Es lächelt der See

Lesen statt wandern empfiehlt unser Rezensent in dieser Regenzeit. Ein Glück, dass es auch Dichterinnen und Dichter gab und gibt, die nicht nur in der Hängematte brüten, sondern auch Schusters Rappen reiten. Mit Tartarin oder Mark Twain wird sogar eine Rigibesteigung wieder spannend.

„Es war am 10. August 1880, zur fabelhaften Stunde jenes in den Reisehandbüchern von Joanne und Baedeker so vielgerühmten Sonnenunterganges in den Alpen, als ein graugelber, hie und da von spiralförmig aufsteigenden Schneewellen gepeitschter dicker Nebel den Gipfel der Rigi (Regina Montium) mit seinem Riesenhotel einhüllte, das auf der kahlen Höhe droben sich so sonderbar ausnimmt, reich befenstert wie eine Sternwarte, massiv wie eine Zitadelle, und wo auf einen Tag und eine Nacht die reisenden Sonnenanbeter sich zusammenfinden, wichtig tun, und sich gegenseitig langweilen.
Die Bewohner dieser ungeheuren und prunkvollen Karawanserei zählten peinvoll die Minuten oben in ihren Zimmern oder streckten sich gähnend auf den Divans der mitten im Sommer geheizten, feuchtwarmen Lesesäle. Anstatt auf das verheissene Schauspiel am Abendhimmel, blickten sie auf die draussen umher wirbelnden weissen Schneestäubchen und auf die soeben auf der Freitreppe angezündeten monumentalen Kandelaber, deren dicke Scheiben unter den heftigen Windstössen erzitterten.
So hoch hinaufzuklettern, aus den vier Himmelsrichtungen herbeizuströmen, um dies zu sehen… O Baedeker!…
Plötzlich tauchte etwas aus dem Nebel auf und näherte sich unter klirrendem Getön dem Hotel. Die eigentümlichen Bewegungen rührten wohl von der sonderbaren Bepackung des heran keuchenden Wesens her.“

Vielleicht ist es falsch, dieses Buch heraufzubeschwören. Denn darin regnet es fast ununterbrochen. Und höher oben, wie auf Rigi Kulm, schneit es eben. Scheussliches Wetter, null Aussicht auf die Berge (und den Sommer): Das gab es offenbar schon anno dazumal. Jammern nützt nichts. Nur fliehen – in den Süden. Deshalb suchen wir heute Freitag die Sonne in der Stube und im Garten des neu eröffneten Kurhauses Cademario hoch oberhalb des Lago di Lugano, und wir werden wettermässig sicherlich besser empfangen als das sonderbare keuchende Wesen, das sich da zu Beginn des Romans durch den Schneesturm über die Freitreppe zum Eingang des Berghotels kämpft. Es ist Tartarin aus Tarascon, einer Kleinstadt in der sonnenverwöhnten Provence. Im zweiten Band der Tartarin-Trilogie schickt Alphonse Daudet seinen grossartig-grossmäuligen Helden auf eine Reise durch die (Schweizer) Alpen, von der Rigi über die Jungfrau bis fast auf den Mont Blanc.

Einen neuen Auftritt hat Tartarin im eben erschienenen Buch zu literarischen Wanderungen in der Zentralschweiz, zusammen mit Mark Twain, der in „Bummel durch Europa“ ebenso herzerfrischend heiter und böse zugleich über die Rigitouristen herzieht. Barbara Piatti, Germanistin und Forschungsgruppenleiterin an der ETH Zürich, hat an den beiden Rigistürmern ihre helle Freude und widmet ihnen ein ganzes Kapitel. Insgesamt 14 Wanderungen zwischen Zug und Gotthard, Luzern und Klausen verknüpft sie mit mehr als doppelt so vielen Schriftstellern, bekannten wie Meinrad Inglin und Max Frisch, unbekannten wie Isabelle Kaiser und Lisa Elsässer. Und das auf sehr gekonnte Art und Weise, so dass es ebenso viel Freude macht, Piatti zu lesen wie ihre auserwählten Autoren. Natürlich möchte nach dem Lesen eines Kapitels gleich die entsprechende Wanderung unternehmen, um das Gelesene auf Schritt und Tritt vertieft zu erleben. Aber weil dies zurzeit nur schlecht möglich ist, lesen wir das nächste Kapitel im Buch – und gleich noch all die wunderbaren Werke, die da vorgestellt werden.

Der Titel des sonnig illustrierten Lese-Wander-Buches von Barbara Piatti ist dem vielleicht berühmtesten Werk entnommen, das in der Zentralschweiz spielt. Es ist dies ein 1804 uraufgeführtes Schauspiel um den helvetischen Nationalhelden, und es beginnt mit dem Lied eines Fischerknaben:

„Es lächelt der See, er ladet zum Bade.“

Schön wär’s.

Barbara Piatti: Es lächelt der See. Literarische Wanderungen in der Zentralschweiz. Luzern – Vierwaldstättersee – Gotthard. Rotpunktverlag, Zürich 2013, Fr. 45.- Auf www.rotpunktverlag.ch sind die Veranstaltungen mit Barbara Piatti aufgelistet.
Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen. Die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten. AS Verlag, Zürich 2011, Fr. 29.80.

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