Eine zentrale Frage beim Besteigen der Berge. Und eine, die nicht immer richtig beantwortet wurde und wird. Jüngstes Beispiel: die Barre des Écrins und andere hohe Gipfel im südlichen Teil der Alpen. Offenbar standen französische Militärtopografen um Jahrzehnte, ja Jahrhunderte früher oben, als die offizielle Geschichte des Alpinismus schreibt. Eine fiktive Geschichte hat diese neue Realität gar vorweggenommen. Neue Horizonte in Sicht.
À quoi bon se précipiter, dit calmement l’équanime Almer: les Français sont arrivés les premier; nous avons tout notre temps pour parvenir au sommet les seconds.
Von wegen als Zweite auf den Gipfel kommen! Da war einer ganz anderer Meinung als der gutmütige Christian Almer, Bergführer aus Grindelwald: Edward Whymper wollte wenn möglich immer als Erster seinen Fuss auf einen noch nie betretenen Gipfel stellen. Auch an diesem 25. Juni 1864 auf die Barre des Écrins (4102 m), den südlichsten Viertausender der Alpen, höchsten Gipfel der französischen Dauphiné-Alpen, ja höchsten Punkt von Frankreich bis 1860, als Savoyen eingegliedert wurde. Ein König von einem Berg, und ausgerechnet an diesem sollte der ehrgeizige Edward nicht gewinnen? Er gewann auch, so der allgemeine Wissensstand. Ausschnitt aus Wikipedia: „Die Barre des Écrins wurde durch Adolphus Warburton Moore, Horace Walker und Edward Whymper – zusammen mit ihren Führern Christian Almer und Michel Croz – am 25. Juni 1864 über die direkte Nordwand erstmals bestiegen.“ Stimmt nimmer. Franzosen waren vorher oben. Elf Jahre früher sogar. Und nicht, wie das Einstiegszitat behauptet, am gleichen Junitag, einfach ein paar Stunden vorher. Wie das?
Im März 2015 erschien bei den Éditions Guérin in der roten Taschenbuchreihe der Bergkrimi „Écrins fatals! La première enquête de Sherlock Holmes“. Darin rollen Pierre Charmoz und Jean-Louis Lejonc auf kluge und überraschende Art anhand im abschmelzenden Gletscher gefundener Dokumente die angebliche Erstbesteigung der Barre des Écrins auf. Eines dieser Dokumente ist ein Manuskript von Sherlock Holmes, der als Vierzehnjähriger an jener Tour teilgenommen haben soll. Und der darin enthüllt, warum man von den drei französischen Alpinisten, die der bekannten Seilschaft zuvorkamen, nie etwas gehört, gelesen oder gefunden hat. Natürlich eine fiktive Geschichte, aber so plausibel erzählt, dass man sie glauben könnte. Klar, Sherlock Holmes ist der von Arthur Conan Doyle erfundene Privatdetektiv. Aber kennzeichnet nicht ein Stern an der Felswand neben dem Reichenballfall ob Meiringen die Stelle, wo Holmes am 4. Mai 1891 den Halt verlor und in die nasse Tiefe stürzte?
Allerdings: La réalité dépasse la fiction – auch bei der Barre des Écrins. Denn jüngst haben französische und italienische Forscher herausgefunden, dass dieser stolze Berg schon im Sommer 1853 erstmals bestiegen wurde, und zwar von französischen Militärtopografen. Zitat aus „Une autre histoire des Alpes: les ascensions oubliées des officiers géographes dans les Alpes du Sud“ von Olivier Joseph, Paul Billon-Grand und Eugenio Garoglio: „Lors de la campagne géodésique et cartographique des années 1851, 1852 et 1853, visant à terminer la Carte Générale de la France – dite carte de l’État-major – des officiers topographes et cartographes de l’État-major ont gravi une bonne vingtaine de sommets du massif des Écrins.“ Darunter eben den südlichsten 4000er der Alpen. Und warum wurde das erst jetzt bekannt? Weil die entsprechenden Karten und das ganze Material (Korrespondenz, Journale) sozusagen unter Verschluss im Château de Vincennes, im Archiv des Ministère de la Défense, lagen.
Auf den Tag genau konnte nicht herausgefunden werden, wann Leutnant Émile Meusnier mit seinen leider nicht namentlich genannten Helfern als Erster den Écrins-Gipfel erreichte. Was jedoch nun feststeht: Die Alpinismusgeschichte muss umgeschrieben werden – die Besteigung hoher Gipfel begann auch im südlichen Teil des Alpenbogens lange bevor die Briten das Goldene Zeitalter des Alpinismus einläuteten. Ja, mehr noch: Der Monviso (3841 m) wurde ebenfalls früher bestiegen, als man wusste, viel früher. Nochmals ein Zitat aus der epochalen Untersuchung von Olivier Joseph & Co.: „Nous avons eu la surprise de découvrir, sur les feuilles représentant le Queyras, que Bourcet et ses officiers avaient très vraisemblablement escaladé le Viso (3841 m) lors des opérations de géodésie conduites en 1750 ou 1751.“ Bisher galt der 30. August 1861 als Tag der Erstbesteigung durch William Mathews, Frederick William Jacomb, Jean-Baptiste und Michel-Auguste Croz. Sherlock Holmes hat also recht gehabt mit seiner Behauptung, dass Franzosen als erste oben angekommen seien.
PS: Im März 2015, als der Écrins-Krimi mit dem fiktiven Holmes-Text publiziert wurde, kam das Tagebuch des Holmes-Erfinders heraus, das 130 Jahre verschollen war. Im Frühjahr 1880 heuerte der Medizinstudent Arthur Conan Doyle als Schiffsarzt auf einem Walfänger an. Auf der sechsmonatigen Reise ins Polarmeer lernte er schiessen, auf Eisberge klettern – und vor allem schreiben. Das Erlebte hielt er nämlich in akkurater Schrift und mit zahlreichen Zeichnungen in einem Tagebuch fest – das Fundament eines Schriftstellers, der es mit seinen Geschichten um Sherlock Holmes zu Weltruhm bringen sollte. „Dangerous Work: Diary of an Arctic Adventure“ erschien vor drei Jahren und liegt nun vor in einer sehr gediegenen deutschen Ausgabe mit Begleitmaterial zu Autor und Werk, einem Text zur arktischen Tierwelt, ergänzt um zwei Essay und zwei Erzählungen von Arthur Conan Doyle, verpackt in einem Leinenband mit Lesebändchen im Schuber.
Pierre Charmoz, Jean-Louis Lejonc: Écrins fatals! La première enquête de Sherlock Holmes. Éditions Guérin, Chamonix 2015, Fr. 20.70.
Arthur Conan Doyle: »Heute dreimal ins Polarmeer gefallen«. Tagebuch einer arktischen Reise. Mareverlag, Hamburg 2015, Fr. 39.90.
Die Links zu den frühen Besteigungen der französischen Militärtopografen:
www.vallouise.info
www.ledauphine.com
www.pistehors.com