Eine zufällige Bekanntschaft führt auf die Spuren von Kletterpionieren. Eine Erinnerung an die Erstbegeher der Bockmattli-Nordwand.
Manchmal holt einen die Geschichte ein. Zum Beispiel im Zug von Ziegelbrücke nach Zürich, wo bei Lachen kurz die Bockmattlitürme auftauchen, die Nordwände im bleichen Licht des Nachmittags. Wir kamen vom Klettern und die Frau, die wir vor weniger als einer Stunde kennengelernt hatten, erzählte, dass sie in ihrer Jugend mit ihrem Vater geklettert sei. Im Bockmattli vor allem. Sie nannte ihren Namen, ich fragte zurück. Ihr Vater war einer der Erstbegeher der Bockmattli-Nordwand, der «Alten Nordwand», wie man sie heute bezeichnet. Jakob Krebser, Christian Hauser und Othmar Kost hatten die Route am 28. und 29. Juni 1947 erstbegangen. Heute wird sie im oberen Teil nur noch selten geklettert und gilt als etwa anspruchsvoller als der grosse Klassiker, die «Direkte».
Ich erinnere mich, wie wir uns zu viert mit viel Hakengeklimper im Frühling 1961 an die Route wagten und sie irgendwie sogar schafften. Auch später bin ich sie nochmals gegangen, ein Freund wollte unbedingt den Seilquergang frei klettern. «Ein phantastischer Quergang ist das, wohl nur mit den ausgesuchten Seilmanövern der Münchner Kletterhochschule im Wilden Kaiser zu vergleichen», schrieb Jakob Krebser in einem langen Bericht über die Erstbegehung der Bockmattli-Nordwände im «Sport» vom 6. September 1947. Die neue Bekannte hat mir diesen Bericht geschickt.
Am 26. August 1945 hatten Hauser und Krebser die Nordwand des Kleinen Turms erstbegangen. Im Jahr darauf zusammen mit Kost einen Versuch gemacht, obwohl Krebser bei einem ersten Besuch auf der Schwarzenegg am Fuss der Wand gedacht hatte, «da kommt niemand hinauf». Anfang Juni 1947 entdeckten sie bei einem erneuten Versuch eine schöne Biwakhöhle in halber Wandhöhe. Dort verbrachten sie die Nacht vom 28. auf den 29. Juni. Anderntags ging es gleich an den schwierigsten Teil. Othmar steigt voran. «Einen extralangen und soliden Haken, den wir speziell für diese Stelle mitgenommen haben, treibt er mit wuchtigen Schlägen in eine breite Ritze. Nachdem Christel in einer Sitzschlinge an diesem Haken Platz genommen hat, macht sich Othmar an den äusserst schwierigen Quergang, um in die Grosse Rinne zu kommen. Lange Zeit sehe ich nichts mehr von ihm. Während ich stundenlang das eine Seil auf Zug halte, bedient Christel oben am Haken das zweite Seil, und gibt die Befehle von Othmar an mich weiter. Oft heisst es ‹5 cm Seil›, ‹Zug›, oder ‹Nachlassen›. Endlich ist ihm das Meisterstück gelungen.»
Abends halb sechs waren sie auf dem Gipfel, Jakob Krebser spielte zur Feier auf seiner Mundharmonika «Guete Sunntig mitenand». Die Erstbegehung der Grossen Bockmattli-Norwand war eine echte Pionierleistung, damals war in der Ostschweiz das schwere Felsklettern noch nicht sehr entwickelt. Uns junge Kletterer faszinierte vor allem der Seilquergang, von der Technik hatten wir viel in den Büchern unserer alpinen Helden gelesen, aber es gab nur wenig Gelegenheit, die Dülfertechnik auf einer richtigen Route auszuprobieren.
Inzwischen gibt es mehrere Route in der Grossen Bockmattliwand, aus so legendäre wie den «Supertramp», es gab auch böse Kontroversen um Sanierungen. Die Ersten, die sich in die vierhundert Meter hohe Senkrechte Wand wagten, sind beinahe vergessen gegangen. Auch ihr Schicksal. Jakob Krebser, ein wilder Kletterer aus Uster, stürzte in den Fünfzigerjahren in der Sulzfluh-Südwestwand zu Tode. Christian Hauser, der grosse Bockmattlierschliesser, starb auf einer Rettungsaktion an Herzversagen. Auch Othmar Kost starb früh an einem Krebsleiden.
Die alte Nord ist nicht schwieriger aber sicher abendteuerlicher als die klassische Direkte. Ich durfte sie in meinem 2. Kletterjahr mit einem JO Leiter begehen. Ich habe erst am Einstieg verstanden, dass er mich mitgenommen hat, um den Quergang zu führen. Was war das für eine Erleichterung nach der schwierigen Passage in einem fassähnlichen Loch Stand zu machen und die Kletterfinke auszusiehen. Da ich das mit den Seilmanöver nicht so ganz verstanden hatte, musste ich mehrheitlich frei klettern. Mit der Begehung hatte ich mir dann auch den Respekt von Christel verdient. Er aber meinen auch. Die Haken ware so klassisch und alt und die Linienführung so frech, dass das nur ein wirklicher Visionär seiner Zeit klettern konnte.
Schaaggi Krebser und ich waren am Arbeitsplatz und in den Bergen gute Freunde. Nun bin ich beim Finden obgenannter Zeilen 89 Jahre alt und freue mich darüber, dass Schaaggis Name als Erstbesteiger der Bockmattliwand dokumentiert ist. Viele Male standen wir auf der Schwarzenegg und besichtigten die Wand, der Reiz sie zu bezwingen riss nicht ab. Schaaggi war nach dem Durchstieg für uns ein Held.
Arni AG, 22. Dez. 2015