Vielleicht zum letzten Mal auf unserem Hausberg. Vergessen, wieder in Mode gekommen, aber noch immer eine einsame Felsenwelt.
Zwei Anläufe brauchte es auch dieses Jahr, der erste endete im Regen eines unangekündigten Gewitters. Meteo Schweiz hat sich nachträglich entschuldigt. Alles wiederholt sich. Auch vor Jahren, mit Franz Hohler, mussten wir beim ersten Versuch in einem unerwarteten Gewitter umkehren. «Umkehren» heisst die Geschichte, die ihm der Mürtschen geschenkt hat.
Diesmal klappts. Steile Alpwege, die melancholische Eben der Meerenalp, der Robmen, dann Grashalden, Schutt und Schneefelder im grossen Kessel, die grasdurchsetzte Schrofenwand und die kleine Felsstufe zum Schluss. Es fliesst der Schweiss. Dann sind wir oben, auf dem Fulen oder, wie man hier sagt, dem Mittleren.
Grandiose Rundsicht, Tödi, Glärnisch, Churfirsten und das Tiefland. Kein Gipfelkreuz, welch Glück, dafür eine Art Skulptur aus Metall, ein Altar für das dicke Gipfelbuch. Ein lokaler Sanitärmonteur hat sich in dem Werk verwirklicht und auch noch die alten Gipfelbücher abgetippt, Name für Name. Einst war der Mürtschen ein Modeberg, dann geriet er in Vergessenheit. Die ersten Male, als ich hier heraufstieg, trugen sich kaum ein Dutzend Leute pro Jahr ein. Heute sind es wieder mehr, Alpinwandern ist in Mode gekommen, vielleicht dank der hochentwickelten Wanderstöcke und Trekkingschuhe und dem Ausrüstungsmarkt, der einen motiviert, das Gekaufte auch gelegentlich zu brauchen. Ein Wanderfreund hat einen Teil des Aufstiegs exzessiv mit dicken orangeroten Markierungen versehen, sehr hilfreich, aber trotzdem ärgern mich die weithin leuchtenden Wegmarken in der grandiosen Gerölllandschaft. Zum Glück ist ihm im grossen Kessel der Schnauf oder die Spraydose ausgegangen. Wäre auch die Schrofenwand am Gipfel markiert, der ganze wilde Zauber der Mürtschentour wäre dahin. Hier oben helfen einem die braven alten Steinmänner den etwas komplizierten Aufstieg zu finden. Und den Abstieg, vor dem mir stets ein bisschen der Magen flattert, weil ich daran denke, wie mir einst in solchem Schrofenglände in Israel ein Fehltritt zu einem Sturz, einem Aufenthalt im Rabin Hospital in Tel Aviv und einer Naht im Gesicht verhalf. Hier zu stürzen würde Spital und Naht erübrigen, zu tief der Abgrund. Also steigen wir konzentriert und vorsichtig ab.
«Gäbe der Mürtschen ein Buch?», fragt eine meiner Begleiterinnen.
Ein Buch vielleicht schon, aber wer würde es kaufen? Geschichten wären genug zu erzählen. Vom Dichter Ludwig Hohl vielleicht, der viele Male auf die drei Mürtschengipfel kletterte, zum Teil auf verrückten Routen, die heute niemand mehr geht. Einmal erfroren er und sein Begleiter beinahe im Biwak. Und eines Abends, nach einer Mürtschentour, schrieb er ins Tagebuch: «Ich bin doch ein Dichter!» Oder die Geschichte des Gemsjägers, der seine Sohlen mit dem Messer anritzte, damit sie auf den Felsplatten besser hafteten. Als erster Tourist soll der Geologe Arnold Escher von der Linth 1862 erstmals den Fulen bestiegen haben, vor ihm sicher die einheimischen Jäger, aber die haben keine Stimme in der Alpingeschichte.
Ein Wandersmann mit Stöcken, der uns auf einer Schutthalde entgegenstakt, behauptet, die orangeroten Markierungen hätten Sportkletterer angebracht. Allerdings ist hier weit und breit kein Sportklettergelände zu sichten, nur bizarre brüchige Felstürme, Pfeiler, Wände und Schrunde. Und Schutt, viel Schutt.
Egal, es ist vielleicht das letzte Mal, dass ich hier hochgestiegen bin. Der Mürtschen war zwanzig Jahre lang unser Hausberg, aber bald ziehen wir weiter, in ein anderes Haus und zu anderen Bergen. Wie ich mich kenne, kehre ich wohl nicht mehr zurück.
«Umkehren». Die Geschichte von Franz Hohler findet sich in seinem Buch: 52 Wanderungen. Luchterhand Verlag, 2005