreo-Alphil, Neuchâtel 2024. Fr. 65.-

Drei Hinweise für interessierte Bergbau-Leute.
Erstens die Schweizerische Gesellschaft für Historische Bergbauforschung (SGHB) und ihre Zeitschrift «Minaria Helvetica»: www.sghb.ch.
Zweitens das im Entstehen begriffene Bergbaumuseum von Werner Bellwald und der Stiftung Untergrund Schweiz in Ried bei Blatten im Lötschental: https://kulturexpo.ch/untergrund/
Drittens die Bergwerks-Liste zur Schweiz:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Bergwerken_in_der_Schweiz

AAJ 2024 – BERG 2025

Das Jahrbuch der Alpenvereine von Deutschland, Österreich und Südtirol bietet alle Jahre wieder gebirgige Lektüre vom Feinsten.  Das Journal des American Alpine Club natürlich ebenfalls; diesmal mit acht Seiten Eigernordwand.

«With our Renaissance route on the Eiger, we want to inspire a rethink and show that here are highquality adventures on our doorstep.»

Schreibt der in Thun lebende Bergführer Silvan Schüpbach in seinem Beitrag «Renaissance. A new route up the Eiger nordwand in pure traditional style» in der aktuellen Ausgabe des «American Alpine Journal». Zusammen mit Peter von Känel eröffnete Schüpbach vom 19. bis 24. August 2023 die neue Linie durch die vielleicht berühmteste Wand der Welt, 1220 Meter hoch, 30 Seillängen, Schwierigkeit bis 7c. Dabei folgten sie ihrem Ideal, keine Bohrhaken zu verwenden. Acht Schlaghaken mussten sie zurücklassen. Der Eiger-Artikel ist der einzige aus den Alpen im AAJ 2024. Das Jahrbuch des American Alpine Club zeichnet sich ja gerade vor allem dadurch aus, dass es neue lange Routen an Gipfeln und Wänden aller Art rund um den Erdball vorstellt. Nicht von ungefähr lautet der Untertitel «The World’s Most Significant Climbs».

Von den Bergen der USA, von Kanada und Mexico in die Anden, via Himalaya und andere Gebirge nach Grönland, Norwegen und Griechenland, dort mit der ersten Durchsteigung der Südostwand des Mt. Kalamos (460 m) auf der Insel Anafi – sieht vielversprechend aus, dieser höchste Monolith in der Ägäis. Wie so viele andere Gipfel in dieser Publikation. Wer ferne Ziele und Herausforderungen sucht, ist hier am richtigen Ort; gilt ebenfalls für Skialpinisten. Wie wär’s mit «Grand descents» an den Tetons in den Rocky Mountains, mit steilen Abfahrten in der Cordillera Quimsa Cruz in Bolivien oder rund um den Dzhirnagaktu Glacier in Kirgistan? Auch in Neuseeland warten weisse Hänge, erst recht in der Antarktis. Dort könnte man jetzt grad rund um die Uhr skifahren und bergsteigen. Einer der vorgestellten Gipfel auf Queen Maud Land ist der Ritschergipfel (2791 m), zu Ehren von Alfred Ritscher, dem Leiter der Deutschen Antarktischen Expedition 1938/39. Eines der damals 87 benannten geografischen und 1952 bzw. 1966 bestätigten geografischen Objekte ist der Mentzelberg, nach Rudolf Mentzel, einflussreicher Wissenschaftspolitiker des Dritten Reiches, Mitglied der NSDAP und SS. Die antarktische Kälte kann auch politisch sein.

Zurück in die Alpen. Das Jahrbuch der Alpenvereine von Deutschland, Österreichisch und Südtirol ist die auflagenstärkte Publikation im deutschsprachigen Bergbuchbereich. Im Zentrum von «BERG 2025» stehen der Dachstein und das Fotografieren. Obwohl er die 3000-Meter-Grenze um ganze fünf Meter verfehlt, mindert das seinen Mythos in keiner Weise: Der Dachstein ist zwar nicht höher, aber grösser als viele anderen Berge Österreichs. Er ist Tourismusmagnet, Wanderparadies und Kletter(steig)dorado, dazu unerschöpfliches Forschungsobjekt und eine nie versiegende Quelle künstlerischer Inspiration.

Die Rubrik BergFokus zeigt ihrerseits: Fotografieren im Gebirge kann Dokumentation oder ambitioniertes Hobby sein, touristische Dienstleistung, Kunst – oder auch die Leistung vorgeblich intelligenter Algorithmen. Mit dabei Robert Bösch und sein fotografisches Lebenswerk; Statements herausragender Bergfotografen zur Fotografie; Kletterfotos, die Geschichte machten; ein Nachdenken über Ideale der Landschaftsfotografie.

Lesenswert im neuen «BERG» die Porträts des Tiroler Bergführers Kuno Rainer, des unverstandenen Bergmalers Carl Brizzi, der österreichischen 8000er-Pionierin Gerlinde Kaltenbrunner und der jüdischen Kletterin Ilse Frischmann, die als junge Frau schwierigste Routen in der Sächsischen Schweiz bewältigte und die tödlichen Schikanen des NS-Staates überlebte. Dazu passt der Beitrag zu Liedern und Liederbüchern der Bergsteiger von der Jugendbewegung bis hinein ins Dritte Reich. Auch in den Alpen kann es leider sehr kalt sein.

Axel Klemmer (Hrsg.): BERG 2025. Alpenvereinsjahrbuch 149. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2024. € 25,00.

The American Alpine Journal 2024. The World’s Most Significant Climbs. AAC, Golden, Colorado 2024. $ 45.00. Erhältlich bei Piz Buch & Berg, www.pizbube.ch.

Heilige Berge

Zum Heiligen Abend zwei Publikationen zu solchen Bergen.

«Es gibt etliche Berge in Europa, die als ‹heilig› bezeichnet wurden bzw. werden. Konjunktur hatte die Heiligsprechung von Bergen vor allem im Zeitalter des Nationalismus, weil damit auch immer nationalpolitische Markierungen verbunden waren. Ob man die Berge auch im religiösen Sinn als ‹heilig› bezeichnen kann, ist allerdings eine andere Frage.»

So beginnt Jon Mathieu seinen grundsätzlichen Artikel «Gibt es heilige Berge in Europa? Eine einführende Spurensuche» im Maiheft der Monatszeitschrift «Religion & Gesellschaft in Ost und West», das sich Heiligen Bergen in Europa widmet. Mathieu, emeritierter Titularprofessor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit an der Universität Luzern und bekannt als Gebirgsforscher und Historiker der Alpen, kennt sich bestens aus mit diesen besonderen Bergen; über sie schrieb er das Buch «Mount Sacred» (https://bergliteratur.ch/heilige-und-geheimnisvolle-berge/). In seinem Heftbeitrag geht er eingehend ein auf den Monveso di Forzo (3322 m) im Gran Paradiso Nationalpark, den elf Männer und eine Frau am 9. September 2021 heilig sprechen wollten, und zwar in Anlehnung an den Machapuchare in Nepal, den Kailash in Tibet und den Uluru in Australien. Die Heiligsprechung sollte die Leute anhalten, freiwillig auf die Besteigung des Monveso di Forza zu verzichten und darüber zu reflektieren. Bis jetzt kam es noch nicht soweit. Fazit von Mathieu: «Selbst wenn die ‹Laienheiligkeit› des Monveso di Forza einen offiziellen Charakter erhält, bleibt weiterhin die Frage offen, durch welches spirituelle Angebot sie gefüllt wird.»

Die anderen Beiträge im zurückhaltend illustrierten Heft befassen sich mit heiliger Infrastruktur im Gotthard-Raum, ausgehend von zwei vergessenen Schweizer Literaten; mit dem Triglav (2864 m), der weit mehr als Sloweniens höchster Gipfel ist; mit dem Lovćen ob der Bucht von Kotor und seinem Ostgipfel Jezerski (1657 m), in dessen Gipfelbauten sich die Konflikte um die montenegrinische Identität spiegeln; mit dem Heiligengrab auf dem Tomorr (2415 m) in Albanien, das seit Jahrhunderten von Pilgern besucht wird; mit dem Athos (2033 m) in der gleichnamigen autonomen Mönchsrepublik in Griechenland, dem heiligen Berg der Orthodoxie; und zuletzt noch mit zwei Fünftausendern am Rand von Europa, dem Ararat und dem Elbrus. Immer sehr fundierte Beiträge auf nur 32 Seiten. Und dabei auch einen feinen Kontrast zu Weihnachten setzend: weniger ist mehr.

Eher grad umgekehrt der Bildband «Europas Heilige Berge. Sehnsuchtsorte voller Stille und Faszination» von Bernd Ritschel (Foto und Text), Nina Ruhland (Text). Allein beim Untertitel tauchen Fragen: Der Triglav, der mit «endlosen Staus» aufwartet, als stiller Berg? Auch von Gipfelstürmern überrannt wird der Pilatus (2119 m) und der Sveti Jure (1762 m) in Kroatien, allerdings mehr von Bahn- bzw. Auto- und Radfahrern. Vesuv und Ätna sind auch ohne Touristen nicht wirklich stille Berge. Ob sie auch heilig sind, kommt immer auf die Definition an. 22 europäische, als heilig bezeichnete Berge stellt das Buch mit vielen, oft doppelseitigen Fotos und kurzen Texten vor: Vom Watzmann und Gamskogel in den Ostalpen über Olymp, Tomorr und Monviso (auf dem Cover und auf der Rückseite!) bis zum Donon in den Vogesen und Dovrefiell in Norwegen. Warum der Eiger auch dabei ist, bleibt nebelhaft; er ist doch viel eher ein unheiliger Berg.

Gestern aber besuchte ich wenigstens dem Namen nach eine ganz heilige Anhöhe: den Allerheiligenberg im Solothurner Jura, die ehemalige solothurnische Höhenklinik auf rund 880 Meter am Sonnenhang einer Jurafalte. Sonne gab es keine, eine heisse Ovo ebenfalls nicht in der geschlossenen Bergwirtschaft, dafür frischen Nassschnee und zuletzt noch Regen. Am Ende der Tour erwärmte ich mich in der Kapelle des heiligen Laurentius in Rickenbach.

In diesem Sinne: fröhlich Heiligen Abend!

Heilige Berge. Zeitschrift Religion & Gesellschaft in Ost und West, Nr. 5/2024. Herausgegeben von Forum RGOW, Zürich. Fr. 15.- sekretariat@rgow.eu

Bernd Ritschel (Foto und Text), Nina Ruhland (Text): Europas Heilige Berge. Sehnsuchtsorte voller Stille und Faszination. Knesebeck Verlag, München 2024. Fr. 46.80

Adventszeit mit Matterhorn

Sieben Kriminalromane und eine Krimigeschichte feiern das Matterhorn, einmal auch von Süden. Fiebern und frieren Sie mit!

Stille Nacht, mörderische Nacht. Ein Weihnachtskrimi

Sehnsüchtig sah Clothilde zum Matterhorn, dessen Gipfel von dichten Wolken umhüllt war. Noch bis vor zwanzig Jahren war sie mit Maxim an den Hängen der Furggen Ski gefahren, und er hatte ihr von der eindrücklichen Pendelbahn Plan Maison erzählt, die im März 1993 aufgrund eines nächtlichen Eissturms den Betrieb unerwartet hatte einstellen müssen. Ach, wie schön waren doch die Tage mit Maxim gewesen.

Maxim ist tot. Und Clothilde auch. Am Heiligabend jedenfalls. Am 24. Dezember wird Clothilde Anthamatten von Winterstern (82) blutüberströmt und tot im Schnee vor ihrer herrschaftlichen Villa auf der Riffelalp oberhalb von Zermatt aufgefunden. Die Verdächtigen: ihre gesamte Verwandtschaft, die im Laufe der Adventszeit angereist ist. Welcher der 24 Gäste wollte die reiche Witwe aus dem Weg räumen? Während das abgelegene Anwesen mit Blick auf das Matterhorn langsam im Schnee versinkt, begibt sich Anna, die liebste Enkelin der Verstorbenen, auf Mörderjagd in der eigenen Familie. Am Heiligabend selbst und zugleich rückwärts in der Adventszeit, vom 23. bis zum 1. Dezember. Clothilde erinnert sich am 18. Dezember an die Skitage mit Maxim rund um die Cima di Furggen. Geschickt inszeniert Silvia Götschi in «Stille Nacht, mörderische Nacht. Ein Weihnachtskrimi» das kriminalistische Rätsel um einen verschlossenen Raum in der weissen Scheinidylle auf der Riffelalp.

Schneegestöber am Matterhorn

Irgendwann stand das Fahrzeug gänzlich schräg, so steil ging es aufwärts. Kant musste sich festhalten und kam dennoch nicht umhin, das Alpenpanorama zu bewundern. Der Schnee ließ Berg und Tal taghell erscheinen. Und das Matterhorn glänzte im Mondlicht. Es war unwirklich schön, wie ein Gemälde, das sich Kant nie aufhängen würde.

Etwas schräg ist ebenfalls die weihnachtliche Krimigeschichte «Schneegestöber am Matterhorn» von Alexander Oetker im Band «Mehr Mord im Chalet». Gustav Kant, Privatdetektiv aus Berlin, gewinnt eine Reise nach Zermatt zur Weihnachtszeit und hilft dann den Pfarrer suchen, der ausgerechnet zur Mitternachtsmesse in der Zermatter Kirche nicht auftaucht. Mit Kants Antrieb wird herausgefunden, dass sich der Geistliche wohl auf der Riffelalp versteckt, worauf ihn die Suchmannschaft mit einem Pistenfahrzeug holen geht. Zu Silvester ist Kant aber zurück in seiner Stammkneipe im leicht verschneiten Berlin. Das Matterhorn seinerseits kommt als weisses Pulver in Marcel Huwylers Geschichte «Ihr Kinderlein kokset» vor, während Beat Grossrieders «Chlausbesuch am Züriberg» mit einem ganz andern Stoff für Zoff in der Familie sorgt.

Mord im Grand Hotel Matterhorn

Das Foto reihte Mette neben die anderen auf dem Tisch. Von außen würde es aussehen wie zwei Damen, die sich eine Bildergeschichte anschauten.
«Das ist der alte Sessellift, sehen Sie? Er fährt hinauf zum Hungerberg. Und von da kann man zu einer Felsspalte hochsteigen, wo man bis zum Matterhorn sehen kann. Zweimal im Jahr, sagen die Hiesigen. Ich halte es für eine Touristenmär, aber meine Mutter hat es geglaubt.»

Mit dem Matterhorn lässt sich alles besser verkaufen, das wissen wir. Mit dem berühmten Namen warb auch ein Hotel in Oberwald im Goms. Dort stranden nicht nur die rüstige Rentnerin Libby Andersch und ihr elfjähriger Nachbarsjunge Noah, die mit dem Glacier Express nach Zermatt reisen wollen, bis ein Schneesturm die Weiterfahrt verhindert. Mit ihnen gestrandet ist eine Filmcrew, die kurzerhand umdisponiert und statt in einem exquisiten Belle-Époque-Haus im verlassenen Hotel dreht. Bis die Hauptdarstellerin Gwendolin mit gebrochenem Genick im Foyer liegt. «Mord im Grand Hotel Matterhorn» von Gabriela Kasperski ist ein zweites «locked room mystery», angereichert um Geschichten vom stillgelegten Skigebiet Hungerberg. Allerdings wurde ich nicht richtig satt mit diesem Matterhorn-Krimi.

Murder at the Matterhorn

«The one to the right is the Monte Rosa. You can ski up there on the glacier all year round. The rocky one to the left is what the Italians call the Cervino. You and I probably know it better by its Swiss German name, the Matterhorn.» Seeing comprehension spread across my face, Julian continued. «We normally see pictures of it from the Swiss side in Zermatt. It’s the reason we’re here.»
«You’re here for a mountain?»
«We believe that the Matterhorn is used by extra-terrestrial visitors either as a navigation point or maybe it has some other, more important significance.»

Sicher hat das Matterhorn noch eine andere, wichtigere Bedeutung denn als Orientierungspunkt für ausserirdische Besucher. Aber darum geht es nicht im Gespräch zwischen dem einhemischen Julian und dem englischen Privatdetektiv in «Murder at the Matterhorn. An Armstrong and Oscar Cozy Mystery» von T.A. Williams. Im fünften Band der Serie schickt der Autor seinen Helden mit Hund Oscar aus der Toskana, wo sie normalerweise Verbrechen aufdecken, ins Valtournenche. Ort des Geschehens ist ein hochgelegener Campingplatz von UFO-Enthusiasten. Als Dan Armstrong ankommt, ist ein Mitglied der Gruppe bereits tot. Einige aus der Gruppe vermuten eine Entführung durch Außerirdische, aber Dan ist sich sicher, dass sich der Mörder im Tal am Fusse des Cervino umtreibt. Insofern verspricht der Titel zu viel, genauer wäre «Murder in the Matterhorn Valley» oder gar «Murder in the Cervino Valley», doch «Mord am Matterhorn» liest (und verkauft) sich halt stärker.

Gornerschlucht  – Hoffmanns Tode

Nora hob ihr Glas. «Also, prost, ihr beiden, und auf eine erfolgreiche Matterhorn-Tour! Wann soll es denn losgehen?»
«Ja, ab morgen gilt es ernst. Nachmittags steigen wir zur Hörnlihütte hinauf und treffen dort die zwei Bergführer.»
«Ja, genügt denn einer allein nicht, um euch zwei auf den Gipfel zu führen?»
«Eben nicht. Es ist Vorschrift, dass am Matterhorn kein Führer mehr als eine Person übernehmen darf. Es wird zwar saumässig teuer so, aber wer unbedingt aufs Matterhorn will, muss eben schon etwas investieren…»

Ob die beiden Bayern Helmut und Rainer den Matterhorn-Gipfel erreichen, erfahren wir nicht. Sie sind ja auch nur Nebenfiguren im digitalen Alpenkrimi «Gornerschlucht» von Urs W. Käser. Die Stadtberner Gemeinderätin Nora von Graffenried hingegen – ob verwandt mit Noch-Stadtpräsident Alec von Graffenried erfahren wir ebenfalls nicht… – gehört zu den Verdächtigen im Mordfall Daniel Vontobel, der in der Gornerschlucht erschlagen gefunden wurde und der Nora mit Nacktfotos erpresst hatte. Doch Vontobels Ehefrau hatte auch ein Motiv, den üblen Mann loszuwerden. Die Zermatter Polizei holt Kommissarin Elena Eyer aus Brig zu Hilfe. Kann sie sich einen Weg durch das Dickicht an Indizien und Zeugenaussagen bahnen? Ein klassischer Krimi à la Agathe Christie, mit netten Nebengeschichten zum Matterhorn-Jubiläum (150 Jahre Erstbesteigung), zu Bergblumen und Heuschrecken. Käsers zweiter Zermatt-Krimi «Hoffmanns Tode», mit dem Matterhorn auf dem Cover und der gleichen zackigen Kommissarin am erfolgreichen Ermitteln, klettert auch in die Höhe: mit der Bahn auf den Gornergrat, am Seil aufs Rimpfischhorn und im Traum des Zermatter Polizisten Paul Pfamatter aufs Matterhorn.

Tödliche Freundschaft

Eine weitere halbe Stunde später kamen sie an eine fast senkrechte Wand und Christoph blieb abrupt stehen.
«So, hier zeigt sich, dass ihr das Seil nicht umsonst hochgetragen habt.» Er bedeutete seiner Gruppe, sich untereinander mit Seilen und Karabinerhaken zu verbinden. «Die Schutzhaken im Felsen habe ich selbst verankert, deshalb weiß ich, dass ich mich darauf verlassen kann.»

Der Bergführer Christoph wohl schon, nur wir Leser und Leserinnen nicht. Denn was Julian Letsche im Krimi «Tödliche Freundschaft» am Hörnligrat textlich verankert hat, ist einfach falsch. Erstens wird bei der ersten fast senkrechten Wand des Grates, unweit oberhalb der Hörnlihütte, angeseilt, nicht erst hoch oben am Grat. Zweitens trägt der Bergführer das Seil, nicht die geführte Person. Und drittens hat der Führer nur eine am Seil, nicht drei Personen (geplant waren sogar sieben!). Viertens stimmen die alpintechnischen Begriffe nicht (Schutzhaken, Anseilen mit Karabinern). Zudem sind die kriminalistischen Aspekte in diesem Roman noch brüchiger als die Felsen in der Ostwand des Matterhorns (es ziert natürlich das Titelbild). Und sechstens ist die ganze Geschichte um die Matterhorn-Aspiranten und ihre alten bzw. neuen Partnerinnen schlicht schlecht. Froh ist man einzig darum, dass jene den Gipfel nicht erreichen – und wir Leser und Leserinnen wohl nicht die letzte Seite.

Matterhorn

Marina’s eyes climbed the wall as if tracking something beyond them. “Listen.”
Will heard it too. A low, ominous rumbling. The sound grew louder, more distinct. In seconds, il hardened into a steady, rhythmic pounding.
A helicopter.
Will dropped his rucksack to the floor, opened a compartment and pulled out a pistol. A Glock 19. It had belonged to his father. He moved to the door, chambering a round.
“Put on your ruck.”
Marina zipped up her parka and threw the pack onto her shoulder. “Ready”.
Will opened the door and stepped outside onto the narrow concrete band surrounding the Solvay Hut. The hut, a single-room log cabin at an altitude of 13,200 feet, was perched on a shelf of ancient rock half-way up the Hörnli Ridge of the Matterhorn.

Ein steiler Einstieg! Jedenfalls beginnt die Leseprobe des Thrillers «Matterhorn» von Christoph Reich mit dem Solvaybiwak (4003 m) am Hörnligrat, wohin es Marina und Will verschlagen hat, ein Liebespaar, ja sogar Eltern einer kleinen Tochter, was er aber offenbar nicht wusste. Doch allzu viel Zeit bleibt ihm nicht, sich darüber mit Marina zu freuen. Denn im Helikopter sitzen nicht Rettungsleute, sondern Schützen, und das Drama nimmt seinen Lauf. Weiter geht es mit dem Klappentext: «Robbie Steinhardt führt ein friedliches Leben. In einem kleinen Alpendorf hütet er sein Vieh, kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten und denkt nicht an sein früheres Leben und die Familie und die Geliebte, die er zurückgelassen hat – damals, als er Mac Dekker von der CIA war. Doch als er erfährt, dass sein Sohn Will in seinen Fußstapfen gestorben ist, braucht er Antworten. Welcher Auftrag führte Will in die alpinen Höhen (und eben zum Matterhorn!), und warum ist Ilya Ivashka auf demselben Weg? Ilya – sein  enger Freund, sein Rivale in der Liebe. Ilya, der Mac den Verrat anhängte und ihn untertauchen ließ.» Muss ich lesen.

Was ich, jedenfalls in Sachen Matterhorn, nicht unbedingt lesen musste, ist der Jugendkrimi «Delitto ad alta quota» von Daniela Morelli (Mondadori Libri, Milano 2023). Auf dem Cover das Matterhorn, doch wo dieser «giallo per regazzi» angesiedelt ist, fand ich nicht heraus. Ganz sicher aber weder in Zermatt noch in Breuil-Cervinia.

Silvia Götschi: Stille Nacht, mörderische Nacht. Ein Weihnachtskrimi. Emons Verlag, Köln 2024. € 16,00.

Alexander Oetker: Schneegestöber am Matterhorn, in: Miriam Kunz (Hg.): Mehr Mord im Chalet. Weihnachtliche Krimigeschichten aus der Schweiz. Atlantis Verlag/Kampa Verlag, Zürich 2023. Fr. 23.90.

Gabriela Kasperski: Mord im Grand Hotel Matterhorn. Oktopus by Kampa, Zürich 2024. Fr. 21.90.

T.A. Williams: Murder at the Matterhorn. An Armstrong and Oscar Cozy Mystery. Boldwood Books 2023. € 27.80.

Urs W. Käser: Gornerschlucht. Alpenkrimi. XOXO-Verlag, 2021. Hoffmanns Tode. Books on Demand, 2021.

Julian Letsche: Tödliche Freundschaft. Oertel u. Spörer, Reutlingen 2024. € 15,00.

Christoph Reich: Matterhorn. Thomas & Mercer, 2024. € 22,80.

Von Vrin über Zermatt und Saas-Fee nach Island und Sardinien

Vier Bildbände, die gut unter den Weihnachtsbaum passen.

«Ich versuche mir vorzustellen, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich damals nicht weggezogen wäre. Würde mir das Dorf auch so viel bedeuten wie als Emigrant in den USA? Oder würde ich bedauern, dass ich geblieben wäre? Die Schule in Vrin wurde 2014 geschlossen, mangels Schülerinnen und Schüler.»

Schreibt Verner Soler in der Legende zu seinem Bild der Mehrzweckhalle von Vrin. 1990 reiste der in diesem Bündner Bergdorf aufgewachsene Primarlehrer nach Los Angeles. Aus geplanten sechs Monaten Aufenthalt wurden mehr als 30 Jahre. Soler studierte in Kalifornien Fotografie und Werbegestaltung, gründete eine neue Familie und wurde Creative Director bei Saatchi & Saatchi, wo er Kampagnen für Weltmarken wie Toyota verantwortet. Trotzdem – oder vielleicht: deshalb – zieht es ihn immer wieder zurück in das Dorf seiner Kindheit und Jugend, wo seine alte Familie bis heute lebt. Die Kamera hat der Fotograf mit dabei, um Szenen (s)einer Heimat festzuhalten. Nun hat Verner Soler zusammen mit der Chasa Editura Rumantscha einen ganz aussergewöhnlichen Bildband geschaffen, dessen Originalität sich allein schon im dreisprachigen Untertitel offenbart: «Vrin. Home through an Emigrant’s Lens. Flüchtige Heimat. Bandunar e mai schar dar.» Da ist im Englischen der emigrierte Sohn, der sein altes Zuhause fotografiert. Die Heimat, vor der er vielleicht geflohen ist, die ihn aber einholt; wenn sie denn nicht abhanden kommt, nicht nur ihm, sondern auch den Menschen, die im Dorf (am Ende eines Seitentales im Bündner Oberland) geblieben sind. Und im Romanischen – in Vrin spricht man einen lokalen Dialekt von Sursilvan – bedeutet der Untertitel: verlassen und niemals geben lassen. So verhält es sich auch mit den Legenden zu den 153 grossen und grossartigen Fotos von Soler: Man sollte sie immer in den drei Sprachen lesen, nun ja, wenigstens in zwei. Denn oft erzählt der Emigrant verschiedene Geschichten. Aber bei den beiden Fotos der Hände seiner Mutter, aufgenommen 2010 und 2020, lauten sie gleich: Am Schluss steht «They are love. Sie haben geliebt. Els han carezau.» Man wird «Vrin» immer wieder zur Hand nehmen, gerade auch im Klimawandel, wenn noch mehr Abwanderung aus Bergdörfern droht. Bandunar e mai schar dar. Von Ilanz, der ersten Stadt am Rhein, braucht das Postauto bloss 46 Minuten ans Ende der Val Lumnezia.

Wir bleiben in den Bergen, reisen in ein anderes Dorf am Ende eines Tales, aber nicht am Ende der Welt. Denn dieses Dorf gehört zu den berühmtesten Tourismusorten der Welt. Die Position verdankt es dem auffälligen Berg hinter der Siedlung, und dem Mann, der 1854 das dortige Gasthaus mit zwölf Betten kaufte und dann die Gunst der triumphalen Tragödie nutzte, als von den sieben Erstbesteigern des Matterhorns am 14. Juli 1865 nur drei lebend nach Zermatt zurückkehrten. Sein Name: Alexander Seiler, gelernter Seifensieder aus Blitzingen im Goms. Bei seinem Tod im Jahre 1891 umfasste das Seilersche Hotelimperium neun Hotels mit über 1000 Betten und 700 Angestellten. Stephan Seiler, Urenkel des Hotelgründers, verfasste mit «Die Seiler-Saga. Eine Hoteliersfamilie prägt den Tourismus im Oberwallis» eine reichhaltig illustrierte Familien- und Hotelbiographie. Perfekte Lektüre, um mit dem Glacier-Express von Ilanz bzw. Disentis nach Zermatt zu reisen.

Dörfer am Ende eines Bergtales sind besondere Orte. Was als Sackgasse erscheint, kann auch eine Erweiterung des Horizonts sein. In Vrin eine agrar-ökonomische, kulturelle und soziale, mit dem Werk von Verner Soler. In Zermatt eine touristische, mit dem Buch von Stephan Seiler. Und in Saas-Fee eine in Sachen Baum und Bau. Im Ort am Fuss von Täschhorn und Dom ist der Bildband «Lärchengold und Gletscherweiss. Die Lärche – Lichtbaum der Berge» hauptsächlich angesiedelt. 2012 erschien er zum ersten Mal, glänzend zum «Europäischen Jahr der Lärche». Diese kenne ich nicht. Die Zweitauflage besticht visuell durch die 155 Fotos von Thomas Andenmatten. Einerseits frühlingsgrüne und herbstgoldene Lärchen in der Natur, vor allem als Vordergrund zu den hohen Schneebergen rund um das Saastal. Andererseits Häuser und Ställe aus Lärchenholz, seit Jahrhunderten verzahnt der Witterung trotzend. Luzius Theler geht als textlicher Hauptförster voran, gefolgt von 33 Autorinnen und Autoren. Eine bunte und spannende Mischung zum wohl wichtigsten und schönsten Baum des Wallis. Dort stellt die Lärche 29 Prozent des Holzvorrates, in der gesamten Schweiz nur fünf Prozent an der bewaldeten Fläche.

Eindrückliche Bäume und Wälder ebenfalls im Bildband «Les plus belles montagnes d’Europe. Une nature préservée». 2023 erschien er bei Frederking & Thaler, für die französische Ausgabe wurden ein paar ostalpine Gipfel durch französische ersetzt, mais bien-sûr. Geblieben ist eine fotografische Ode an eine fragile und geschützte Natur, vom Alpenbogen bis zu den Fjorden Norwegens und vom Ätna bis zu den Vulkanen der Azoren, über Island, Santorin, den Kaukasus. Die prächtigen Fotos von Stefan Hefele und Daniel Kordan illustrieren die gebirgige Majestät des europäischen Kontinents, der mit vielen verschiedenen Reliefs gespickt ist. All diese Landschaften kann man in diesem Buch nicht nur betrachten, sondern auch «lesen» lernen. Leider helfen die Bildlegenden nicht immer mit bei der Lektüre. Zu oft steht nicht, was zu sehen ist. Da fehlen Namen, ja manchmal gar die Gipfel, von denen die Rede ist, wie beim Snaefellsjökull (1446 m) ganz im Westen von Island. Für mich vielleicht besser so: Im Juni 1989 versuchte ich mit Eva Feller diesen verlockend gletscherweissen Vulkan zu besteigen, in dem Jules Verne seine «Reise zum Mittelpunkt der Erde» startet, allein das Wetter spielte nicht mit. Anders jedoch bei der Pedra Longa (128 m), einem der Wahrzeichen an der Ostküste Sardiniens; auf Seite 220 geht die Sonne neben dieser im Bildband namenlosen Felsnadel unter. Im Oktober 2001 stand ich gleich zweimal oben, zuerst alleine, dann mit Beat Hächler, damals noch nicht Direktor von ALPS Alpines Museum der Schweiz. Dort findet am 11. Dezember die Veranstaltung «Im Fluss – Dans le courant» statt; sie ist ausgebucht. Aber der internationale Tag der Berge kommt wieder, so sicher wie Weihnachten…

Verner Soler: Vrin. Home through an Emigrant’s Lens. Flüchtige Heimat. Bandunar e mai schar dar. Chasa Editura Rumantscha, Cuera/Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2024. Fr. 45.-

Stephan Seiler: Die Seiler-Saga. Eine Hoteliersfamilie prägt den Tourismus im Oberwallis. Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2024. Fr. 59.-

Luzius Theler (Haupttext), Thomas Andenmatten (Fotos): Lärchengold und Gletscherweiss. Die Lärche – Lichtbaum der Berge. Weber Verlag, Thun-Gwatt 2024. Fr. 49.-

Stefan Hefele, Daniel Kordan (photos), Eugen E. Hüsler (texte): Les plus belles montagnes d’Europe. Une nature préservée. Éditions Glénat, Grenoble 2024. € 40,00.