«Herr es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.» Es ist zwar kein Herbsttag, wie in Rilkes Gedicht. Frühling ist es, aber Herbst im übertragenen Sinn. Ein Abschied.
Nach dem dritten Haken ist Ende. Ich weiss genau, wie das hier geht, doch Wissen allein ist nicht Macht, wie eine Redensart glauben macht. Ich weiss es genau. Hundertmal geschafft. Vielleicht auch nur siebenundsiebzig oder sechsundfünfzig. Das letzte Mal vor acht Jahren: 17. Juni 2010. Ich weiss das, weil mich Marco Volken fotografiert hat. Pizza Buch, die Kultroute. Jeden Griff, jeden Tritt kenne ich im Schlaf. Stelle ich mir vor, wenn ich nicht einschlafen kann. Und jetzt das. Ich weiss genau, wie es geht, aber es geht einfach nicht. Ich kann den Griff nicht halten, es fehlt die Kraft. Die Freunde feuern mich an. Es hat keinen Zweck – das hat Klettern ja ohnehin nicht – und ist man überfordert, erst recht nicht. Es wäre so schön gewesen. Noch einmal wie einst, so leicht und beschwingt und im Bewusstsein: es geht, es geht wie immer. Doch ein Immer gibt es nicht, wie man weiss, aber nicht wahrhaben will.
Es gibt Menschen, die wissen genau, wann es Zeit ist für den Abschied. So wie Rilke in dem wunderbaren Gedicht schreibt. «Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren. Und auf den Fluren lass die Winde los.» Es gibt Menschen, die den Herbst geniessen können. Befreit von allen Zwängen. Ich gehöre offenbar nicht dazu. Ich hadere und weiss doch, dass das alles nur schwerer macht. Es wäre so schön gewesen. Die Bedingungen bestens. Zwei gute Freunde, die Haken sind eingehängt, was alles einfacher macht. Ich fühlte mich gut in Form, obwohl, schon eigentlich zu viel geklettert an dem Tag. Ich wusste, wenn es einen Moment gegeben hat, während den letzten Jahre, dann ist es dieser. Zwei oder drei Versuche hatte ich noch gemacht im Lauf der Zeit, bin zum Schlüsselzug gekommen, gescheitert. Heute kein Hauch einer Chance, auch nur den zu erreichen, zwei Haken weiter oben. Den Zangengriff, den Untergriff, das Zweifingerloch. Die Griffe und Tritte, die sind wie alte Bekannte, Stationen eines Wegs, den man immer wieder gegangen ist. Real und noch viel mehr in Gedanken, in Träumen.
«Die Route ist schwerer geworden», trösten mich die guten Freunde, «abgespeckt, rutschig». Sie schaffen das noch immer leicht, obwohl auch nicht mehr die Jüngsten. Guter Trost ist teuer. Ich weiss doch genau, älter werden ist ein unablässiger Abschied. Heute, morgen, jeder Tag. Viele Abschiede sind mir leichter gefallen. Ein Haus verkauft, eine Arbeitsstelle aufgegeben, einen Beruf verlassen, ein eigenes Unternehmen beendet, Manuskripte in die Schublade gesteckt,eine Mulde mit Möbeln, Geräten, mit Alltagsgegenständen eines langen Lebens gefüllt. Warum mir gerade dieser Abschied so schwer fällt, ist mir letztlich ein Rätsel. Es ist das Irrationale, das mich in diese seltsame felsige Welt treibt, diese tiefe Sehnsucht, deren eigentlicher Grund mir verschlossen bleibt. Für immer wohl.
(Foto Marco Volken)