MeteoSchweiz: „Die Druckverteilung über Mitteleuropa ist ausgesprochen flach…“ …und die Prognose offenbar eine ziemliche Kaffeesatzleserei. Zu unserem Bergtermin Anfang Juli war die Druckverteilung eher tief und mit eher viel Feuchtigkeit in der Atmosphäre, was uns zu pass kam, mussten wir uns doch keine Blösse geben, wenn wir das Ziel reduzierten.
Denn was wir in den Monaten vor dem Bergtermin hochtrabend zusammengeplant hatten, flösste uns nun auf einmal Respekt ein. Zu wenig waren wir im Hochgebirge gewesen, wussten ja kaum noch, was uns dort erwarten würde. Verunsichert waren wir daher, wie die Meteorologen, machten aber das Beste daraus, indem wir in einen Winkel der Alpen fuhren, in dem wir beide noch nie gewesen waren. So brachte uns der Zug nach Davos und der Daumen, vom Strassenrand vorbeifahrenden Autos entgegengestreckt, am Freitagabend schliesslich auf den Flüelapass. Kurz hinter der Passhöhe liessen wir uns absetzen und stiegen noch ein Stück hinauf, um ein Eck und zu einem ebenen Wiesenflecken, nahe eines kleinen Sees. Die Rucksäcke, gross und schwer, waren voll mit allem was man für fast alle Möglichkeiten einer zweieinhalbtägige Expedition braucht, bei der es darum geht, wechselhaftem Wetter das Beste abzuringen. Tatsächlich verdichteten sich die Wolken bedrohlich dunkel während wir das Zelt aufstellten und den Kocher in Betrieb nahmen. Es reichte aber gerade noch um die Tomatensosse zu erhitzen und mit der Polenta und ein paar hundert Gramm kleingeschnittenem Gruyère zu verrühren, um pünktlich zum Donnersignal mit dem Topf voll schmackhaftem Brei im Zelt verschwinden zu können. Später schoben wir Koch- und Essgeschirr unter der Vorzeltplane in die Spülmaschine hinaus und sanken von Regentrommeln und letztem sanften Donnerrollen eingelullt, in den tiefen Schlaf, wie man ihn so manches Mal im Gebirge geniesst.
Am nächsten Morgen sah es ganz gut aus: Staffeln kleiner, wenig hoher Wolken, die nur an den höheren Gipfeln hängen blieben, zogen über den Himmel, der dazwischen und darüber harmlos blau war. So packten wir das Seil und eine Auswahl Kletterzeug in den Rucksack und wanderten in der Morgenluft über das Steiglein zur Forcla Radönt. Von hier folgten wir dem Blockgrat in Richtung Piz Radönt, bis er sich schliesslich schärfte und wir uns anseilten. Die folgende Gratkletterei war verspielt, ein Genuss pur, überall möglich, überall fest, nirgends schwierig. Wir kletterten, legten Schlingen um Zacken und übersahen dabei beinahe ein oder zwei Bohrhaken, kraxelten, balancierten, jubilierten und erreichten gegen Zehn Uhr, viel zu früh, den Gipfel.
Weiter folgten wir dem Grat nach Westen hinab bis zu einem Abbruch mit solidem Eisenring an der Kante. Ob wir denn wirklich abseilen wollten, rief ich Felix zu, der sich eben eingehängt hatte? War da nicht etwas von „auch kletterbar, 2c“ in irgendeinem Buch oder Interneteintrag gestanden? Es machte doch gerade so Spass! Felix, den ich nun erreichte, lehnte sich hinaus und schaute. „Ja, stimmt, ich kletter weiter.“ Und schon verschwand er über die Kante hinab, auf der erst nur noch die Finger seiner Hände zu sehen und dann auch verschwunden waren. „Ok wenn, wenn ich nachkomme?“, rief ich, als das nachlaufende Seil meinen Fixpunkt erreichte. Es war ok und auch ich liess mich an grossen, festen Griffen und Tritten in die steile, hellrote Gneiswand hinab. Später erreichten wir über ein Band querend die Scharte vor den Radüner Köpfen und durch eine Verschneidung, über einen Grat und den östlichen, schliesslich den westlichen dieser beiden Gipfel.
Hier war es, halb zwölf, endlich soweit, dass wir uns guten Gewissens den Köstlichkeiten aus dem Essenssack zuwenden konnten. Die Wolkenstaffeln waren lichter und die Gipfel freier geworden. Die zwei anderen, die ausser uns heute den Piz Radönt überkletterten, kamen auch herauf und stiegen nach einer Pause gegen die Grialetschhütte ab. Uns aber schien der Tag noch lange und der Grat noch nicht zu ende. So folgten wir ihm weiter nach Westen, hinab in die folgende Scharte. Von dort wieder aufwärts wurden die Gratblöcke allerdings zunehmend kleiner und bald stiegen wir nur noch über einen Schuttrücken, an dessen höchstem Punkt die vierköpfige Steinmannfamilie des Radüner Rothorns zuhause ist. Wo der Wanderweg vom Pass auf das Schwarzhorn den Grat erreicht, deponierten wir die Rucksäcke mit Seil und Klettergeraffel, banden je eine Jacke um und steckten eine Gipfelschokolade in die Tasche. Die Wolken, die sich aus den morgendlichen Staffeln vereinzelt hatten, ballten sich in der Mittagswärme allmählich wieder zu quellenden Haufen und oben sassen wir erst einen kurzen Graupelschauer aus, ehe wir das Panorama genossen und dabei weitere Touren im für uns neuen Gebirgswinkel planten.
Beim Abstieg fielen ab und zu ein paar Tropfen, wie versprengte Herden, ohne Kraft, ohne Ziel. Als wir beim Zelt ankamen, war es aber länger trocken und machte den Anschein, als wolle es sich nun gründlicher sammeln. Diese Pause im Wettergeschehen genügte indessen für das Abendessen im Freien, eine Flasche Rosé auf die Tour und einen Spaziergang um den nahen See. Erst als wir im Schlafsack lagen, brach das gründlich gesammelte Gewitter los und wusch, das hörte man, die Töpfe diese Nacht noch sauberer. Auch leckte dann irgendwann unser altes, gut gedientes Zelt ein wenig.
Der andere Morgen war verhangen, auf der Zeltplane aber überwiegend still, und begann mit einer Unentschlossenheit darüber, was wir noch tun sollten. Klettern an den Klettergärten in der Umgebung des Passes? Auf das Weisshorn jenseits des Passes steigen? Mittags mussten wir den Bus nehmen. Wir machten so lange herum, dass es für das Weisshorn irgendwann zu spät war, bauten das Zelt ab und wanderten gegen die Passstrasse. Als wir ums Eck kamen blies feuchter, kühler Wind das Tal entlang und ich spürte wie kalt der Fels sein würde, wie ungelenk in all den Jacken und Pullovern das dennoch fröstelnde Klettern. Felix war schnell überzeugt. Nahe der Strasse deponierten wir erneut und stiegen schliesslich mit Rucksäcken, die so leicht waren dass sie uns empor hoben wie geräuschlose Rotoren, den jenseitigen Hang hinauf, sprangen hinter einer Kuppe katzenhaft über die grossen Blöcke eines Kares und erreichten den Südgrat des Weisshorns, dem wir bis auf den Gratgipfel 3020 m. folgten. Der Grat war ein Turnen über granitartige Stufen, an kleinen Kanten entlang, mal ein grosser Schritt, mal ein Stemmen zwischen Blöcken, dann wieder ein kräftiger Zug.
Der Wind, mal kühl, mal feucht, war im Steigen erfrischend, die Wolken zogen hoch und knapp über den Gipfeln dahin und wir blieben den ganzen Vormittag trocken. Am Nachmittag aber reisten wir im Prättigau in eine schwarze Regenwand hinein, glücklich über ein zwischen Gewittern gelungenes Wochenende, irgendwo in einem neuen Winkel der Alpen.
p.s. Dieses Mal war Felix der Fotograph.