St. Janskerk

Ein Turm ist kein Berg. Aber im flachen Land oft die einzige Möglichkeit, Höhenluft zu atmen. Im Höhenrausch auf dem roten Turm von Maastricht.

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Manchmal besteige ich Türme. Wie in diesen Tagen zum Beispiel, während denen ich den Menschen im flachen Land von den Bergen erzählen soll. Von den Bergen, die hier fehlen. In Maastricht, sagt man mir, gebe es einen Turm, der zu besteigen sei. Also fahre ich hin. Rot ragt er in den grauen Himmel, über einem Sockel aus hellem Kalk. Ich denke an die Red Rocks bei Las Vegas, auch dort bezahlt man als Kletterer Eintritt. Hier 1 Euro 50. Ich steige los, zähle die Stufen, die sich steil und eng emporwinden. Das ist so eine Manie von mir – immer Stufen zählen. Im Abstieg von der Fair Hands Line auf der Handegg, der Standseilbahn entlang, habe ich auch einmal gezählt: 2500. Das Zählen half mir auch gegen die Angst, damals, denn jene Treppe wird steil und immer steiler, fast senkrecht erscheint sie einem.
Warum zählst du? fragt mich meine Familie gelegentlich. Ich weiss es nicht. Ich zähle gegen die Angst und gegen die Monotonie, zählen schafft auch Rhythmus. Der Aufstieg wird zum Zahlentanz. Manchmal kann man die Zahl auch brauchen, die 2500 zum Beispiel nutzte ich für eine Bildlegende im Buch «Grimsel Strom», das ich mit Röbi Bösch gemacht habe. Der wahre Nutzen einer scheinbar sinnlosen Tätigkeit erschliesst sich also oft erst im Rückblick. (Diesen Satz kann man wohl auch auf das ganze Leben übertragen. Wozu sind wir hier? Was war der Sinn? Auf dem Totenbett werden wir es erkennen, sofern wir noch können.)
Aber jetzt lebe ich ja noch und steige hoch und zähle, 219. Dann stehe ich vor einer verschossenen Tür. Gesloten. Oder «chesloten», wie das die Holländer aussprechen. Eigenartigerweise das einzige holländische Wort, das ich kenne. Es verfolgt mich. Schon am Morgen, als ich das Hotel verlassen wollte, war die Tür chesloten. Ich also durch den Notausgang hinaus, was einen Alarm auslöste. Schnell machte ich mich aus dem Staub.
Und schon wieder stehe ich vor verschlossener Tür. Später kommt mir in den Sinn, dass das Wort «chesloten» wahrscheinlich von einem holländischen Vorgesetzten stammt, für den ich während der Lehrzeit arbeitete. Wim Kockelkorn, ein sehr netter Mensch. Nur, dass ich ein angefressener Kletterer war und am Montag oft ziemlich erschöpft zur Arbeit erschien, passte dem Flachländer nicht. Er ging zum Lehrlingschef und der verhängte ein Kletterverbot. Am folgenden Wochenende kletterte ich meinen ersten Sechser. Nix chesloten, Wim.
Nun will ich aber nicht auf den Meiggelenstock, sondern auf den Turm der St. Janskerk, Maastricht. Bin zwar auf der Höhe, aber draussen vor der Tür. Also hinab. 219 Stufen, das ist ja zu schaffen. Die beiden Pförtner unten erheben sich bedächtig von ihren bequemen Sesseln. Schütteln die Köpfe. Reden miteinander, ich verstehe nur «chesloten, chesloten …» Sie klimpern mit dicken Schlüsselbunden, zeigen auf den, auf jenen. Dann machen sie aus, wer hochsteigen muss. 219 Stufen. Das ist viel, viel. Der Mann steigt vor. Nach zehn Stufen erste Rast. Schnaufend gehts weiter. Ich fürchte um sein Herz, doch schliesslich erreichen wir die Tür, der Schlüssel passt.
Raus auf die Plattform, Wind im Gesicht und Blick über die Stadt, die Maas und das weite flache Land. Wo immer ich mich aufhalte, fällt mir ein, steige ich auf Türme. Zähle ich Stufen. Buch führe ich nicht. Oft ist die Zahl der Stufen auch schon unten angeschrieben, so dass man sich vorbereiten kann. Beim Wiener Stefansdom, glaube ich, oder beim Berner Münster, das wir anlässlich unserer Hochzeitsreise vor über 40 Jahren bestiegen. Eifelturm natürlich, nahmen wir da den Lift? Ich erinnere mich nicht mehr. Sicher nicht zu Fuss meisterten wir das John Hancock Building in Chicago, das Alain Robert glaube ich sogar aussen herauf free solo erkletterte. Gipfelfotos von historischem Wert besitze ich von den World Trade Towers in N.Y., die kurz darauf zu Staub zerfielen. Eigentlich könnte ich Türme sammeln, wie andere Viertausender oder Briefmarken. Die höchsten Türme aller Länder. Zu Fuss natürlich, notfalls über die Feuerleiter. Treppenstufen zählen, alles auf einer Website protokollieren. towersteps.ch. Die Liftfirma Schindler Ebikon würde vielleicht als Sponsor auftreten. Das sind so meine Gedanken im Höhenrausch auf dem roten Kirchturm von Maastricht.
Abstieg. Dem Pförtner empfehle ich, jeden Tag einmal hochzusteigen. Nur so zum Training und fürs Herz. Er schüttelt traurig den Kopf.

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