Reticent Wall

Klettern im Kopf. Im Spreizschritt zwischen zwei Sprachen.

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Seit Tagen klettere ich in der Reticent Wall am El Capitan. Virtuell, nicht wirklich. Strahlendes Wetter draussen, ich sitze vor dem Schirm, zwei Fenster offen. Beide geben den Blick frei in die gleiche senkrechte Granitwelt im Yosemite Valley. Ich klettere mit Andy Kirkpatrick solo durch die gefährliche und äusserst schwierige Route, heiss und erschöpft, ich stürze, ich fluche, ich weine und bin glücklich. Im einen Fenster sein Text, sein Buch: Psychovertical. Im andern die Übersetzung von Robert Steiner: Psychovertikal. Freund Robert hängt derweil irgendwo in Kirgistan in einer ebenso hohen und furchterregenden Granitwand, unerreichbar per Handy oder Mail. Ich lese die beiden Texte parallel, während ich mitlebe und mitfiebere und mich mitängstige in einer Welt, die ich niemals betrete werde, betreten kann. Nur wenige Kletterer schaffen diese Schwierigkeit und noch weniger allein, wie Andi. Robert vielleicht? Auch er hat Routen am El Cap solo geklettert, Tage und Wochen harter Arbeit, jede Seillänge drei Mal, einrichten, cleanen, jümaren; jedes Gramm Material und Proviant mit eigener Kraft die Wand hochziehen. Nein danke und doch. Man wünschte sich, man könnte da mithalten und doch graust es einem vor diesen senkrechten Felswüsten, in denen man erfrieren, verdursten oder zu Tode stürzen kann.
Während also Andy seinen Weg sucht, Copperheads setzt und Birdbeaks und Skyhooks und Knifeblades in stumpfe Riss klopft, klopfe ich die Übersetzung nach Stellen ab, die noch etwas geschliffen, vereinfacht, begradigt werden können. Rot zieht sich meine Spur durch den deutschen Text, etwa so wie die Hakenspur durch die Tausend-Meter-Wand.
Harte Arbeit auch das, aber ebenfalls faszinierend. Ein Spreizschritt zwischen zwei Sprachen, es ist wie das Klettern in einem weiten Kamin. Griff links, tritt rechts, wie geht das zusammen, wie komme ich höher.
Bald ist der Gipfel in Sicht. Was wird Robert zu meiner Routenvariante sagen? Jetzt hat er gewiss andere Probleme, dort auf seinem Portaledge in der Wand des Asan oder Usen oder wo auch immer. Er kennt Andy persönlich und ist der geniale Übersetzer dieses phantastischen Buches. Es ist nicht nur ein hoch spannendes Kletterbuch, es ist die Biografie eines bewegten Lebens, das in den schäbigen Suburbs einer englischen Kleinstadt begann und nun die Höhen eines weltbekannten und gesponserten Kletterers, Autors und Filmemachers erklommen hat. Es ist eine Lebensgeschichte und auch eine grosse Liebesgeschichte. Die schwierige Beziehung Andis zu seiner Frau Mandy und seiner Tochter Ella.
Mit allem Recht ist «Psychovertical» mit dem Boardman-Tasker Award ausgezeichnet worden, dem weltweit renommiertesten Preis für alpine Literatur. Die deutsche Übersetzung erscheint nächsten Frühling im AS Verlag, Andy Kirkpatrick kommt dazu in die Schweiz. Bitte das Datum vormerken: Bergfahrt 2010 am 24. April 2010 in Amden.

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