Da ist noch eine Rechnung offen. Tausend Meter Aufstieg auf Fellen. Schaffe ich das noch?
Hüeneri, so nennen ihn die Einheimischen. Ein zahmer Skigipfel, fast lawinensicher. Aufstieg zeitweise durch lichten Wald, etwas steilere Hänge, flachere Alpgelände. Die Churfirsten, Alvier und Gonzen im Rücken. «Lieber die Schneegebirge im Rücken, als die bösen Menschen.» Sowas sagt Wilhelm Tell nach Schiller. Wäre ja ziemlich aktuell heute, aber ich schaue ohnehin nicht zurück (schon wieder ein literarisches Zitat, Ingeborg Bachmann), ich schaue vor mir auf die Spur. Vergesse Trump und Assad und Co. Meine Familie, bzw. ein Teil meiner engeren Familie, zieht in schönem Schritt voran. Steighilfen ausklappen. Andere überholen uns, sind wohl jünger. Macht nichts, kein Leistungsstress (den hatte ich letzte Nacht im Traum). Und doch: ich will diesen Hüeneri diesmal schaffen! Vor zwei Jahren, in gleicher Formation, musste mir Christa den Rucksack abnehmen, für die letzten hundert oder zweihundert Meter, die ich dann nur mit grosser Mühe überhaupt schaffte. Welche Blamage für den grossen Alpinisten! Warum, das fand auch mein Hausarzt nicht heraus. Mal auf mal ab halt. Heut will ich jedenfalls auf den Gipfel. Da oben tummeln sich schon winzige Gestalten unter dem riesigen Kreuz. Oh, das ist noch weit! Lohnt sich das überhaupt?
Nein, lohnt sich nicht. Nebel fällt ein, Schneetreiben, nach dem strahlenden Morgen. Scharfer Wind über den Grat. Ein Steinmann, eine Art Vorgipfel. Die Felle weg, dann in die bodenlose Nebeltiefe getaucht, undeutlichen Spuren nach. Hoffentlich sind wir richtig. Der Schnee ist brettig. Da oben im Steilhang hätte ein Brett abgehen können, ein bisschen Angst hatte ich in der Querung. Aber da war ja eine Spur. Doch letztes Jahr, am Vilan, da war auch eine Spur und dann ging die Lawine trotzdem ab. Fünf Tote.
So Gedanken kommen einem halt einfach. Vielleicht nicht allen, aber mir halt. Nun ja, jetzt sind wir doch schon wieder unten bei der Alp. Sandwich, heisser Tee. Dann weiter. Die Hänge weiter unten ziemlich hoprig, zerfahren, also nicht Pulver pur. Aber immerhin, es geht ganz schön. Und das Gefühl, ich hätte es diesmal ganz sicher geschafft bis auf den Gipfel, bis zum grossen Kreuz, ohne Probleme. Die offene Rechnung von vorletztem Jahr ist beglichen. Das ist auch schön. Und in Sargans gibt’s ein nettes Café mit Konditorei. Noch schöner.