Auf den Spuren der Literatur

Wahre Fundgruben: zwei literarische Wanderführer und eine literaturgeografische Karte.

«Der Montblanc gegen uns über schien der höchste, die Eisgebirge des Wallis und des Oberlandes folgten, zuletzt schlossen niedere Berge des Kantons Bern. Gegen Abend war an einem Platze das Nebelmeer unbegrenzt, zur Linken in der weitesten Ferne zeigten sich sodann die Gebirge von Solothurn, näher die von Neuchâtel, gleich vor uns einige niedere Gipfel des Jura, unter uns lagen einige Häuser von Vaulion, dahin die Dent gehört und daher sie den Namen hat. Gegen Abend schließt die Franche-Comté mit flachstreichenden waldigen Bergen den ganzen Horizont, wovon ein einziger ganz in der Ferne gegen Nordwest sich unterschied. Grad ab war ein schöner Anblick. Hier ist die Spitze, die diesem Gipfel den Namen eines Zahns gibt. Er geht steil und eher etwas einwärts hinunter, in der Tiefe schließt ein kleines Fichtenthal an mit schönen Grasplätzen, gleich drüber liegt das Tal, Vallorbe genannt, wo man die Orbe aus dem Felsen kommen sieht und rückwärts zum kleinen See ihren unterirdischen Lauf in Gedanken verfolgen kann. Das Städtchen Vallorbe liegt auch in diesem Tal. Ungern schieden wir.»

Wir auch. Die Aussicht von der Dent de Vaulion (1483 m) im Waadtländer Jura hat es in sich. Und wenn man noch solches Wetterglück hat wie Johann Wolfgang von Goethe am 25. Oktober 1779, darf man sich „von“ nennen… Die Besteigung notierte Goethe am 27. Oktober in Genf; sie ist enthalten in „Briefe aus der Schweiz 1779“. Digital zum Beispiel hier: www.promenade-belle-epoque.ch/de/panneaux/13/. Sowie im neuen Literaturwanderbuch „Lignes de crêtes. Promenades littéraires en montagne“. Darin werden zwanzig meistens längere Tageswanderungen vorgestellt: zehn im Wallis, drei in den Freiburger und Waadtländer Alpen, je zwei im Jura romand und im Graubünden sowie je eine am Genfersee, im Berner Oberland und im Urnerland. Neben den wandertouristischen Infos gibt es pro Tour mehrere längere (französischsprachige) Ausschnitte aus einem literarischen Text, versehen mit kurzen biografischen Angaben. Dazu kommen Kasten mit geomorphologischen Informationen. Die manchmal mystischen Fotos stammen von Olga Cafiero; die Legenden verschwanden leider irgendwie zwischen den Zeilen. Aber das Buch ist ja vor allem eine Anthologie. Und zum Mitnehmen ohnehin etwas zu schwer; ganz sicher jedenfalls nicht auf die knapp zehnstündige Wanderung von La Brévine auf den Creux-du-Van, wobei der Abstieg von dort oben nicht weiter angegeben wird. Dabei müssen auch die fleissigsten Literaturwanderer einmal vom Höhepunkt scheiden. Von Bücher ebenfalls – aber nur ungern.

Gottfried Keller, James Joyce und Thomas Mann: Kennen wir, bestimmt auch gelesen – oder wenigstens angelesen (Joyce). Aber wissen wir auch, dass diese berühmten Schriftsteller in Zürich gestorben sind? Ida Bindschedler und Kurt Guggenheim: Sie teilen das Schicksal der Erstgenannten, nur gingen sie (literarisch) vergessen. Peter Stamm, Charles Lewinsky und Petra Ivanov: Sie leben alle hoffentlich noch lange – und ihre Bücher spielen (grössten)teils in und um Zürich. Acht von zwanzig SchriftstellerInnen, deren Leben und Werke wir in „Auf den Spuren der Literatur. Poetische Wanderungen in und rund um Zürich“ kennen lernen. Unterhaltsame und einfühlsame Wanderungen und Texte, die auch den Wunsch wecken, mal wieder Else Lasker-Schüler oder Robert Walser, mal überhaupt Mascha Kaléko oder Viola Rohner zu lesen. Zwei Kritikpunkte: Ein Zürcher Literaturwanderbuch ohne den berühmten Autor, der immer wieder Stadt und Land zu Fuss durchstreift und darüber geschrieben hat? Max Frisch, 1911 in Zürich geboren, 1991 ebenda gestorben – geht natürlich nicht! Und: Auf den doppelseitigen Karten im fein illustrierten Buch hätte man die wichtigsten persönlichen und literarischen Schauplätze einzeichnen sollen.

Solches macht eine neue Website „Guida letteraria della Svizzera italiana“ https://map.geo.ti.ch/s/fgvF. Seite öffnen, Karte vergrössern und ein blaues Quadrat mit Anführungszeichen an einem bestimmten Ort anklicken (klappt manchmal nicht auf Anhieb, und auch noch nicht immer). Zum Beispiel mitten im Dorf Berzona im Valle Onsernone. Da ist er, der Max Frisch. Ausschnitt aus „Diario della coscienza 1966-1971“, der 1974 publizierten Übersetzung seines berühmten Tagebuches: „Chiunque venga dalle città dice subito: Che aria! – poi, con una certa apprensione – E che silenzio! Il terreno è ripido: terrazze coi solidi muretti a secco, castagni, un fico che ha la vita dura, giungla di more, due grossi noci, cardi ecc. Bisogna guardarsi dai serpenti. Quando Alfred Andersch, che abita qui ormai da anni, attirò la nostra attenzione sul piccolo podere, l’edificio era diroccato, una vecchia casa di contadini dalle spesse mura e con una stalla a forma di torre che ora si chiama Studio, il tutto ricoperto di granito.” Mit einem weiteren Klick können Benützer sehen, wo das Buch zu finden und auszuleihen ist. Viel Freude beim Lesen und Wandern!

Florence Gaillard, Daniel Maggetti, Stéphane Pétermann (Textauswahl und Wanderungen) Jonathan Bussard, Emmanuel Reynard (Texte zur Geomorphologie), Olga Cafiero (Fotos): Lignes de crêtes. Promenades littéraires en montagne. Les Éditions Noir sur Blanc, Lausanne 2021, Fr. 35.-

Ursula Kohler: Auf den Spuren der Literatur. Poetische Wanderungen in und rund um Zürich. Mit Katinka Ruffieux, Christian Baertschi, Chiara Kohler und Jonas Günstensperger. Werd & Weber Verlag, Thun/Gwatt 2021. Fr. 39.-

Guida letteraria della Svizzera italiana: https://map.geo.ti.ch/s/fgvF

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