Ikarus

Eine Route wie ein alter Freund, dem ich immer wieder mit Respekt begegne. Besonders an einem heissen Sommertag.

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Würde Ikarus heute seinen Flugversuch starten, er käme nicht weit. Das Wachs seiner Flügel würde schon nach ein paar Metern schmelzen und er würde überleben, nicht zu Tode stürzen wie in der Sage. Trotzdem, wir versuchen Ikarus, die Kultroute auf der Galerie. Noch liegt sie ja im Schatten, doch wir sind von der Aufwärmroute schon nassgeschwitzt. Aufwärmen klingt wie Hohn, bei dieser Temperatur, aber es geht ja um die Muskeln, die noch etwas steif sind. Also Ikarus. Wahrscheinlich war es 1991, aber sicher auch ein heisser Sommermorgen, als ich Ikarus erstmals rotpunkt schaffte. Nach einigen Versuchen, die Route ist ja doch etwas knifflig, kleingriffig da und dort, technisch. Galerie halt. Was macht eigentlich der Ernst, haben wir uns gefragt, der Ikarus eingerichtet hat, zur Frühzeit des Galeriekletterns. Jahre nicht mehr gesehen. Wie so viele andere Freunde, Galeriefreunde, Kletterfreunde. Und Freundinnen natürlich.
Auch Ikarus ist so etwas wie ein alter Freund, den man kennt, der aber doch immer wieder Überraschendes bietet, etwa einen Griff, den man noch nicht kannte, ein guter Freund, der auch immer wieder herausfordert, fordert. Manchmal versuche ich auszurechnen, wie oft ich Ikarus geklettert bin in all diesen Jahren. Ich geb’s auf. Als wir noch drüben in Obstalden wohnten, gab es Wochen, in denen ich viermal Ikarus kletterte. Jetzt ziemlich seltener, aber doch immer wieder mal. Und immer mit grossem Respekt, immer mit Schmetterlingen im Bauch, oder eben kleinen flatternden Ikarüslein. Erreiche ich den Halbmondgriff, mag ich ihn noch halten, und die Schuppe, rutsche ich nicht ab, und dann die Leiste, hoch oben. Auch heute muss ich mich strecken, nachgreifen. Aber es geht, ja es geht noch.
Ikarus gehört zu meinem Kletterleben wie wohl keine zweite Route. Als ich sie damals schaffte, schrieb ich gleich einen Text. Röbi Bösch fotografierte mich dazu. (Die Bilder hier sind von damals, auch das schöne Signe, das leider verschwunden ist.) Der Text wurde dann Script für einen kleinen Fernsehbeitrag, drei Tage hat man gefilmt, von oben, von unten, von der Seite. Ich kletterte die Route ein Dutzend Mal. Im Lauf der Jahre gab es auch Tiefpunkte, etwa als ich Ikarus nicht mehr schaffte, nach Krankheit zum Beispiel, oder wenn ich wieder mal ins Seil fiel. Mich dann aber stets wieder erholte. So ist das mit jeder Freundschaft. Es gibt diese Hochs und Tiefs. Und einmal nimmt sie ein Ende, unweigerlich, wie auch immer. So wird auch meine Beziehung zu Ikarus einmal zu Ende sein. Wie auch immer.

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