Der Liebe Marcel

Aufräumen zum Jahresende. Da kommt längst Vergessenes zu Tage. Erinnerung an einen Freund.

Die Todesanzeige hatte ich damals nur beachtet, weil ein Bild vom Piz Badile dabei war. Marcel, wir nannten ihn den Lieben Marcel. Es gab damals, als wir regelmässig auf der Galerie kletterten, auch einen Bösen Marcel. Der Böse Marcel war eigentlich auch lieb, aber wir mussten die beiden lieben Marcels irgendwie unterscheiden. Also ich glaube, der Liebe Marcel war doch noch ein bisschen lieber. Jedenfalls wirkte er sehr bescheiden, war eher zurückhaltend, sprach mit leiser Stimme und hatte meist einen eher ernsten, fast melancholischen Blick. Ein genialer Kletterer mit elegantem, ruhigem Stil. Da konnten wir nur neidisch zuschauen, wenn er etwas Schwieriges vorstieg, die Schirmmütze umgekehrt auf dem Kopf.
Die Todesanzeige damals war ein Schock. Ich hatte sie per Zufall in einer Zeitung entdeckt, die schon mehrere Tage alt war und alles vorbei. «So viel wolltest du noch anpacken. Jetzt bist du in deiner Bergwelt geblieben», stand da, von einer Schwester unterschrieben und von ein paar Kletterfreunden. Mir wurde bewusst, wie wenig ich den Kletterfreund eigentlich kannte, den wir so oft getroffen hatten, auf der Galerie, in Mettmen, im Tessin, mit dem wir auch gelegentlich geklettert waren. Vor kurzem noch, an einem Frühlingstag, hatten wir unter der Wand gesessen, mit Marcel und der blonden Romy und er hatte einen Blondinenwitz erzählt, ich weiss ihn noch heute. Aber sonst? Er wirkte manchmal sehr traurig, hatte gelegentlich keine Arbeit, dann wieder etwas durch Kollegen vermittelt im Bergsportgeschäft. Irgendwie schien er im Leben nicht so richtig Tritt zu fassen, so wie ihm das im Fels gelang. Er war viel mit jungen Frauen unterwegs, aber man wusste auch nie, war es nun eine Freundin oder einfach eine Kletterpartnerin. So ist es immer. Wenn jemand von uns geht, ein Freund, ein Bekannter, ein Verwandter, dann merken wir erst, was wir versäumt haben, was wir eigentlich noch wissen wollten, was wir nicht fragten, als er noch lebte oder sie. Wir klettern zusammen, aber wir kommen uns kaum näher dabei. Wir haben ja immer noch Zeit, denken wir. Aber einmal ist die Zeit abgelaufen, ganz plötzlich, und da stehen wir nun, mit einer Zeitung in der Hand, einer Todesanzeige.
Wir haben uns ein Bild von einem Menschen gemacht, aber war es auch richtig, oder tragen wir nun ein ganz falsches mit uns herum? War Marcel vielleicht gar nicht so traurig, so melancholisch. War er vielleicht ein zurückhaltender, aber im Grunde seines Wesens ein fröhlicher, positiver Mensch?
Und warum der Piz Badile? Wollte er den anpacken in jenem Sommer, oder war es sein Traumberg, den er schon verschiedentlich bestiegen hatte? Die Nordostwand oder die Kante? Vorbei, vergessen, es spielt keine Rolle mehr.
Marcel war in jenem Mai im Klettergarten eine Seillänge schon ein Stück vorgestiegen, erfuhren wir später, er war mit einer Kletterpartnerin allein im Gebiet. Noch während des Kletterns starb er an einer Lungenembolie.
Ich habe die Todesanzeige aufbewahrt, so zufällig wie ich damals gefunden habe, ist sie mir wieder in die Hände gekommen. «Deine fröhliche und liebevolle Wesensart bleibt unvergessen. Unsere Gedanken sind bei Dir», lese ich. Zehn Jahre ist das nun schon her, Marcel war gerade 43 Jahre alt geworden.

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