Ein faustgrosser Stein

Am Donnerstag gehe ich den Mastenweg! Dann wird er wieder offen sein, der kleine Steig durch die wilde Bergflanke. Mitten hinein in diese freudige Erwartung kommt am Mittwochabend die Nachricht: Confinement!

Sie werden nicht kommen können! Die, die mir am wichtigsten sind, für die wir unser Fest jetzt feiern wollten. Die Einschränkungen betreffen mich normalerweise kaum. Deshalb bin ich emotional noch nicht abgestumpft. Und deshalb kommt, obwohl ich früh raus will, der Schlaf heute lange nicht. Stattdessen wühlen die Gedanken in der Dunkelheit. Solange bis ich sie zwinge an das zu denken, was mich morgen Schönes erwartet. An den langen Aufstieg vor Sonnenaufgang im Wald, an den dünnen Pfad hoch oben zwischen den Felsen. Doch während ich ihn steige verfangen sich die Träume wieder in der Realität und an dem was nicht möglich sein wird. Warum? bohren sie und drehen sich öfter als die Wegkehren. Die Unmöglichkeit wird mir aufgezwungen, jedenfalls empfinde ich es so und brüte dumpf vor mich hin. Als meine Blicke wie zufällig den Waldboden streifen, holen Leberblümchen und Buschwindröschen mich in den Frühling zurück. Mit den Buben hier zu steigen, wäre schön. Ich schlucke und unterdrücke die Tränen. Nein, es kann nicht sein! Ich kann es nicht einsehen! Schneereste, und am Waldboden nassgeweinte, flachgedrückte, graue Blätter, wieder brütende Gedanken. Sie brodeln immer mehr, kochen hoch, und oben auf einem Felskopf brülle ich, ihr Arschlöcher, ins Tal. Dann schleudere ich einen faustgrossen Stein zu den Häusern hinab. Soll er töten. Es ist meine Wut, meine Verzweiflung. Und so entlädt sie sich. Ein beruhigender, ein in den Schlaf tragender Gedanke.

Im Aufstieg am nächsten Morgen, allein im Wald über dem Dorf, höre ich die Vögel singen und spüre meinen Körper arbeiten. Kraftvolle Ruhe. Und draussen auf dem Felskopf sehe ich gar nicht das Tal sondern die im Schnee leuchtenden Berge, spüre um mich die Sonne und ihre im Laub knisternde Wärme, die den Milan vor mir in die Weite trägt. Der faustgrosse Stein den ich in der Hand wog, sicher fünfzehn Minuten lang, dann wieder zurücklegte, besteht nur aus Mineralien die Elementverbindungen sind. Doch die Tränen, die ich weinte und die auf ihn fielen, sie trockneten in seiner Wärme, sie waren echt.

Schliesslich ziehe ich ein letztes Mal die Nase hoch:

„Emotionen sind zurückzuhalten! Vernunft ist jetzt geboten, ist die alles erlösende Macht. Geduld. Mit Steinen wirft man nicht! Was wäre auch, liessen wir Emotionen zu. Sie sind irrational, ihr Nutzen nicht nachweissbar. Zu schnell geraten sie uns ausser Kontrolle, schneller als ein Virus. Emotionen sind verboten!“

-Emotionen sind Lieder, Romane, grosses Kino, Guns and Roses.

„Die bejubelten Dramen, lassen wir sie in den Büchern! Das ist vernünftiger. Viel zu gefährlich ist so ein plötzlich aufkommender Wind. Für das tägliche Leben haben wir die Wissenschaft, die Wissen hat. So sind wir vor dem Wind geschützt, da werfen wir mit keinem Stein!“

Was ist er wirklich, mein faustgrosser Stein? Ein Meeressediment? Eine Elementverbindung? Ein kaltes Herz? Ein hartes Bruchstück meines Herzens? Ein warmes Gefühl in meiner Hand, dass meine Tränen trocknet? Er gab mir die Kraft weiterzugehen.

Irgendwann stand ich wieder auf und stieg über Wurzeln, die den Fels umfassen und sprengen zugleich,

die ihn eines Tages über dem Abgrund

…liegen lassen

Für den Wind vielleicht

Oder für meinen Schritt

Der zu wenig leicht…

Der dünne Pfad führte mich weiter hinein in die Wildnis. Fast ganz war er verschüttet vom Geröll das die winterlichen Schneerutsche unter sich mitzogen. Föhren rankten in die Sonne und Aurikel leuchteten in den Wänden.

Ob ich gebrüllt und den faustgrossen Stein geworfen habe,

den ersten oder viele oder keinen,

wieviel ich geweint habe,

was ich sage, was ich denke und was nicht,

ich behalte es für mich.

Hier oben bin ich allein,

hier oben kann ich

-ich sein.

Berge und Steine 5: Steine, die vom Himmel fallen

Die Kartierarbeit im Hochgebirge ist ernst und schön. Sie ist, an manchen Tagen weniger, an anderen mehr und an einzelnen besonders, wie ein schmaler Grat. Hoch und am Abgrund zugleich, besonders ernst und dabei ganz nah bei mir.

Einmal, im späten August, wollte ich die Gelbe Wand kartieren. Am frühen Morgen war ich hinter der Grünhornhütte auf den aperen Gletscher abgestiegen und hatte, im Zickzack auf den Eismäuerchen zwischen den Spalten gehend, den Kessel unter der Schneerus erreicht. Hier lagen unangenehm viele unangenehm grosse Eistrümmer herum und Seracs dräuten über die Gelbe Wand, funkelnd im ersten Morgenlicht. Wenig später stand ich auf Zehenspitzen am Rand des zurückgeschmolzenen Eises und erreichte mit der ausgestreckten Hand ein an den untersten Eisenstift geknotetes Seil. Der glatte Felsen ist hier bauchig. Ich hätte mich hinauf hangeln können, zögerte aber. Kein Gurt, dachte ich, kein Seil. Geht das später auch zurück? Um hinabzuspringen wäre es zu hoch. Ausserdem wäre dort, wo ich auf Zehenspitzen stand, kein guter Landeplatz für einen Sprung. Nur ein wirres Gekeile wackliger Blöcke, die einen Bergschrund, wer weiss schon wie gut, verstopfen. Nachdenklich sah ich auf den Gletscher hinab. Bald würden die Eistrümmer dort unten in die Sonne kommen. Die Seracs oben sind es schon länger. Es ist erstaunlich, dachte ich, wie still es noch immer ist…

Plötzlich kehrte ich um, hastete den Zickzack zurück und schwer atmend zur Grünhornhütte hinauf. Planänderung!

Von hier steige ich nun gegen Nordnordwest über Geröll zum Wandfuss und um das Eck in die Nordflanke des Ostgratvorbaus, wo ich über blockige Felsen dem Band des gelben Rötidolomits folge. Das Gelände ist unübersichtlich. Wandartig, dabei stark zerbrochen. Und die Geologie? Mehrere Formationen laufen gefaltet hindurch. Ich werde mich vortasten soweit es geht. Unmerklich wird dabei das Gelände wandartiger und zerbrochener. Die Felsstufen, die sich mir immer wieder in den Weg stellen, werden enger, höher und wackeln immer mehr. Immer öfter denke ich: Durchkommen wäre besser, zurück unangenehm! Und dann ist da auch wieder, ganz flüchtig erst, der Gedanke, wie peinlich es wäre, müsste man mich ausfliegen, weil ich nicht weiter- und auch nicht zurückkäme. Verletzt wäre zwar schmerzhaft, dafür entschuldbar. Und tot…

Wie oft ich abwäge, vor einem Schritt die Länge der Sturzbahn bestimme, sollte der Tritt nicht halten, und mir eine Strategie zurechtlege, wohin ich im letzten Moment zu springen versuche. Wägen, dann tun oder lassen.

Über den Tod redet man nicht, an den Tod denkt man nicht, der Tod ist ein Tabu. Und heute denke ich, der Tod ist inzwischen sogar verboten.

Mein Wägen. Ist es Todesverachtung? Ist es Glück? Ich spüre, es ist Freiheit. Der Tod, denke ich, ist eigentlich generös. Er lässt mich entscheiden. Lässt mich wägen, tun oder lassen.

Die Gedanken tragen mich zu einem etwa zehn Meter breiten Schneeband, das mich rechts hinab zum Hinteren Rötifirn bringen könnte. Vor mir ragt die Schattenwand über den halben Himmel. Hoch oben glitzern fallende Tropfen in der Sonne, die sich vom Rand, der über den Zenit läuft, lösen und im Nichts verschwinden. Eine Erosionsrinne, die von der Wand her das Schneefeld zerteilt, zerreisst bald die gerade aufgekommene Hoffnung. Gestemmt gegen die Schattenmauer gelange ich auf den Rinnengrund und müsste von dort einige Meter auf schmalen Leisten die fast senkrechte Wand zu einem Eck hin queren. Darunter bricht der Rinnengrund in einen Schlund ab, der, was er schluckt, tief unten ausspuckt und in breitem Fächer über den halben Gletscher verteilt.

Ich wäge. Im letzten Moment abzuspringen? – Nirgendwohin.

Die Sturzbahn? – Klar ist: Unten käme nur noch der Körper an.

Umkehr? – Ein unangenehmer Gedanke.

Ich setzte alles auf eine Karte und denke noch, oh shit, da macht es kurz und deutlich pffffttt, und hinter mir, auf dem Schneeband, liegt dunkel ein faustgrosser Stein. Ich konzentriere mich auf die Leisten, taste mich um das Eck und querend abwärts, bis ich wieder steilen Schnee erreiche. Er ist betonhart gefroren und während ich balancierend die Steigeisen anlege, macht es erneut pffffttt. Steinschlag? – Ist anders. Ist ein Rollen und Poltern, man schaut hinauf, sieht Steine springen, mit Glück etwas seitwärts, mit Pech direkt oberhalb und man sucht Deckung. Hier ist die Wand links und die Steine kommen rechts. Einzeln und direkt vom Himmel, gefallene Sterne. Pffffttt. Dieses Mal vorher ein längeres, leiseres fffffffffffftt… Der war wohl näher. Faustgrosse Gerölle stecken im Schnee und meine Gedanken stellen vergleichende Betrachtungen an zwischen den Härten meines Helms, des Firns, den darin steckenden Steinen und meinen darauf herumkratzenden Steigeisenspitzen, und rufen mir zu: Mach, dass du hier wegkommst!

Um vier Uhr bin ich bei der Hütte zurück. «Wo bisch gsi?», fragt mich Lisä, die Wirtin.

Ich sehe schwankende Felsstufen und sehe mich im Sternenregen stehen, lache: «I wüeschtem Gländ!»

Berge und Steine 4: Abtauchen

Als Geologe kartiere ich nicht nur das Hochgebirge. Wo keine Täler ins Gestein erodiert sind, tauche ich entlang von Bohrungen in die Tiefe. Und durchstreife dabei ganz andere Welten. Parallelwelten?

Neben dem Aufarbeiten der Beobachtungen des Sommers, beschäftigt mich derzeit fast täglich das Beschreiben von Bohrkernen aus Tiefbohrungen der nagra. Um den Schichtaufbau besser zu verstehen, führt die nationale Genossenschaft für Endlagerung rund um die drei Standortgebiete für ein mögliches Tiefenlager Kernbohrungen durch. Entlang vertikaler, bis eineinhalb Kilometer langer Linien, gewinnt sie damit eine rund zwölf Zentimeter dicke Punktinformation zu jedem Horizont. Die Bohrkerne werden in eine Lagerhalle im unteren Aaretal gebracht, wo ein paar Kollegen und ich sie uns anschauen und bestimmen. Aus der vertikalen Linie von Punktergebnissen schaffen wir ein geologisches Profil der Schichtenreihe. Wir teilen die Linie in Abschnitte und geben den Abschnitten ihre Namen. Namen, die sie dort haben, wo die Gesteine an die Oberfläche ausstreichen und wir sie aus Aufschlüssen kennen. So reisen wir, wenn wir Zentimeter für Zentimeter die Bohrkerne entlang das Gestein unter die Lupe nehmen, in die Abfolge der nacheinander ineinander sich wandelnden, wieder und wieder sich verändernden Landschaften, die einmal waren und dann nach und nach vergingen.

Stunden, tagelang bewege ich mich durch den Grund eines offenen Meeres an dem feine Kalkschlämme sich über Schwammmatten legten. Bis ich eines Tages erst kleine, grün leuchtende Glaukonite, dann in dunklen Schlieren Tone darin finde. Sie zeigen Land an, dass, da ich mich die Bohrkerne entlang nach unten arbeite, vorher einmal in der Nähe des Meeres war. Meine Arbeitsstunden in die Tiefe gehen in der Zeit zurück. Die Jahre, Jahrmillionen des tonigen Meeresgrundes mit seinen schneckenförmigen Ammoniten führen mich, Stunden später auf einen Hardgrund. Eine ehemalige krustige Oberfläche, vielleicht unter einem mesozoischen Himmel, vielleicht auch nur bei Ebbe zwischen Wellen kurz entblösst. Es ist ein Kalkstein, der sich aus Sanden entwickelte, die einmal ein Korallenriff überschütteten, bevor sie im tiefen Wasser abnahmen, wie Starkregen, der vertöpfelt, Salzwasser, das nach dem körnigen Schauer ruhiger und flacher, vielen kalkschalenbildenden Tieren Heimat wurde, ehe die Ebbe dem Sediment am Boden rhythmisch den Blick zum Himmel öffnete. Doch während meine Arbeitszeit voranschreitet, gehe ich in der Erdzeit zurück. Das mit dem Korallenriff, das vorher war, erkunden meine Hände, meine Lupe erst Tage später. Am Bohrkern, dem schönen, geschliffenen Stein, fahren sie dabei sachte entlang. Voller Muster und Farben ist er, Girlanden in Ocker, rot, weiss und braun. Und manchmal Drusen, ausgekleidet mit Kristallen.

Die Steine reden nicht, sie erzählen. Von sich, wie sie sind. Ihre Unterwasserwelten sind mir bald vertrauter als die Menschenwelt, die immer mehr hinter Masken verschwindet. In der kaum noch jemand redet. So ziehe auch ich mich zurück und bin, reise mit den Steinen durch die Erdgeschichte. Eine Erinnerung kommt mir dabei an die Zeit, in der wir noch zu zweit arbeiteten und Peter J, der um zwanzig Jahre ältere, erfahrenere Geologe, nach einer Pause, in der ich Notizen aufschrieb, so, sagte, so muss man sich das vorstellen, und mir sein Handy hinhielt. Auf dem Bildschirm sah ich das Foto einer Flusslandschaft aus der Luft. Die Wolga, fuhr er fort, irgendwo hat es Rinnen, da und dort, er zeigte auf Flussarme, aber die meisten Flächen sind die dazwischen, die mit den tonigen Überflutungssedimenten. Nur in den wenigen Rinnen ist der Schilfsandstein tatsächlich ein Sandstein. So ging es immer wieder. Wir hatten beobachtet und diskutiert, ich schrieb es auf und er fand am Handy eine Bild dazu. Von irgendwo auf der Welt. Ich sah Deltas, Lagunen, tropische Strände. Auch wenn ich nun allein arbeite, kann ich tagelang, wochenlang die Meeresböden durchsteigen, mit meinen Fingerkuppen, der Lupe, Zentimeter für Zentimeter die Bohrkerne entlang. Muscheln, „storm-beds“, Strömungsanzeiger, Kalkschlämme, Wurmbauten, Untiefen im warmen, glasklar türkisblauen Wasser.

So sind diese stillen Tage auf andere Art intensiv. Früh stehe ich auf, verlasse das Haus und das Bergtal im Dunkeln und komme spät, wieder im Dunkeln, zurück, liege zuhause bald still im warmen Nest und sehe, wenn ich die Augen schliesse, vor mir die Sedimentstrukturen des Tages. Die dunklen Peloide in den hellgelben Kalksteinen, die schlierigen Sandfahnen, die den Opalinuston durchwehen. Zwischen den verschwundenen Landschaften der Erdgeschichte und meinem traumumsponnenen Bett, sitze ich jeweils ein paar Stunden in Zügen durch die Städte, durch eine graue, sich in sich zurückziehende Welt, die, wie die alten Landschaften, langsam verschwindet. Kaum noch wahrnehmbare Menschen…

Berge und Steine 3: Sandwald

Wenn ich bei der Feldarbeit durch den Bergwald oder über das baumlose Hochland streife, ist in Gedanken oft auch der ein oder andere der alten Geologen dabei. In ihren Ausführungen und Kartenskizzen habe ich vorher gelesen, sie sind meine Grundlagen.

Einmal begleitet mich P. von Schumacher, dann Felix Frey, Hans Widmer oder Friedrich Weber, Theodor Hügi oder Geoffrey Franks, der auf Englisch schrieb. Sie alle arbeiteten in einem Teilgebiet und oft am Detail. Jeder erschuf sich eine Welt und beschrieb sie in einer Monographie, die keine Zweifel zulässt. Frey, der stets versucht Heim zu widerlegen und sich so zwischen den Zeilen als Schüler Staubs verrät. Schumacher, der offensichtlich alpinistisch einiges auf dem Kasten hatte, da er es nicht lassen kann, haarsträubende Mergelbänder am Bocktschingel und Speichstock als gut zugängliche Aufschlüsse zu beschreiben und im Nebensatz als Wegabkürzungen zu loben. Immer wieder ergeht es mir gleich mit ihren wohlgeschliffenen Argumentationsketten aus schlingen- und adjektivreichen Sätzen in hundert-, zweihundert-, dreihundertseitenlangen Monographien: Draussen, am Wandfuss, am Tobelbach, bleibt es ernüchternd rätselhaft. Die Kalke, die alle geschiefert und rekristallisiert sind, oder die Granite, Gneise, Quarzite, die alle feinkörnig, hart und grünlich aussehen. In Gedanken diskutiere ich mit den Alten, verwerfe ihre Details. Ich soll ja zusammenfassen, denke ich, und steige weiter zum nächsten Aufschluss.

Dort dann wieder Rätselraten. Gedanken verfolgen mich: Wie haben die früheren Geologen das gemacht? Ihre Augen müssten doch ungefähr dasselbe gesehen haben wie meine. Ich werde den Verdacht nicht los, auch nach so vielen Jahren keine Ahnung von der Gesteinsansprache zu haben. Was konnten sie, dass ich nie gelernt hatte? Ich steige die nächste Halde hinauf und versetze mich währenddessen in meine Vorgänger. Waren sie nicht alle «nur» junge Doktoranden? Wie ich einmal? Ich denke zurück wie das war, jung und voller Forscherelan. Wie viele Hänge bin ich seitdem hinaufgestiegen? Wie viele Steine habe ich seitdem gesehen? Und wie wenig wusste ich damals? Ich erreiche den Wandfuss über dem Märenwald und blicke über die Alp Hinter Sand zur Tentiwang. Aus der eigenen Erfahrung verstehe ich meine Vorgänger besser. Jeder schuf sich aus dem Chaos seiner Beobachtungen eine eloquent formulierte Welt, um zu bestehen. Und deshalb widersprechen sie sich auch. Deshalb denke ich bei dem einen Aufschluss: ah, das hat Franks gemeint! Und beim nächsten: Widmer hatte doch das bessere Konzept! Dann diskutiere ich in Gedanken nicht mehr mit dem einen oder dem anderen, sondern lasse sie untereinander das Streitgespräch führen. Franks, der zwanzig Jahre später Widmer mit neuen Untersuchungsmethoden kommt und Widmer, der ältere, der denkt: dieser junge Spund!

Anders ist es mit Jakob Oberholzer. Er war Vorgänger auch der anderen. Seine Monographie ist stolze 626 Seiten lang. Und er hat dazu eine Karte veröffentlicht, nicht nur eine Übersichtsskizze. Oder, wie Weber, eine Karte ohne jede Beschreibung. Wenn ich bisher etwas anders kartierte als Oberholzer, dann weil ich es präzisierte. Wenn ich in einem Tobel oder irgendwo im Wald einen Aufschluss entdeckte, dann fand ich ihn so oder zumindest in der seiner Zeit entsprechenden Form auch auf der Oberholzer-Karte. Das machte Eindruck. Mit einem Lächeln nahm ich dann, tief im Erlengestrüpp, zur Kenntnis: Oberholzer war hier wohl auch! Mit Oberholzer diskutiere ich in Gedanken nie.

Kürzlich, im November, stand der Sandwald auf meinem Kartierprogramm. Zwischen der Einmündung des Limmerenbachs und der Alp Vordersand gelegen, nahm ich ihn bisher nur als Etappe beim Zustieg wahr. Auch auf der topographischen Karte wirkt der Sandwald unscheinbar. Ein einziger, gleichmässiger Hang wie er typisch für überwachsene Geröllhalden ist. Von der Kiesstrasse erscheint es im Augenwinkel ebenso: Quinten-Formation, die die darüberliegenden Wänden aufbaut, liegt in Blöcken herum.

Zunächst umkreiste ich ihn. Vom Vorderleger dem Wandfuss entlang umging ich die Sandrisi, die man kaum durchsteigen kann. Bei der Seilrichti bog ich um die Bergecke in den Schatten, in dem dünn etwas Schnee lag, und erst am Nachmittag drang ich von der Nordseite her in den eigentlichen Sandwald ein. An einem Kamm aus alter Moräne absteigend, erreichte ich den Punkt 1307 m, der eine Sackgasse ist. Die Vorstellung der Gasse ist allerdings irreführend. Es schliessen sich nicht ringsum die Häuser, man kommt hier nicht weiter, weil es ringsum hinuntergeht, der Boden wegbricht. Zehn Meter vor der äussersten Kanzel liess mich ein auffälliger Spalt zögern. Halt, läuteten Alarmglocken, das sieht wacklig aus! Nein, da stehen Bäume, mein Fliegengewicht mag es auch noch leiden. Ein Sprung. Nichts geschah. Zurück, wo der Waldboden breiter ist, malte ich auf meine Feldkarte um den Punkt 1307 die Farbe für den Nummulitenkalk. Dann drang ich südwärts vor. Der Waldboden war steil und ich musste vorsichtig gehen. Unter mir war es felsig. Auf der Oberholzer-Karte ist hier Quintenkalk eingetragen. Fast zweihundert Meter ging ich nach Süden, ehe ich absteigen und die Felsen von unten erreichen konnte.

Und da, da stimmt doch etwas nicht!

Dickbankige Sandsteine und Feinkonglomerate tauchen aus den herabgefallenen Blättern. So sieht keine Quinten-Formation aus. Ich suche weiter nach Süden und weiter unten. Überall dasselbe. Manchmal auch grobspätige Kalke. Das ist Bürgen-Formation. Abgelagert in einer viel jüngeren Zeit und in küstennahem Flachwasser, nicht im offenen Meer auf einem Aussenschelf. Für einmal ist es eindeutig.

Eindeutig ist auch: Hier war Oberholzer nicht! Ein Bann ist gebrochen. Wird auch er sich nun einreihen in den Kreis meiner Begleiter, einer zwischen Schumacher, Hügi und Franks? Wie wird es sein mit ihm zu diskutieren? Noch kann ich es mir nicht vorstellen. Ich bin gespannt und ein wenig verunsichert.

Berge und Steine 2: Der Weg auf den Tisch

Das Selbsanft-Massiv ist ein Hochplateau, kaum von Erosion zerschnitten. Eine Handvoll Wege führen hinauf, keiner davon ist leicht zu begehen. Auf jedem aber erschliesst sich der Geologische Aufbau und jeder ist ein alpinistisches Abenteuer.

Bei Dunkelheit starten wir im Tierfed. Im Dämmerlicht rauscht der Sandbach unter der Pantenbrugg. Zu dritt wollen wir aus den Schluchten auf die dreitausend Meter hohe Fläche des Selbsanft, dem Tisch aus Stein an dem sich Tödi und Hausstock gegenübersitzen. Ich kartiere, Aikko und Tobi begleiten mich, falls es Seilsicherung braucht. Für den späten Nachmittag sind Gewitter angesagt. Bis dann würden wir durch sein. Durch Schluchten, stundenlang über Felsbänder und quer über den Tisch. Noch sieht man die Sterne, die im hellblauen Morgenhimmel verblassen.

Ein Pfad führt in den Wald, der zwischen Blöcken noch erstaunlich eben ist. Erstaunlich dafür, wie bald danach das Gelände wie steil zu wie hohen Wänden ansteigt. Schon nach wenigen Kehren werden wir um ein Eck in die Schlucht des Limmerentobels gedrängt und steigen zwischen rundgewaschenen Felsen hinein in den Berg, der links und rechts derselbe ist, lediglich von einem tiefen Spalt zerrissen. Bei der Wasserfassung führt westseitig ein Band hinauf, hinaus auf einen steilen Wiesenplatz mit ein paar Birken. Über Grashalden und Stufen, stets hart geneigt, erreichen wir später, noch im Schatten des sonnigen Vormittags, den Wiesenvorsprung Luegboden, eben wie die Aussparung für eine nicht aufgestellte Säulenfigur. Durchatmend stellen wir uns hinein. Schon tausend Höhenmeter sind wir gestiegen und noch immer unten, am Eck zwischen den Schluchten.

Dreihundert Meter weiter oben queren wir unter einer hohen, gelbgrauen Felswand nach rechts. Sie sieht aus, als wäre sie für Extremkletterer ein Traum, nur von Mauerläufern bewohnt, nur von Alpendohlen umtanzt. Wo sie in einer Ausbuchtung stärker gegliedert ist, können auch wir in die Steinwelt einsteigen und, hundertfünfzig Meter höher, den Grat wieder erreichen. Über mauerhohe Stufen kletternd, zum Kartieren immer wieder seitlich querend, folgen wir dem Grat und kommen nun langsam aus den Schluchten heraus.

Unterhalb des Goldenen Horns quere ich etwas länger nach rechts, um für die Karte zu zeichnen, während die beiden in den Felsen etwas essen. Es ist schon Mittag und Wolken ziehen beängstigend rasch am Himmel auf. Erste Tropfen brechen Pause und Zeichnen ab. Wir wollen die Schlüsselstelle noch im Trockenen überwinden. Rasch steige ich ein und bin fast schon zu hoch, als mir Aikko noch das Seilende mitgibt. Von oben sichere ich nach, dann muss das Seil wieder weg, damit wir schneller sind. Als wir über eine plattige Rampe klettern, grenzwertig ohne Seil, setzt der Regen endgültig ein. Die Hände, die nur stützen, werden kalt. Wo Tropfen aufschlagen, färbt sich der Fels dunkel. Die Füsse suchen die hellen Flächen, die zwischen den dunklen immer kleiner werden, bis wir unsere Tritte dem nassen Fels anvertrauen müssen, der dann doch auch ein wenig hält. Als wir oberhalb über schuttbedeckte Platten nach links queren können, und es am Hausstock blitzt, am Tödi donnert, entdecken wir östlich unter der Scharte hinter dem Hauserhorn eine Höhle. Sie ist ausgekleidet mit fingerlangen, faustdicken Kristallen. Alle drei passen wir gut hinein.

Wieder durchatmen. Viel rascher war das schlechte Wetter gekommen. Den Tischrand haben wir zwar fast erreicht, weit ist es aber noch in die schützende Trockenheit.

Nah dagegen wäre der Gipfel des Hauserhorns, eine exponierte Spitze. Können wir sie uns erlauben? Wir lavieren herum.

«Eigentlich bin ich schon ein Gipfelsammler», sagt Tobi und trifft damit die Entscheidung, denn eigentlich sind wir anderen es auch.

Zwischen Tödi und Hausstock, über uns, ist der Himmel fast schon wieder blau, als wir dem Gipfel zusteigen. Hinter Felstürmen erreichen wir eine Scharte und bald den höchsten Punkt.

«Hört ihr das auch?» fragt Tobi. Wir lauschen in die Stille, die zwischen Hausstock und Tödi herrscht. Wir hören nichts. Aikko ist etwas unterhalb, um ein Foto zu machen, als es am eisernen Gipfelkreuz knackt wie wenn ein Grashalm zu nah am Weidezaun steht oder wie, wenn ich den Faserpelz vom Merino-Shirt ziehe. Tobi zeigt mir die Tropfen am Querbalken. Sie hängen nicht, sie stehen seitlich nach oben. «Komm» rufen wir Aikko zu, «wir steigen ab». «Eines noch», erwidert er, da sind wir schon an ihm vorbei.

Doch es bleibt ruhig zwischen Hausstock und Tödi. Nur einzelne Tropfen fallen aus dem immer noch blau erscheinenden Himmel, als wir uns auf den Weiterweg machen. Nach dem nächsten Felsaufschwung sind wir endgültig oben. Nur noch wenig ragen sie über die Fläche hinaus, der Hausstock auf der einen, der Tödi auf der anderen Seite. Wie am Wirtshaustisch sitzen die zwei sich gegenüber, diskutierend, vielleicht ihre Kräfte messend, wer weiss das so genau. Rasch wollen wir hinüber, ehe vielleicht einer in Zorn gerät und mit der Faust auf den Tisch schlägt. So lange es geht, halten wir uns lieber seitlich etwas unterhalb. Erst am Mittler Sebsanft müssen wir ganz nach oben und mitten über den Tisch hinweg, gerade als es ohne Vorwarnung zu schütten beginnt. Es strömt aus einem fahlen, fast noch hellen Himmel endlos auf uns herab, die wir schweigend, jeder für sich, stundenlang über rundgeschliffene Felsen steigen, die vor Jahrmillionen eine tropische Rifflandschaft waren. Doch nur ich sehe die Korallenstöcke. In den Mulden der Felsbuckel sammelt sich überall Wasser, dessen Oberflächen vom prasselnden Regen in zahllosen kreisrunden Fontänen explodiert. Wäre es nicht so kalt, erschiene es im Augenwinkel fast, als erwache das Riff zum Leben.

Berge und Steine 1: Blatt Tödi – ein Privileg

Lange habe ich nichts mehr von mir hören lassen. Meine Geologenarbeit und mein Buchprojekt haben mich sehr eingenommen. Mittlerweile ist das Buch erschienen und ich kartiere im Tödi-Gebiet. Warum also nicht wieder schreiben. So möchte ich hiermit eine kleine Serie beginnen, die von Bergen und Steinen erzählt.

Zuerst ein Rückblick.

Ende 2018 war für mich eine persönlich spannende Zeit. Alpinist im Geist, Draussen-Mensch im Herzen und Geologe im Handwerk, hatte ich schon einige Jahre geologisch im Gebirge kartiert und die Landeskartenblätter Buchs, Sargans und Spitzmeilen, zusammen mit einer Handvoll wesensverwandter, für den Geologischen Atlas der Schweiz durchstreift. Mitte 2018 war, vielleicht ein letztes Mal, ein Kartenblatt ausgeschrieben und könnte meine Aufgabe für weitere fünf Jahre werden. Dabei ist das in Aussicht stehende Kartenblatt Tödi, ein raues Hochgebiet schwindender Gletscher, die blanken Felsen entblössen, dem Alpinisten-Geologen wie vorbestimmt. Anfang 2019 war dann der Zuschlag da. Mit Andi und Adrian würden wir in fünf Sommern die Blätter Tödi und Flims bearbeiten. Ein wenig machte sich damals auch Sorge breit. Sind die Beine, die Knie, ist der alternde Körper dem Kopfeswunsch gewachsen? Bin ich noch Geist und Willen, bin ich noch Alpinist genug, den Bogen rund zu schliessen?

Zwei Sommer sind seitdem verstrichen. Körper und Geist arbeiten zusammen in ausgewogenem Gleichgewicht. Jetzt, Mitte November, ist es im Hinter Sand still, schattig und kalt. Die KLL hat ihre Unterhaltsarbeiten an der Fahrstrasse beendet und in der Sandrisi die Brücken abgebaut. Man kann nicht mehr fahren und selbst die Älpler, die immer noch irgendetwas zu tun haben, sind, wenn überhaupt, dann nur noch mit leichtem und leisem Gerät unterwegs. Rings um den Talschluss steige ich, oberhalb von Schutzwald und Blockhalden, den Wandfuss entlang. Sandalp Quarzporphyr nenne ich im Kopf das Gestein, dessen Wesen unter modernen Gesichtspunkten, ich auf der Spur bin. Es ist der neueste der alten Begriffe, die frühere Geologen dafür brauchten. permische Bildungen ist ein anderer. Widmer, der von Quarzporphyr und Aufarbeitungsgesteine davon spricht, deutet es an: es könnte sich auch um mehr als einen Gesteinstyp handeln. Auch ich habe diesen Eindruck und schlage immer wieder kleine Stücke vom harten Felsen ab, halte sie unter die Lupe, zweifle, steige weiter. Auf und ab. Es ist mühsam. Das Steigen im Gelände ist stets unrhythmisch. Einmal hält ein Schritt, dann gibt Geröll wieder nach oder ein nasser Ast rutscht. Wegen einer Murgang-Rinne muss ich weit ab- und wieder aufsteigen. Oder ein Erlengestrüpp durchqueren. Ich bin in meinem Element.

Auch die Mittagspause bleibt heute schattig und kalt. Weiter oben, dort wo die Sonne hinkommt, wird ihre mögliche Wärme vom Neuschnee reflektiert. Nur kalte Luft ist weit und breit und zum Glück weht kein Wind. Dort oben in der blendenden Helle stieg ich im August über brüchige Felsbänder in Hochkare, unter Serac-Zonen am Gletscherrand in ein neues, frisch freigetautes und noch unberührtes Land, oder über Grate bis zu Gipfeln, von denen man weit über den Blattrand hinaus in die Ferne sieht. Und abends sass ich auf der Hütte, vor mir die bunt bemalten Kartierblätter. Müde repetierte ich in Gedanken oft die Geologie des Tages. Und die Berggänger, die beim Nachtessen den Tisch mit mir teilten, wie oft fragten sie mich nach meiner Tätigkeit, waren erstaunt und erfreut darüber, dass man im Hochgebirge arbeiten kann.

«Kennt man die Geologie hier nicht schon?»

Doch. Aber sie ist nicht vereinheitlicht. Die über hundertjährige Geologische Karte der Glarner Alpen von Jakob Oberholzer zum Beispiel, ist meine Grundlage – oft faltete ich dann das unhandlich grosse Papier auf – und es gibt eine Handvoll Dissertationen mit speziellem Fokus für einige Teilgebiete. Aber hier zum Beispiel, bei der Fridolinshütte, steht auf der Karte von Oberholzer Paragneise und -Schiefer, bei Widmer Grünhorn-Serie und bei Franks Bifertenfirn-Formation. Was davon ist nun sinnvoll? Der Stand des Wissens muss vor Ort geprüft, vereinheitlicht und über das ganze Gebiet auskartiert werden.

«Und du steigst wirklich überall hin?»

Ich durchstreife das Gelände und schaue in jede Geländekammer mindestens hinein. Kein Fels soll mir unbekannt bleiben. Bei den ganz steilen Wänden muss natürlich der Feldstecher reichen um das, was ich an beiden Rändern, unten am Wandfuss und oben auf dem Grat, bestimme, durch die Vertikalen Bereiche miteinander zu verbinden.

An den Sommerabenden am Hüttentisch war ich in Wahrheit oft sehr müde. Jetzt aber, wo es einsam ist, würde ich gerne etwas plaudern und erzähle es mir in Gedanken beim Weitergehen.

Du kommst zwar kaum noch zum Bergsteigen, sage ich mir, ich meine, zum ganz selbstbestimmten Zweck, einer bestimmten Route oder eines bestimmten Gipfels wegen, aber sich beschweren wäre auch Jammern auf hohem Niveau. Denn in Wahrheit tauchst du tief ein in die Wildnis des Gebirges. Machst nicht nur eine Route, zielst nicht nur auf den Gipfel, sondern steigst in jede Rockfalte und versuchst mit dem Stein, den du überall bestimmst, das Substrat aus dem die Berge sind zu verstehen. Das ist ein wahnsinniges Privileg!

Ich müsste es aufschreiben, denke ich als ich nach der durchfrorenen Mittagspause weitersteige, der nächsten Felswand zu. Dann kann ich trotz der Stille mitteilen. Oder, wenn ich zu müde bin, auf einen Text verweisen. So beschloss ich vor ein paar Tagen, während ich am frühen Novemberabend das Tal des Sandbachs hinauswanderte, hier, auf bergliteratur.ch, wieder zu schreiben. Eine kleine Serie soll es werden, in der es, aus Dank der Arbeit gegenüber, die mir das tiefe Eintauchen möglich macht, ein wenig auch um das Steinfach gehen wird.

Pizol – Bilder im Wandel

Wer mit den eigenen Kindern Orte besucht, die man selbst mit Kinderaugen sah, der weiss, dass alle Veränderung auch Anfang ist. Wer seit Jahrzehnten in die Berge steigt sieht, oft voll Wehmut, wie überall die Gletscher schwinden. So hat jeder und jede seinen oder ihren Ort des Schmerzes und des Neuanfangs. Meiner liegt am Pizol.

War ich neun, zehn oder elf Jahre alt, als mich mein Grossvater mit auf die Fünf-Seen-Wanderung nahm? Ich weiss es nicht mehr. Sicher aber war es in jener Zeit, als ich schon in Karten von Bergen las, mir sehr genau ihre Höhen merkte und wusste, welche der hohen unter ihnen man auf einem Weg besteigen konnte. Um diese bat ich dann meinen Grossvater: «Können wir nicht einmal dort hinauf?».

Immer höher wollte ich, wie jedes heranwachsende Kind.

Auf der Wildseeluggen, wo  sich der Blick zum Pizol öffnet, hatten wir damals eine Pause gemacht. In meiner Bubenerinnerung umschlossen dunkle, zackige Felstürme einen Gletscher, der sich in weissen Mulden das Hochtal hinabsenkte, bis zu einem See, der uns zu Füssen lag. Seilschaften gingen über die Firnflächen auf die Höchste der Felszacken zu und neben uns machte sich eine Gruppe bereit. Ich sah Steigeisen, Pickel und Seil. Echte Bergsteiger waren es, bewundernd schaute ich zu ihnen auf. Zwischen ihnen und mir lag, wie eine unsichtbare Pforte, der Gletscher. Als wären sie Helden in einem Märchenland, schritten sie auf ihn, und über ihn höher hinaus.

Kinderaugen erscheint alles grösser. Der Pizol war für mich ein hochalpines Ziel, vielleicht für später einmal, wenn ich älter sein würde. In das Heranwachsen, das anderswo geschah, nahm ich ein Erinnerungsbild mit, das blieb. Als Jugendlicher, als Student ging ich Bergsteigen, auch richtig, mit Seil, Pickel und Steigeisen, und hatte den Pizol auch noch mit wallendem Gletscher und dunklen Felsspitzen im Hinterkopf als ich, Jahrzehnte später, zurückkehrte.

2019: Mit meinen beiden Buben, sie sind acht und zehn, planen wir eine Bergtour. Und da kommt mir der Pizol in den Sinn. Das alte Bild, erweitert um das Hörensagen. Gibt es dort nicht mittlerweile einen Steig um den Rest des Gletschers herum? Mit einigen Drahtseilen? Das fänden die beiden total spannend! Und ein neuer Höhenrekord wäre es bestimmt. Letzteres lässt sich rasch in Erfahrung bringen, ich muss sie nur fragen, sie wissen die Höhen aller Gipfel, die sie schon bestiegen haben, auf den Meter genau. Wir sind begeistert und der Plan ist gefasst.

An der Wildseeluggen spielen Wolkenreste um die Grauen Hörner. Der höchste Punkt ist der hinterste, der, an dessen Fuss der Hang, blaugrau, an einer Stelle blankes Eis zeigt.

„ Ist das der Gletscher?», fragen die Buben. Wie im Flug steigen wir über die Flächen, die mit runden Buckeln das Hochtal ansteigen und steinig, dabei rötlich, grünlich, braun, beige, gelb, grau und schwarz sind, jedenfalls alles andere als weiss, wie sie in meiner Erinnerung waren. Vor uns, über uns, zwischen den friedlich ziehenden Nebeln, steigen buntgekleidet Menschen durch die dunklen Felsen.

«Da gehen wir auch hinauf», jauchzen die Buben begeistert und klettern später voll Freude über blockige Felsstufen, hängen die Karabiner ihrer Bandschlingen in die Drahtseile, den Markierungen nach, um immer neue Ecken, zu immer nächsten Stufen.

Der neue Weg umgeht den alten Gletscher in weitem Bogen und es ist schon spät als wir den Gipfel erreichen. Um Sechzehn Uhr fährt die letzte Bahn. Ich rechne. Über den Firn des alten Gletschers wären wir schneller, auch wenn er oben recht steil ist für die weichen Kinderbergschuhe. Die beiden sind noch unsicher auf dem Firn, rutschen leicht und trauen sich nicht recht. Trotzdem biegen wir am Pizolsattel links ab und erreichen, kurz über steiles Geröll, den obersten Schnee. Hier hole ich die dreissig Meter Reepschnur, die ich für alle Fälle mitgenommen habe heraus und binde uns zur Gletscherseilschaft zusammen. Nicht unbedingt der Spalten wegen, die es wohl kaum noch hat, sondern, um die beiden von oben zu halten, sollten sie auf dem ungewohnt geneigten, ausgleitenden Grund ins Rutschen geraten. So gehen wir erst gerade, dann in einem Rechtsbogen um den ausgeaperten Teil herum, die wenigen hundert Meter das Gletscherchen hinab. Da ist es kein schmerzlicher sondern ein glücklicher Moment als ich, am Ende des Seiles gehend, die Seilschaft meiner liebsten Menschen vor mir sehe und mit ihnen zusammen den Pizolgletscher begeh, nun doch noch wie ein echter Bergsteiger.

Was werden die Kinder für Bilder mitnehmen? Sie, die den Pizol gleich besteigen konnten als sie ihn zum ersten Mal sahen? Was wird ihr Leben bringen? Welche Berge, welche Höhen im echten oder übertragenen Sinn? An einem Seelein vorbei, dass es in meiner Kindheit noch nicht gab, steigen wir hinab. Die Generationen, die aufeinander folgen, gemeinsam durch die Landschaft, die in stetem Wandel ist. Was für ein schöner Tag.

Supercouloir

Vom endlosen Schreibtisch hinweg lockte mich ein Bild aus einem Buch das ich las: Cerro Fitz Roy, Supercouloir, eine dünne Spur Eis im Grund einer fallenden Schlucht. -Es Zieht mich hinaus in den Wald. -Hinaufkämpfen, biwakieren, abseilen im Schneesturm, tagelang nicht schlafen, nicht essen, nicht… Und ich: Am Schreibtisch. Warum bin ich nicht so wild?

Draussen schien die Sonne matt, leichter Föhn. Da stand ich auf, ging zur Abstellkammer, zog Steigeisen und ein altes Eisgerät hervor, schob beides in den Rucksack und zog, schwere Schuhe an den Füssen, in den Winternachmittag hinaus. Hinter dem Dorf stapfte ich in den Wald hinauf und begann bald zu schwitzen und in den 30 Zentimeter tiefen Schnee einzubrechen.

Oberhalb von Berschis gibt es zwei steile Felsrippen im Wald, die linke trägt im unteren Teil ein Kreuz mit Gipfelbuch, die rechte bildet eine überhängende Wand zur linken hin. Zusammen schliessen sie ein Couloir ein das dreihundert Meter weiter oben von einem Fussweg gequert wird und das mich heute anzieht wie ein Sog der Freiheit. Ehemals nasser Lawinenschnee hinterliess eine dünne Spur kugeligen Eises über das ich immer schmäler steige und bald die Waden deutlich spüre, stehen bleiben muss, atmen muss, immer wieder, immer öfter, immer besser fühlt sich die kleine, immer rascher nahende Freiheit an.

Eine zweite Lawine hatte sich über einer Steilstufe in die erste gefressen und ein kleines Halbrund zum Steigen hinterlassen. Die Steigeisen knirschten im Eis, ein Vogel sang im Geäst. Meine Spur wurde steiler, schwang sich um Steilstufen, mal links mal rechts, wurde dünner und nochmal schmäler, und verlor sich auf einmal ganz zwischen Waldboden. Zwei Meter griffen die Zacken in erdige Blätter, dann hing ein Holz daran wie stollender Schnee, ich zog es ab, dann setzte die Spur wieder ein, dünn, steil, setzte wieder aus. Von oben rollten kleine Schneekugeln und von Zeit zu Zeit ein Steinchen mit einem Gämsenpfiff.

Dann bin ich, schwer atmend, am Fussweg der nicht zu sehen ist aber unter der abschliessenden Felswand, unter dem steilen Schnee nach rechts hinaus zieht. Ich weiss es. Da ist das kurze, ausgesetzte Band über das er führt, heute nur eine schräge Schneefläche zwischen dunklem, lotrechtem Stein. Jetzt ist es der Schnee der unter den Stegeisen stollt und der Stollen der Rutscht, über einer harten, ebenso schrägen älteren Schneeschicht. Vorsichtig taste ich mich die Aussicht entlang. Gerade war ich heute zu ihr aufgestiegen, direkt. Wie der Sog, wie der Wind.

Nach zwanzig Metern war ich am Ende des Bandes, zog den Rucksack ab, ass den Riegel, bückte mich, die Stegeisen auszuziehen. Vor mir stak der Eispickel im Schnee. Es fühlte sich gut an. Und ein wenig wild. Jetzt hörte ich die Autobahn. Im Bogen, den der Fussweg nimmt, stieg ich durch den Bergwald ab.

Begegnung im Calfeisental

Als Geologe im Gebirge blicke ich oft in die hintersten Winkel der Berge und begegne dabei Vierbeinigen, gefiederten oder über den Boden schlängelnden Wesen, aber selten meinesgleichen. Und noch weniger vom anderen Geschlecht. Einmal aber doch. Eine Phantasie.

Zu Erkundungszwecken fuhr ich ins Calfeisental. Von Vättis wanderte ich zu Fuss zum Stausee und stieg dann auf dünnem Steig nach Panära auf. Dort verbrachte ich einen kalten Mittag auf der Bank beim Alpkreuz. Ich sass auf einem schmalen, grünen Bug über der engen Taltiefe und war doch noch überragt von himmelhohen Wänden. Sie waren in Nebelwolken gehüllt, aus denen heraus, über die Felsen hinab, die Lawinen donnerten, während ich fror.

Den Abstieg nahm ich über den Bärenpfad. Schmalster Steig unter frischem Lärchengrün, steil, das Kraut am Boden nass. Bei St. Martin sass ich etwas abseits auf einem grossen Stein. Hier öffnet sich das Tal nach oben hin, weit wie eine Schale. St. Martin selbst ist ein Parkplatz, ein paar Häuser, ein Restaurant und eine Handvoll flanierender Alpengäste, die einen mehr, die anderen weniger in Outdoor-Kleidung angetan.

Als ich grade talauswärts aufbrach, kam auf einmal von seitlichem Pfad, den ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte, eine Frau herab und mir entgegen. An ihren dunklen Stiefeln mit fester Sohle, an den nassen Gamaschen, klebten Gräserpollen, Blütenblätter und Halmfetzten, aus dem ausgeblichenen Rucksack schaute Zaundraht hervor. Ihr dunkelblondes Haar, ebenfalls nass oder vielleicht auch länger nicht gewaschen, trug sie lose gebunden und blickte mit Augen, aus denen das Licht des blauen Himmels und das Dunkel des Bergsees leuchtete. Ich warf ihr ein scheues „Grüezi!“ zu, da kam ein scheues „Hoi“ zurück, und ihr unbeirrter, gerader Schritt trug sie fort, auf die Häuser zu. Doch dreissig oder vierzig Meter weiter, vor der Ecke um die sie gleich darauf verschwand, drehte sie sich noch einmal kurz um.

Da war ich ausnahmsweise froh um meine alten Stiefel, rundgelaufen, eine ausgerissene Öse je, bequem wie Mokassins, die Sohle ein Sicherheitsrisiko. War froh um meine geflickte, vom Dreck des Regentages bis hoch hinauf verspritzte Berghose und die alte Millet-Jacke, die um den Rucksack geknotet, diesen vor dem Regen schützen soll. Den Hammer am Gürtel, die Stifttasche mit dem von der Salzsäure gefressenen Loch schräg umgehängt, gebe ich wohl ein ähnliches Bild.

Unsere Schritte sind entschieden, ruhig und gerade, nichts ist ihnen im Weg. Landstreicher sind stolz und scheu, unsere Worte leise. Du kamst unerwartet, Älplerin, wecktest Misstrauen, das immer auch Interesse ist. Ich werde dich nicht suchen, dich auch nicht wiedersehen, doch wenn sich unsere Wege noch einmal kreuzen sollten, dabei kollidieren, dann braucht es vielleicht nur leise, vielleicht auch gar keine Worte.

Später Winterschlaf

Derzeit kommt mir der Winter vor wie ein viel zu langer Schlaf, wie ein Warten auf die Dämmerung. Vor ein paar Tagen aber war ich einmal kurz aufgestanden, bin schon mal hinaufgestiegen und habe die Nase ins Licht gesteckt.

Ich erwache kaum, es ist bereits hell, schlafe wieder ein, erwache wieder kaum, in eine in Nebel und Kälte versunkenen Welt. Gerade träumte ich noch von einer wachen Natur und von einem französischen Wort für die Tiefe der Zeit. Nun finde ich beides nicht mehr und schlafe eben wieder ein, vielleicht ist noch etwas da.

– Wieso ist der Winter jetzt so spät noch so zäh?

– Es ist die Kaltluft aus dem Osten!

– Muss das sein?

Ich will den Frühling, will ihn unbedingt, und friere mir an den kleinen Felsen im Wald hinterm Haus die Finger ab, aus Trotz. Die Griffe sind taub und der Fels atmet nicht wie sonst. Als ich einmal hinter einer Leiste in etwas Schnee greife, merke ich den Unterschied erst, als mein Blick darauf fällt. Auch die zaghaft blühenden Leberblümchen, die ich seit Januar am Waldrand beobachte, wenn ich meinen Weg zu den Felsblöcken gehe, ändern sich schon seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr. Sie verharren in Reglosigkeit. Ich aber habe doch Füsse, Beine, kann doch fort!

Also steigen wir am nächsten Vormittag zu zweit auf die sonnige Höhe. Buchserberg, der Wald birst beinahe unter dem Raureif, der sich hier, wenig unterhalb der Oberfläche des Nebelmeeres bildet, dann von den gebrochenen Lichtstrahlen getroffen herabrieselt, sich wieder neu bildet, den Waldboden mit hellen Trümmern übersät und begräbt. In der Sonne, beim Aufstieg, war schwitzende Milde, welch Freude, welch ungekanntes Wohlgefühl. Manchmal stollten sogar die Felle. Auch die leichte Unterhaltung war wieder da, über Berge und Touren und Träume. Wie erwachend warfen wir uns die Bälle darüber zu. Und oben auf dem Fulfirst, schmaler Gipfel, glänzendes Schneegebirge, war vor allem Weite, unendliches Land.

Zurück am Strand des Nebelmeers, stellten wir uns noch einmal ins Licht, schlossen die Augen und spürten die Wärme im Gesicht. Dann die Kälte einer etwas höher herauf und über uns hinwegbrandenden Welle. Kurz darauf tauchten wir wieder ab, hinein, nach unten, nach Hause, in den Schlaf. Wie lange dauert er noch?