Neue Bergkrimis

Bergsteigen ist gefährlich, wir wissen es. Aber dass wir im Gebirg auf Schritt und Tritt von Mördern bedroht, von Terroristen verfolgt, vergiftet oder in Abgründe gestossen werden, ist doch eher ein neueres Phänomen. Alles nur Fiktion? Vielleicht. Aber wir wissen auch, dass die Wirklichkeit bekanntlich die Fiktion überholt. Der Hillary-Step am Everest ist sicher nicht wegen dem Klimawandel oder einem Erdbeben abgebrochen. Da waren Terroristen am Werk!

„Der Felsen hatte einen leichten Überhang nach vorn, es war nicht möglich, ihn von dieser Seite zu besteigen, wenigstens nicht ohne Kletterzeug. Jennerwein trat näher und strich mit der Hand über einige spitz herausstechende Kalksteine. Er ging um den Koloss herum, dort sah er, dass er zwar nicht gerade bequem, aber doch ohne Seil und Haken hinaufklettern konnte. Der Felsen bot oben einen bequemen, ebenen Standplatz, von dem aus man einen guten Blick auf die Lichtung hatte. Ein perfekter Platz.“ (Seite 238)

Wozu?  Nur um einen guten Blick zu haben? Oder doch für mehr? Um gut schiessen zu können? Vielleicht! Jedenfalls geht es um mehr als ums blosse Hinaufkraxeln. Wobei das durchaus eine für die Geschichte entscheidende Tätigkeit ist. Das Hinunterfallen übrigens ebenfalls – wobei dies dann öfters nicht ganz freiwillig geschieht. Wie und wo auch immer: Felsen und Lichtung bei der Schroffenschneide unweit des Eibsees südwestlich von Garmisch-Partenkirchen sind sozusagen der Angelpunkt im neunten Alpenkrimi von Jörg Maurer, der Ende April 2017 erschienen ist. Genau dort passiert das Hauptverbrechen, dort werden die wichtigsten Funde gemacht, dort wachsen die süssesten Erdbeeren. Doch letztere waren nur zum Essen da.

„Im Grab schaust du nach oben“ ist Maurers jüngster Streich um Kommissar Jennerwein und seine Crew. Ein schöner, passender Titel wie derjenige, der vor Jahresfrist erschien: „Schwindelfrei ist nur der Tod“. Dreizehn (!) Bergkrimis haben sich in diesem Jahr bei mir angesammelt, ein 35 Zentimeter hoher, knapp 4500 Seiten dicker und gut 5 Kilo schwerer Stapel, dem es immer schwindliger wurde. Höchste Zeit also, diesen Berg abzutragen.

Machen wir eine Bergkrimireise, vom Bernbiet via Eibsee und Südtirol bis Apennin und Pyrenäen. In Tony Drehers „Gletschertod“ finden Christian und Daniela auf dem Gauligletscher in den östlichen Berner Alpen eine Leiche, die der Gletscher freigegeben hat. Ein bisher unbekanntes Opfer des Absturzes der amerikanischen Dakota im November 1946? Journalist Mike Honegger beginnt zu recherchieren – und könnte plötzlich selbst ein Opfer werden. Nicht unbedingt in den Bergen, sterben ist ja auch im Flachland möglich. Eine spannende fiktive Fortsetzung des realen Crash des Flugzeuges, dessen Trümmer mit der Zeit und dem Gletscherrückgang Stück für Stück zum Vorschein kommen. Aber aufgepasst: „Klettern war nicht ungefährlich.“ (S. 37)

Skifahren auch nicht. Tom Winter, Sicherheitschef einer Bank und Hauptheld in Peter Becks „Korrosion“, überlebt den Abgang eines Schneebrettes im Skigebiet Riederalp nur knapp. So beginnt der Thriller, mit dem Sturz in eine Gletscherspalte am Titlis endet er. Dazwischen spielen die Berge keine Rolle, ausser in ein paar Szenen bei bröckeligen Vulkanen auf den Azoren und in den Nuba-Bergen im Süden des Sudan. Kein Buch für zarte Wanderer und Seelen. Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Tom und Kerstin: „Ihre Groβmutter wollte, dass ihre Asche auf dem Titlis verstreut wird.“ – „Scheiβe.“ – „Keine Angst, es hat eine Seilbahn.“ – „Der Berg macht mir nichts aus.“ (S. 127)

Dem fünffachen Sieger des Ski-Gesamt-Weltcups, Marc Girardelli, auch nicht. Seiner Co-Autorin im Skikrimi „Abfahrt in den Tod“ wahrscheinlich schon eher, jedenfalls wenn sie am Start des Lauberhorn- oder des Hahnenkamm-Abfahrtlaufes stünde. Dort werden Anschläge auf den Wengener Skirennläufer Marc Gassmann verübt, die Ex-Freundin und Polizistin Andrea Brunner soll ihn beschützen. Hansi Hinterseer, Ex-Slalomkünstler und Immer-noch-Schlagersänger, gratuliert im Grusswort mit „Hub ab, Marc“ zum „wirklich gelungenen Werk“. Ich muss gestehen, dass ich die Rennen lieber im TV sehe als im Buch lese. Auch wenn Karl Erb, Bernhard Russi und Matthias Hüppi kaum solche Kommentare abschossen: „Wie eine Kanonenkugel – geballte neunzig Kilogramm Lebendgewicht – flog er nun zum Österreicher-Loch vor.“ (S. 16)

Soweit fliegen wir (noch) nicht. Zwischenlandung in den Allgäuer Alpen, am Himmelhorn mit seinem berühmt-berüchtigten Rädlergrat. Landen kann man am senkrechten Grasgrat natürlich nicht, oder dann nur ganz unten, nach dem Fall. Genau dort liegen drei tote Alpinisten – um Gottes Willen, warum stürzten sie ab? Unfall? Anschlag? In „Himmelhorn“ (2016), dem zehnten Kluftiger-Fall der Kultkrimi-Reihe von Volker Klüpfel und Michael Kobr, steht das Bergsteigen im Mittelpunkt des Geschehens. Nicht zufällig heisst ein Hund, der gerne Landjäger frisst, Messner. Nicht zufällig zieren Pickel und Seil das Cover. Der Showdown findet am Himmelhorn statt, obwohl Klufti von diesem Gipfel gar nicht begeistert ist: „Ich kann das eh nicht nachvollziehen, dass es immer noch genügend Deppen gibt, die auf derart steilen Bergen rumkraxeln. Das ist anstrengend, saugefährlich, und wenn du oben bist, musst du den gleichen Weg auch noch zurück. Und das Schlimmste: An so einem Gipfel kannst du noch nicht mal einkehren. Dabei gibt es so schöne Bergbahnen bei uns im Allgäu, mit Restaurants und befestigten Wegen und einem Parkplatz direkt an der Talstation.“ (S. 71)

Das ist es! Exakt in einem solchen Gasthaus bei der Seilbahnbergstation in den Berchtesgadener Alpen sind „Die Toten von der Falkneralm. Mein erster Fall“ von Miroslav Nemec untergebracht. Bekannt als Kommissar Ivo Batic aus dem Münchner „Tatort“ schildert der Autor in seinem ersten Krimi ein buchstäblich mörderisches Wochenende und spielt so den klassischen Fall um Realität und Fiktion elegant durch – hoch oben auf dem Berg, von dem niemand runter kommt, weil die Seilbahn streikt. Und als sie am Schluss endlich wieder fährt, sagt die Lilli: „Der Berg ruft.“ (S. 236)

Und das Allgäu ruft uns zurück, bigotsch noamol! Dabei ruft es laut zurück, mit „Das stille Gift“ von Nicola Förg. Ein unappetitliches Voralpenleben, darin die Kommissarinnen Irmi Mangold und Kathi Reindl diesmal wühlen müssen. Das Schicksal meint es nicht gut mit dem Bauern Schwaiger: Sein behinderter Sohn kommt ums Leben, die Kühe verenden an einer rätselhaften Krankheit, eine nach der andern. Ist der Abwasserkanal schuld, oder nicht eher doch die Agrarmafia? Mächtige Gegner für das Ermittlungsduo. Ein Alpenkrimi, der unter die Haut geht. Und zu Beginn geht der Dreck auf die Haut, beim Touristenpaar, das das „Bschütte“ aus nächster Nähe erlebt: „Das war ein tätlicher Angriff. Ich hätte tot sein können.“ – „Ja, an dem Gestank, den du ausdünstet, kann man tatsächlich sterben.“ (S. 17)

Bleiben wir trotzdem. Allerdings nicht im Allgäu, sondern etwas weiter östlich im Werdenfelser Land, mit dem Zentrum Garmisch-Partenkirchen. Dort also, wo Jörg Maurers unbedingt zu lesenden Alpenkrimis um Kommissar Jennerwein Crew spielen. Im achten Band mit dem bergliterarisch abgrundtiefen Titel „Schwindelfrei ist nur der Tod“ hält dieser nicht nur am Fels Ernte, sondern auch in einem Heissluftballon. Mehr noch: Wegen eines familiären Geheimnisses droht Jennerweins Existenz wie ein Ballon zu platzen. Auch anderen Figuren droht(e) Unheil: „Ich – oder Professor Held. Einer von beiden sollte den Lehrstuhl bekommen. Die ganze Abteilung machte eine Wanderung. Eine Bergwanderung. Ich habe ihn gestoβen. Aber mehr aus Scherz. Es war ein Unfall.“ (S. 363)

Unfall oder Verbrechen? Könnte beides auf der Wanderung durch die Bletterbachschlucht passieren. Der Grand Canyon Südtirols entstand vor rund 15‘000 Jahren, ist 8 Kilometer lang, 400 Meter tief. Und Schauplatz eines abscheulichen Verbrechens. In „Der Tod so kalt“ von Luca D’Andrea kommen drei junge Einheimische 1985 von der Wanderung durch die Schlucht nicht zurück – schliesslich findet ein Suchtrupp ihre Leichen. Den Täter vermutet man im Bekanntenkreis, doch das Dorf hüllt sich in kaltes Schweigen. Dreissig Jahre später beginnt der US-Amerikaner Jeremiah Salinger, der seiner Frau in ihre Heimat gefolgt ist, unangenehme Fragen zu stellen: den Leuten im Dorf – und uns Lesern. Schon bald wird er seine Neugier bereuen. Ein Atem und Schlaf raubender Thriller. Nur: „Die Berge kümmern sich nicht um dich.“ (S. 87)

Tun sie auch nicht anderswo. Den Lärchen von St. Gertraud im Ultental im Südtirol dürfte es egal sein, dass eines Morgens an ihrem Fuss die Leiche eines Mädchens gefunden wird. Nicht so dem einheimischen Commissario Grauner und seinem neapolitanischen Amtskollegen Saltapeppe: In ihrem zweiten Fall nach „Der Tote am Gletscher“ (bergliteratur.ch berichtete darüber) haben sie es in „Die Stille der Lärchen“ wieder mit schweigsamen Dorfbewohnern und eher redseligen Zugezogenen und Touristen zu tun. Auch mit den Schriftstücken ehemaliger Gäste, denn im Ultener Mitterbad kurten einst Sisi, Bismarck, Kafka, Thomas Mann und andere Berühmtheiten. Heute ist das Kurbad verfallen. Um in die Ruine zu gelangen, ist Klettergeschick von den Ermittlern gefragt: „Sie lieβen Seil, Gurt und Karabiner am Fuβe des Baumstammes liegen. Silvia Tappeiner kletterte voran, mit wenigen Griffen und Schritten war sie am Fenster angelangt. Grauner kämpfte sich hinterher.“ (S. 276)

Dass das Leben kein Schleck, sondern eher ein Kampf ist: Das weiss Cesare bestens. Er wohnt in einem piemontesischen Tal unweit der Grenze zu Frankreich. Als sein Kollege Fausto, mit dem er Jahrelang Flüchtlinge von Italien über die Berge ins Nachbarsland geschleust hat, ermordet aufgefunden wird, gilt er sofort als Hauptverdächtiger. Was folgt, ist eine altbewährte Krimikonstellation: Der Verdächtige muss auf eigene Faust ermitteln und kommt der Wahrheit plötzlich gefährlich nahe. Aber das ist in Davide Longos preisgekröntem Roman „Der Steingänger“ nur ein Erzählstrang. Andere sind beispielsweise Landschaft und Leben in einer halbverlassenen Alpengegend: „Der Pfad führte weiter bergauf, vorbei an Mauern, die die Leute im Tal hochgezogen hatten, um dem Wald ein Stück Land zu entreiβen. Seit sich keiner mehr um die Terrassen kümmerte, wuchsen darauf wilde Brombeeren und Brennnesseln.“ (S. 17)

Das Leben in den Bergen gleicht eben manchmal einem Überleben. Wer will schon kümmerliche Terrassenflächen beackern? „Trübe Aussichten“! So lautet der deutsche Titel des Krimis von Francesco Guccini und Loriano Macchiavelli. Der italienische scheint nicht viel heller: „La pioggia fa sul serio“ – der Regen meint es erst. Folge des Dauerregens: ein Erdrutsch. Beim Aufräumen wird die Leiche des Geologen Antonelli gefunden: Missgeschick oder tödliche Missgunst? Marco Gherardini von der italienischen Forstpolizei klärt den Fall des Dorfes Case di Sopra im Appennino tosco-emiliano auf. „Der Apennin ist zwar nicht mit den Alpen oder den Rocky Mountains zu vergleichen, doch wie jedes Gebirge fordert er gelegentlich ein Opfer, das Leben eines Menschen, der sich in einer Anwandlung von Stolz oder Leichtsinn stärker als der Berg wähnt.“ (S. 80)

Genau das tut Perez sicher nicht. Der Delikatessenschmuggler und Lebemann Perez ist der ungeübteste Fussgänger der gesamten Côte Vermeille, also jener südfranzösischen Küste, wo die Pyrenäen steil ins Mittelmeer abfallen – oder sich aus diesem empor wuchten, um dann zwischen Frankreich und Spanien wild gezackt dem Atlantik entgegen zu streben. Yann Sola hat um den gehfaulen Privatermittler zwei Krimis verfasst – perfekte Ferienlektüre, zum Beispiel für die Auffahrtstage. Während „Gefährliche Ernte“ nur nach dem Genuss von viel Banjuls als Bergkrimi bezeichnet werden kann, ist „Tödlicher Tramontane“ durchaus bergsportlich angehaucht, so mit dem Chemin Walter Benjamin zum Torre de Querroig. Perez macht den Weg allerdings lieber mit dem Auto, mais bien-sûr! Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen ihm und seiner Mitfahrerin: „Bist du ein Krimineller?“, fragte sie frech. „Wenn man seine Geschäfte in den Bergen macht, dann stimmt doch was nicht. Ich frag ja nur…“ (S. 154)

In alphabetischer Reihenfolge:
Peter Beck: Korrosion. Emons Verlag, Köln 2017, € 12.-
Luca D’Andrea: Der Tod so kalt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, € 15.-
Tony Dreher: Gletschertod. Gmeiner Verlag, Messkrich 2017, € 13.-
Nicola Förg: Das stille Gift. Piper Verlag, München 2016, € 10.-
Marc Girardelli, Michaela Grünig: Abfahrt in den Tod. Emons Verlag, Köln 2017, € 11.-
Francesco Guccini, Loriano Macchiavelli: Trübe Aussichten. btv-Verlag, München 2016, € 10.-
Volker Klüpfel, Michael Kobr: Himmelhorn. Kluftingers neuer Fall. Droemer Verlag, München 2016, € 20.-
Lenz Koppelstädter: Die Stille der Lärchen. Ein Fall für Commissario Grauner. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, € 10.-
Davide Longo: Der Steingänger. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Rheinbeck bei Hamburg 2016, € 10.-
Jörg Maurer: Schwindelfrei ist nur der Tod; Im Grab schaust du nach oben. Fischer Scherz Verlag, Frankfurt aM 2016 bzw. 2017, je € 15.-
Miroslaw Nemec: Die Toten von der Falkneralm. Mein erster Fall. Knaus Verlag, München 2016, € 20.-
Yann Sola: Tödlicher Tramontane. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, € 10.-

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