Es ist bekannt, dass viele Bergsteiger zu den willigen Helfern der Nazis gehörten – wenn nicht selber an vorderster Parteifront dabei. Dass es in den Bergen keine Politik gebe, wie einer der alpinen NS-Trittbrettfahrer später behauptete, ist eine bequeme Illusion, um sich nicht der Vergangenheit stellen zu müssen – und auch nicht der Gegenwart.
„Die Hochzeitsreise ging auf die Schesaplana, mit Ski natürlich. Die Douglasshütte (die alte noch) war von einer Lawine zugedeckt, drin war es stockdunkel und kalt und bald voll Rauch, weil der Kamin, von der Lawine zugedeckt, nicht ziehen konnte. Der Aufstieg auf die Schesaplana war von hausgroβen Lawinentrümmern bedeckt und auf dem Gipfel herrschte eine wilde Kälte mit Schneetreiben. Zu allem hin brach mir die Feder der Bilgeri-Bindung. Der Genuβ der Abfahrt war dann sehr gering, auch der Aufstieg zum Verajoch und Öfenpaβ, dann die Abfahrt durch Öfentobel unter sprungbereiten Neuschneelawinen. Daβ sie uns nicht erwischten – es geschehen immer wieder Wunder.“
Es dürfte gemütlichere und weniger gefährliche Hochzeitsreisen geben und gegeben haben, auch für bergbegeisterte Paare, als diejenige von Hermine Rüdisser (1901–2000) und Walther Flaig (1893–1972) im April 1922. Und wenn sie, wie Hermine in ihren Notizen zum Lebenslauf schreibt, damals von den Lawinen nicht erwischt wurden, Walther wurde es trotzdem. 1944 verhängten ein schweizerisches Militärgericht und der Kanton Zürich gegen ihn eine lebenslängliche Einreisesperre in die Schweiz, weil er, überzeugter Nationalsozialist und seit 1933 Mitglied des NSDAP, Auftraggeber eines Agenten war, der in der Schweiz spionierte.
Das Portrait von Hermine Flaig inklusive Verlobungsanzeige und Gipfelfoto nach der Erstbegehung des Madrisa-Nordostgrates findet sich im ersten Band der neuen Buchreihe „Montafoner Gipfeltreffen“. Unter dem Titel „Alltag – Albtraum – Abenteuer“ behandeln 22 Beiträge das Thema „Gebirgsüberschreitung und Gipfelsturm in der Geschichte“. Das von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, von Hannibals Überquerung der Alpen bis zur Rezeption dieser elefantösen Tour in der Neuzeit. Michael Kaspar berichtet vom politisch wenig appetitlichen Kreuzzug auf den Piz Buin, den höchsten Gipfel Vorarlbergs. Hitlers Gebirgsjäger hissten 1942 auf dem Elbrus, dem höchsten Gipfel Europas, die Hakenkreuzfahne – ebenfalls ein unrühmliches Kapitel der Geschichte des Alpinismus. Bergsteigen ist halt manchmal mehr, als einen Fuss vor den andern zu setzen. Ausgerechnet Walther Flaig hat 1962 behauptet, „in den Bergen gibt es keine Politik“. Unter dem Titel „(Keine) Frauen in der Silvretta“ stellt Edith Heissenberger eben die Ausnahmebergsteigerin Hermine Flaig vor. Ein sehr aufschlussreicher Band, den Kasper und seine Seilgefährten da herausgegeben haben, mit vielen Literaturhinweisen und einem Index von Adam bis Zimba (letztere auch bekannt als das Matterhorn vom Montafon).
Wer nun mehr über Walther Flaig und andere unsympathische Zeitgenossen aus der Gegend erfahren möchte, greift zum brandneuen Band der Reihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“, die zu Nazis in lokalen Regionen von Deutschland und angrenzenden Ländern forscht. Band 5 porträtiert NS-Belastete aus dem Bodenseeraum, darunter auch Otto Raggenbass, Bezirksstatthalter in Kreuzlingen, der jüdische Flüchtlinge zurückgeschickt und jüdische Schulkinder aus Konstanz zurückgewiesen hat. Seine Vergehen sind gewiss nicht so gravierend wie diejenigen von Schriftsteller und SS-Erzieher Ludwig Finckh oder gar von Wilhelm Boger, der von 1933 bis 1939 für die Gestapo in Friedrichshafen und dann in Auschwitz tätig war. Mitten in diesem braunen Gruselkabinett von 20 Männern der Silvretta- und Bernina-Poet Walther Flaig. Wer Jürg Frischknechts Beitrag liest, wird im „Festsaal der Alpen“ (so Flaig über die Bernina) nie mehr mitfeiern wollen.
Michael Kasper, Martin Korenjak, Robert Rollinger, Andreas Rudigier (Hg.): Alltag – Albtraum – Abenteuer. Gebirgsüberschreitung und Gipfelsturm in der Geschichte. Reihe „Montafoner Gipfeltreffen“, Band 1. Böhlau Verlag, Wien 2015, Fr. 59.-
Wolfgang Proske (Hg.): Täter Helfer Trittbrettfahrer, Band 5: NS-Belastete aus dem Bodenseeraum. Kugelberg Verlag, Gerstetten 2016, Fr. 25.90.
Dreimal hält Jürg Frischknecht, Journalist und Autor, seinen Vortrag über Walter Flaig, den «Schweizer Zeitgenossen», der in der Schweiz spionieren liess.
Dienstag, 23. Februar 2016, um 20 Uhr im Rätisches Museum in Chur
Freitag, 26. Februar, um 19 Uhr im Montafoner Heimatmuseum in Schruns
Mittwoch, 9. März, um 20 Uhr in der Buchhandlung Comedia in St. Gallen