Jenseits von Dracula

Von den Karpaten in den Kaukasus, im Winter und Sommer. Abenteuerliche Entdeckungsreisen, nun ohne Gefahr zwischen Buchdeckeln.

«Irina schaut mich mit einem zufriedenen Lächeln an; sie ist stolz auf sich, denn sie hat verstanden, dass ich mich mit ihrer Hilfe in diese Berge verliebt habe. Meine anhaltende Begeisterung nach einem langen Tag ist ein vielversprechendes Zeichen. Eines Tages werde ich meine Freude über diese Reise anderen Alpinisten mitteilen; dann wird Irina neue Kunden durch die Berge und Hügel ihrer geliebten Ukraine führen können. So wird es nicht mehr notwendig sein, sich in den russischen Kaukasus oder in andere, weit entfernteren Länder zu begeben. Hier ist der Schnee viel schöner, viel kälter und viel leichter. Hier in den Karpaten gibt es weite, offene Landschaften. Kein Vergleich mit den anstrengenden und gefährlichen Routen im Hochgebirge des Kaukasus. Hier in dieser Gegend ist noch Platz genug für das Abenteuer und für neue Entdeckungen.»

Resümiert der Tessiner Journalist, Buchautor, Filmemacher und Bergführer Mario Casella auf Seite 191 in seinem jüngsten Buch: „Jenseits von Dracula. Eine Winterwandung durch die Karpaten“; die Originalfassung erschien vor drei Jahren unter dem Titel „Oltre Dracula. Un cammino invernale nei Carpazi“. Mario ist DER Spezialist für Durchquerungen unbekannter Gebirge der Welt im Winter. In der Filmtrilogie „Le nevi della seta“ erzählt er Geschichten aus den Bergen am Seidenweg – aus Iran, Afghanistan, China und Kirgistan. Im Buch „Schwarz Weiss Schwarz“ (https://bergliteratur.ch/schwarz-weiss-schwarz/) schreibt er über seine historische und sportliche Recherche vom Dach Europas: die Traversierung des Kaukasus auf Ski im Frühjahr 2009. Nun war er in den Wintern 2016 und 2017 in den Karpaten unterwegs, in diesem uns fast unbekannten Gebirgskamm in Mitteleuropa, der sich von Bratislava an der Donau bis zum Eisernen Tor der Donau krümmt: ein 1500 km langer Bogen voller Gipfel, Gehölz und Geheimnissen. Mario Casella ist ihnen mit einheimischen Begleitern und Begleiterinnen nachgegangen und –gefahren, in der kältesten Jahreszeit am wilden Rand der Slowakei und Ukraine, von Polen und Rumänien, mitten in Schneestürmen, manchmal auch bei blauen Himmel und zum Glück immer wieder in einer gut geheizten Hütte. Wer „Jenseits von Dracula“ gelesen hat, wird die Karpaten, das zweitlängste Gebirge Europas, mit ganz andern Augen sehen, ohne dort gewesen zu sein. Zudem ist eine (Ski-)Reise auf die Hoverla (2061 m), den höchsten Gipfel der Ukraine, zur Zeit leider gar nicht angesagt; der Name bedeutet Schneeberg. Aber wir könnten ja auch in die Hohe Tatra fahren, zum Beispiel nach dem polnischen Zakopane; dort fand 1939 die 9. alpine Skiweltmeisterschaft statt. Im Reisegepäck haben wir neben „Jenseits von Dracula“ natürlich noch den 1897 veröffentlichten Roman „Dracula“ des irischen Schriftstellers Bram Stoker; Mario Casella hat sein Schloss besucht, auch wenn es nicht das originale ist. Das gibt es nicht mehr.

Die bayerische Autorin, Bergsportlerin, Film- und Theaterregisseurin sowie Kulturmanagerin Ana Zirner ist eine Berufskollegin von Mario Casella. Auch sie unternimmt gerne epische Touren, über die sie anschliessend berichtet. So erschien 2018 „Alpensolo. Sechzig Tage und Nächte unter freiem Himmel“ und zwei Jahre darauf „Rivertime. Allein auf dem Colorado von den Rocky Mountains bis nach Mexiko“. Nun liegt der Bericht über ihre jüngste Abenteuerreise vor: „Wilde Berge, weites Land. Von Ost nach West durch den Kaukasus“. 2021 hat sie zu Fuss, zu Pferd und manchmal auch in einem Fahrzeug den georgischen Teil des Grossen Kaukasus durchquert, alleine und auch mit FreundInnen und teilweise mit ihrem Lebenspartner. Genau genommen war sie nie ganz alleine, denn Ana war, unerwarteter Weise, in Erwartung. Die Sorgen und Freuden einer werdenden Mutter nehmen denn auch einen gewissen Teil ihrer kaukasischen Reportage ein. Die Reise durch ein unbekanntes Land und Gebirge hat so noch eine besondere Dimension angenommen. Auf Seite 191 erzählt sie, wie sie und ihr Martin bei einem langen Rückweg von einem kleinen Transporter mitgenommen werden, der über einen unwegsamen Feldweg zuckelt:

«Ich bin erleichtert, wenngleich ich bei jedem großen Ruckler das Gefühl habe, meinem Baby einen unfreiwilligen Luftsprung zu verpassen. Während wir von hier aus die Landschaft gemächlich an uns vorbeiziehen sehen, träume ich von perfekten First Lines im Tiefschnee auf den winterlich verschneiten Hängen über uns.»

Mario Casella: Jenseits von Dracula. Eine Winterwandung durch die Karpaten. AS Verlag, Zürich 2022. Fr. 32.80.

Ana Zirner: Wilde Berge, weites Land. Von Ost nach West durch den Kaukasus. Malik Verlag, München 2022. € 20,00.

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