Einst gab’s unter den Alpinisten schräge Vögel zuhauf, etwa den Satanisten und Ausnahmekletterer Aleister Crowley. Im Zeitalter von Sponsoring, Hallenklettern und Hochglanzmagazinen sucht man sie vergeblich – obwohl es sie im Versteckten wohl noch gibt. Ein Buch über die Wilden und Wagemutigen. Für alle Frühfranzösisch- und Frühenglisch-Kundigen.
„Bennen advanced; he had made a few steps when we heard a deep, cutting sound. The snow-field split in two about fourteen or fifteen feet above us. The cleft was at first quite narrow, not more than an inch broad. An awful silence ensued; it lasted but a few seconds, and then it was broken by Bennen’s voice, ‘Wir sind alle verloren.’”
Am 28. Februar 1864 passierte das erste tödliche Lawinenunglück, das sich während einer winterlichen Hochtour ereignete. Philipp Gosset, sein Freund Louis Boissonnet, der Führer Johann Joseph Benet (vor allem in der englischen Literatur wird er fälschlicherweise Bennen genannt; Erstbesteiger des Weisshorns und Fasterstbesteiger des Matterhorns) sowie die drei lokalen Führer und Träger Auguste Bevard, Jean Joseph Nance und Frédéric Rebot wollen den stolzen Haut de Cry (2969 m) im Unterwallis besteigen. Wenig unterhalb des Gipfels müssen sie ein triebschneegefülltes Couloir queren. Was dann passierte, schildert Gosset im ersten Band des „Alpine Journal“ von 1863/64; sein „Narrative of the Fatal Accident on the Haut-de-Cry, Canton Valais“ findet später Eingang in John Tyndalls Klassiker „Hours of Exercise“, in Emil Zsigmondys Standardwerk „Die Gefahren der Alpen“ sowie in Edward Whympers „Scrambles amongst the Alps“. Höchst eindrücklich, wie Gosset diesen Lawinenunfall schildert: das Losbrechen des Schneebrettes, das Versinken in den Schneemassen, die Rettung. Das kann man nur so anschaulich und präzise beschreiben, wenn man drin war – und wieder draussen. Und wenn man schreiben kann. Für Benet und Boissonnet kam die Hilfe zu spät; sie konnten nur noch tot aus dem Lawinenkegel geholt werden.
Nun taucht dieses berühmte Bergunglück in einem modernen Bergbuch wieder auf, darin auch der Haut de Cry besucht wird – zum Glück im Sommer. Whympers Buch inklusive Gossets Bericht bildeten sozusagen den roten Faden – die rote Lawinenschnur! – des Projektes VVV am Master Arts Visuels der Haute école d’art et de design von Genf bzw. der Publikation „Bold climbers. Histoires et expériences d’alpinistes hardis/Experience and aesthetics on the mountain slopes“ mit Jelena Martinović als Hauptbergführerin. Bold heisst keck, kühn, mutig, schwungvoll, frech, gewagt und verwegen, aber auch schroff, abschüssig, steil abfallend. Perfekt passend also für Whymper & Co. Und ebenfalls für Aleister Crowley, einen der schrägsten Alpinisten, besser bekannt als Okkultist und Satanist. Aber er war eben wirklich auch ein bold climber, so am senkrechten Kreidefelsen Beachy Head in Südostengland. In Mexico bestieg Crowley unter dem Pseudonym Chevalier O’Rourke unter anderen Vulkanen den Iztaccíhuatl (5230 m), dessen Gipfelformation mit einer schlafenden Frau assoziiert wird. Der „Mexican Herold“ betitelte 1901 den Bericht über die Besteigung mit „Bold Alpine Climber. Chevalier O’Rourke Succeeds in Attaining Ixtaccihuatl’s Summit“.
Jelena Martinović nennt ihren Beitrag „Aleister Crowley and the white lady“. Maxime Guitton hört sich die „alpine arias in the films of Daniel Schmid“ an. Vincent Barras macht am Monte Rosa und anderswo doppelsinnig auf „(s)peak flow“. Merel van Tilburg betrachtet mit den Kunstkritikern Alois Riegl und Clement Greenberg „Ruhe & Fernsicht. The prospect of a painting“. Und in der Mitte des keck gelayouteten Buches leuchten ein paar kühne Bilder und Collagen; bei derjenigen zur „Deutschen Schule“ verunsichern weder Heckmair noch Messner, dafür Gaston Rébuffat. Doch eins war dieses Urgestein französischer Kletterästhetik ganz bestimmt: ein bold climber.
Jelena Martinović: Bold Climbers. Mit Beiträgen von Jelena Martinović, Maxime Guitton, Vincent Barras und Merel van Tilburg (französisch und englisch). Published by Cordyceps Press, Lausanne 2016. Distribution by Oraibi Books, Genève; oraibi.books@gmail.com. Fr. 35.-