Durchgefallen

Die Grundlage von allem, sagte Nietzsche so ungefähr, sei die ewige Wiederkunft des Gleichen. So wiederholt sich in einem Kletterleben auch vieles immer wieder. Zum Beispiel eine selbst auferlegte Prüfung.

Das Leben ist bekanntlich eine endlose Folge von Prüfungen; es beginnt ja schon im Kindergarten und setzt sich fort bis zur Illusion, mit dem Diplom habe man es geschafft, die Fahrprüfung ja auch schon, aber dann kommt die Prüfung zum Wanderleiter und Tourenleiter und vielleicht gar Bergführer und so geht das bis zum regelmässigen Test, ob man ab 70 noch strassenverkerstauglich sei. Es gibt Leute, die treiben es noch weiter, mit 75 die Matura oder das Alpenbrevet oder den Engadiner und mit 98 den Doktor in Botanik. Lebenslanges Lernen – ein oft gehörtes Schlagwort – heisst ja auch, lebenslange Vorbereitung auf Prüfungen, die vor allem die Prüfungsexperten erfreuen, da sie ja im Honorar stehen. Als radikaler Individualist habe ich meine eigenen Prüfungen kreiert, die ich regelmässig und ohne jeden ersichtlichen Sinn oder Zweck ablegen muss, es ist sozusagen ein innerer Zwang. Die wichtigste und jährlich zu wiederholende Prüfung ist das Klettern der Route P. im Grad 7a, habe ich es geschafft, möglichst im Frühling, so ist das Jahr gerettet. Wenn nicht, dann leide ich und hoffe auf gute Form im Herbst. Ich kenne auf den zwanzig Metern von P. natürlich jeden Griff und jeden Tritt, sonst würde ich diesen Grad niemals mehr schaffen, aber das ist ja der Zweck jeder Prüfung: Dinge zu prüfen, die mit dem praktischen Leben, also hier Kletterleben, nichts zu schaffen haben. Ich litt eigentlich selten unter Prüfungsangst, selbst Mathematikprüfungen packte ich cool. Und die Aufnahmeprüfung ans Technikum schaffte ich locker und zwar vor allem wegen einem Aufsatz über eine Klettertour – wahrscheinlich war der Experte ein Bergsteiger.

Aber gestern, ich gebe es zu, litt ich fast etwas unter Prüfungsangst, unter der Route, die sich über mir aufbaute. Ich zitterte ein bisschen und atmete tief durch, das bringt Sauerstoff in die Muskaln. Es war schwülheiss, also die Bedingungen nicht optimal, am Abend zuvor war Grillparty im Garten gewesen mit Champagner und einigem Bier, und mein linker Ringfinger ist lädiert. Arthrose. Der Schlüsselzug ausgerechnet ein linker Zangengriff, keine Chance, den zu halten, obwohl es bis dahin ganz flott gelaufen war. So ist halt immer alles andere und es sind immer alle andern schuld am Scheitern. Nur gut, hat mal ein barmherziger Mensch auf der Route P. ganz dicke Ringe einzementiert, so hatte mich die Erde bald wieder mit ihren Küssen und ihrem Trost. Nun steht mir also ein harter Sommer bevor. Morgen im Altersturnen werde ich im Kraftraum zupacken und doppelt Gewicht aufschmeissen. Zum Glück kann ich meine Prüfung beliebig oft wiederholen, es gibt da keine Beschränkung. Ausser meiner eigenen Beschränktheit natürlich.

Ein Gedanke zu „Durchgefallen

  1. Lieber Emil

    Ich habe per Zufall Deinen Blogeintrag von heute gelesen. Er gefällt
    mir sehr gut und ich gratuliere Dir herzlich. Mein Freund Pavel und
    ich überlegen gerade, ob wir ein nächstes PhiloCafé zum Thema
    Prüfungen machen wollen… Du hast uns sehr inspiriert!

    Ich wünsche Dir gutes Bestehen aller selbst vorgenommener Prüfungen
    und grüsse Dich herzlich!

    Mit herzlichen Grüssen

    Thomas

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