Abschied vom Hausberg

Bei Nacht und ohne Nebel auf den Üetliberg. Ein Abschied ohne Tränen.

«Wenn du auf den Gipfel eines Berges kommst, klettere weiter!» So soll eine Zen-Weisheit lauten. Wir sind auf dem Gipfel und es ist Nacht. Wie weiter? Ah, da ist ja ein Turm, ein Dreibein aus Stahl, dreissig Meter, 176 Stufen. Gezählt und leicht befunden. Oben bläst uns die Bise um die Ohren, es ist kalt. Unter uns die Welt. Zürich im Lichterglanz. Den Landjäger und das Bürli verzehren wir dann vorn auf dem Aussichtspunkt, etwas im Windschatten. Es ist ein Abschied. Abschied von einem Hausberg, nach nur drei Jahren. Warum? Es gibt viele Antworten. Wie viele Hausberge haben wir schon hinter uns gelassen? Bachtel, Battert, Glärnisch, Monte Morello, Mürtschenstock, Battleship Edge, Wild Iowa und nun ist’s der Üetliberg.
Der Aufstieg war nicht einfach, Direttissima in der Nacht, der Grat glitschig und trügerisch. Hier bin ich hundertmal nachts ausgerutscht, allerdings nur literarisch, in einer neuen Geschichte. Nun erstmals real, was sich etwas anders anfühlt. Am Bildschirm klettert sich’s leicht. Der Bäcker Felix Denzler hatte es schwerer, buckelte vor über hundert Jahren frühmorgens frische Brötchen für die feinen Hotelgäste auf den Kulm. Viertausend Mal, heisst es, 913 Stufen sind es. Geschichten, die der Berg schrieb.
Ich erzähle meinem Begleiter auch von Friedrich von Dürler, dem Tödipionier, der am 8. März 1840 am Üetliberg zu Tode stürzte. Ein bisschen angesäuselt wohl, im Übermut eine Holzschleife hinab und über einen Felsen, nach einem Trinkgelage im neu eröffneten Restaurant von Herrn Beyel. Der ist natürlich auch schon lange tot, nun regiert ein Herr Fry auf dem Berg, der nun nicht mehr fry ist, sondern in den Klauen des Investors, der einst ein Hüterbub auf Bündner Bergen war. Selbst der Turm gehört dem Herrn Fry, doch der Aufstieg ist wenigstens kostenlos.
Ich verzichte auf das Bier, das mir mein freundlicher Begleiter offeriert, im Gedenken an den Junker Dürler und seine «eingestürzte Hirnschale», mit der er unter einem Felsen lag, bewacht von seinem treuen Hündchen. Sein Denkmal steht am Weg zur ewigen Warnung vor den Gefahren des Bergs. Trotzdem nehmen wir den Abstieg durch den gesperrten Föhreneggweg. Wo Weg war, hängt jetzt das Geländer über dem bodenlosen Abgrund, einer Lehmhalde. Auch der Üetliberg stürzt in sich zusammen, langsam aber sicher, so wie schliesslich alle Berge.

Fotos: Michael Wiederstein

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