Der Gamperstock im urnerischen Schächental diente einst als Schauplatz eines Feldzuges, pardon, eines Bergzuges. Sie war nicht ruhmreich, die Alpenquerung unter seiner Generalität Alexander Wassiljewitsch Suworow-Rymnikski. Aber von Bedeutung. © Annette Frommherz
Geschichte war mir ein Schulfach mit Fensterplatz. Nun fällt oben auf der Chinzig Chulm der Name Suworow, und was damals in der Schule verpasst worden war, muss abends unter google nachgeschaut werden.
Schwere Mäntel und kniehohe Stiefel trugen wir nicht, als wir in Ratzi unsere wasserdichten High-Tech-Rucksäcke schulterten. Die Maultiere lassen auf sich warten wie damals, als der russische Herr General vergeblich auf die versprochenen Lasttiere gewartet hatte, was sich schliesslich verhängnisvoll auswirken sollte. «Bi iis isch eppis los» wirbt heute der Schächentaler Tourismus. Es bleibt demnach alles beim Alten.
Wir sind ausgeruht. Wir mussten tags zuvor weder den Durchgang durchs Urnerloch erzwingen noch um die Teufelsbrücke kämpfen. Unser Bettlager war nächtens warm und weich und kaum zu vergleichen mit dem harten und kalten Unterboden, der Suworows Truppe – immerhin 21‘000 Mann – als Nachtlager dienen musste. 1799 war das, Ende September. Das Gros der Armee zog bei Regen und mit zerfetztem Schuhwerk während zwei Tagen über den Kinzigpass Richtung Muotatal. Suworow selber, der faule Hund, wurde von Urner Bauern in einer Sänfte vom Kinzig herabgetragen. Nicht nur Mannsbilder, auch 6‘000 Pferde zogen über die schwierigen Gebirgspfade, und ich versuche mir nicht auszumalen, wie viele Mannen und Gäule über die Felsen gestürzt sein mussten.
Suworows Rechnung ging nicht auf. Eigentlich wollte er mit seinen Verbündeten – den Österreichern und den Engländern – die Franzosen einkreisen, die kurz davor mit ihrem Einmarsch in die Eidgenossenschaft den Einheitsstaat ‚Helvetische Republik‘ geschaffen hatten. Aber ohne Brot im Mantelsack, mit einer geschwächten Truppe und mit den fehlenden Maultieren liess es sich viel zu spät ins Muotatal einmarschieren. Pech gehabt, auch mit der Truppe. Bis Chur fehlten rund 6‘000 Mann – irgendwo in Abgründen und an Wegrändern waren sie unterwegs liegen geblieben; abgestürzt, verhungert oder vor Erschöpfung zusammengebrochen.
Und so nimmt jede Geschichte einen anderen Verlauf als sie hätte nehmen können. Auch unsere. Denn was von unserer SAC-Sektion als Schneeschuhtour ausgeschrieben worden war, wurde zur Bergtour mit Steigeisen. Die Natur ist eigenwillig und lässt sich schwerlich dirigieren.
Dem Gamperstock ist nicht anzusehen, was er vor zweihundertdreizehn Jahren zur Schweizer Geschichte beitrug. Auf dem Gipfel steht, als wäre nichts gewesen, das metallene Kreuz mit dem Gipfelbuch, in dem Suworow keine Nachricht hinterlassen hat.
Clariden und Schärhorn thronen unberührt, als ging sie das alles nichts an. Bergab meistern wir den steilen Gipfelrücken mit Steigeisen. Später stehen wir auf einem weitläufigen Karrfeld und wünschen uns Sänften. Unser Tourenleiter murmelt etwas von partizipierendem Führungsstil und lässt abstimmen, ob dem Grat entlang gegangen werden soll oder das Karrfeld siegt, wo unter dem Schnee die Felsspalten lauern. Sechs zu eins für die zweite Option, weiss der Teufel weshalb. In der Folge sinken wir stellenweise tief ein; die einen mit einem entrückten Aufschrei, andere in stummer Ergebenheit. Vorwärts zu kommen gestaltet sich mühsam und kostet uns eine Menge Kraft; im Nachhinein ist es aber wohl kaum zu vergleichen mit den Strapazen von Suworows Armee. Dennoch: wir sind froh, als wir endlich wieder festeren Boden unter den Bergschuhen haben.
Unsere Tour wird mit Sicherheit nicht in die Geschichte eingehen. Was uns nicht weiter stört. Dafür haben wir keine Opfer zu beklagen.
Liebe Annette
Eine tolle Geschichte. Ich glaube, sie wird doch in die Geschichte eingehen. Jedenfalls in die Geschichte der Schweizer Alpinen Literatur. Wie noch viele deiner über 50 Blogs.
Chapeau!
Emil