Balades dans les gorges de Suisse romande

Dass zwischen der deutschen und der welschen Schweiz eine tiefe Schlucht klafft, wissen wir alle: der Röstigraben! Nun gibt’s aber auch noch weitere interessante Gräben bzw. Gorges zu entdecken im Welschland, mindestens 19 wie der vorliegende Wanderführer zeigt. Hat man sie alle abgewandert, so stellt man vielleicht fest: der 20. ist wie durch ein Wunder verschwunden. Rösti gibt’s überall.

Cover Balades dans les gorges

„Dann kömmt man an die Pissevache. Der Bach derselben heisst Salanche, und fällt zwischen 2-3000 Fuss hoch; er gehört zu den schönsten Wasserfällen der Schweitz. Vormittags steht er so im Sonnenlicht, dass die prächtigsten Regenbögen sich bilden; von beyden Seiten kann man den Steinhügel hinansteigen, und sich ihm nahe stellen. Auf der östlichen Seite ist der Anblick schöner als auf der westlichen.“

Diese Empfehlung gab Johann Gottfried Ebel 1793 in seiner „Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art in der Schweitz zu reisen“. Der Ebel war er erste richtige und immer wieder aufgelegte, auch ins Französische und Englische übersetzte Reiseführer der Schweiz. Der Pissevache-Fall bei Martigny zählte damals trotz – oder vielleicht auch wegen seines Names: Kuhpissfall tönt ja noch immer leicht anrüchig – zu den Top-Sehenswürdigkeiten der Schweiz. Diesen Rang hat ihm der von Goethe besungene Staubbachfall bei Lauterbrunnen oder der Reichenbachfall bei Meiringen, wo Conan Doyle seinen Sherlock Holmes in die feuchte Tiefe fallen liess, längst abgelaufen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil der Salanfe-Stausee heute einen Teil des Wassers zurückhält – an seinem sicheren Strom verdient man besser als an dem unsicheren der Touristen.

Aber die Salanfe können wir immer noch hautnah erleben, etwas weiter oben, in der Dailley-Schlucht, wo der Bach zwischen Granitwänden in die Tiefe stürzt, hinter dem eingeklemmten Block hindurch. Eine eindrückliche Szenerie, die man 1895 erstmals den Touristen erschlossen hat. 100 Jahre später erneuerten freiwillige Arbeiter den Schluchtweg vollständig und verlängerten ihn noch gegen unten: So hält der schöne Schauder, den wir beim Begehen der Treppen empfinden, länger an.

Im Vallée du Trient gibt es noch drei andere Schluchten, deren Wege alle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichtet wurden, damit die Touristen in die wilde Natur regelrecht eintauchen konnten. Schluchtwandern war damals in, und ist es auch heute wieder. In der extremen Form des Canyoning, und in der sanften Form mit den Treppen und Stegen, die in abenteuerlichen Konstruktionen in senkrechte Felsspalten gebaut wurden. Auch die Anlagen der Gorges du Triège und der Gorges mysterieuses sind renoviert worden, und so können wir wieder genussvoll durch Naturschönheiten reisen, die uns ohne menschliche Eingriffe verborgen blieben.

Die touristische Aufbereitung des Gebirges durch den Bau spektakulärer Wege durch eigentlich unzugängliches Gelände zwecks emotioneller Unterhaltung der Reisenden und finanzieller Unterstützung der Bereisten: Da stellt sich die Frage, wie weit diese Aufbereitung gehen darf – gerade heute, wo der Bau immer aufwändigerer Hängebrücken vor allem bei Seilbahnstation schwer im Trend ist. Da hatten es die Schluchtwege-Erbauer einst einfacher: Ihre Konstruktionen hingen nicht aussen am Berg, sondern drinnen.

Nun ist ein Führer erschienen, der 19 Schluchtwege der Romandie beschreibt, von der Taubenloch-Schlucht bei Biel-Bienne durch die Poëta-Raisse im Val de Travers und die Gottéron-Schlucht bei Fribourg bis zum Paradis des gorges rund um Martigny und zur Dala-Schlucht bei Loèche-les-Bains. Zu jeder der Schluchten gibt es ein paar Zeilen Geschichte und Geografie, dann eine genaue Wanderbeschreibung sowie praktische Informationen, zum Beispiel, ob man baden kann oder ob der Weg auch kinderwagentauglich ist (Poussettes: oui en version tout-terrain). Eine Karte und zahlreiche eindrückliche Farbfotos illustrieren den Führer von Stefan Ansermet. Und wann ist die beste Zeit für die Balades dans les gorges? An einem heissen Sommertag natürlich, wenn das Sonnenlicht die Wasserfälle in den kühlen Schluchten zum Leuchten bringt.

Stefan Ansermet: Balades dans les gorges de Suisse romande. Éditions Favre, Lausanne 2016, Fr. 28.-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert