Das Buch der mystischen Orte

Der Eugen weiss, wo sich das Pilgern zwischen Hallstättersee und Mont Bégo besonders lohnt. Indirekt mit dabei: Pfarrer Martin Nil von Grindelwald.

«Hoch oben, zwischen Piz Curvèr und Piz Toissa, liegt die in katholischen Landen Graubündens berühmte Wallfahrtskirche Ziteil, nach der Sage auf den besondern Wunsch der heiligen Jungfrau hier erbaut. Diese hatte ihren Wunsch einem Hirten geoffenbart und die Baustelle durch drei Blutstropfen bezeichnet. Der Bau wurde begonnen, aber etwas zu weit unten. Hier hatte das Baumaterial keine Ruhe. An einem schönen Morgen fand man es an die bezeichnete Stelle hinaufgerückt und baute dann auch dort. Auch für Nichtkatholiken ist es der Mühe wert, einmal da hinauf zu pilgern.»

Empfiehlt der berühmte Schweizer Kartograf und Reliefbauer Eduard Imhof im 32. „Jahrbuch des Schweizer Alpenclub“ von 1896. Der ebenso berühmte Buchautor und Klettersteigpapst Eugen E. Hüsler schlägt eine Pilgerfahrt nach Ziteil, dem „höchstgelegenen Wallfahrtsort der Ostalpen“, im „Buch der mystischen Orte in den Alpen“ vor. Bei Hüsler aber soll „eine weiβ gekleidete Frau, deren Gesicht durch einen Schleier verhüllt war, zweimal einem kleinen Mädchen, ein paar Tage später dann einem Hirtenjungen, auf Ziteil erschienen sein“. Und zwar mit der gleichen, strengen Botschaft, dass die Leute im Oberhalbstein nicht noch mehr sündigen und die Feldfrüchte verdorren lassen sollen, sonst werde Gott Strafe üben. Eine göttliche Mahnung gegen Food Waste? Wie auch immer: Die Pilgerfahrt nach Ziteil (2427 m) oberhalb von Savognin lohnt sich; im Winter vielleicht noch mehr als im Sommer, weil man dann vom bahnerschlossenen Piz Martegnas auf die Alp Foppa (2001 m) runterkurven kann. Die im Buch nicht berücksichtigte Wallfahrt auf die Rocciamelone (3558 m) mit der höchstgelegenen Kapelle in den Alpen kann im Übrigen ebenfalls nur empfohlen werden.

Hüslers 240 starkes Werk heisst im Untertitel „Von sagenhaften Bergen, verwunschenen Seen und magischen Höhlen“; es stellt insgesamt 100 mystische Orte vor, immer mit Bild, saftigem Text und einem Wandertipp. Für Liechtenstein und die Schweiz hat Eugen 23 Plätze und Gegenden ausgewählt, von den Drei Schwestern über das Martinsloch und Tells Sprung bis zu Blüemlisalp, Matterhorn und Schloss Chillon. Mit dabei auch das berühmteste Gipfeltrio der Alpen.

Und genau dorthin lohnt es sich jetzt (und bis zum 29. März) zu pilgern. Denn im Grindelwald Museum ist die Sonderausstellung „Pfarrer mit Pinsel und Kamera. Martins Nils Grindelwald“ zu sehen. Dieser Martin Nil (1887–1949), Nachfolger des berühmten Gottfried Strasser, war wie dieser weit mehr als nur der Diener Gottes im Gletscherdorf. Er war Alpinist und Fussballspieler, Fotograf und Aquarellist. Das neben der Kirche liegende Museum würdigt Nils weitgefächertes Schaffen in einem hellen Raum in zweiten Stock: schwarzweisse Fotos der Berner Alpen und der Bewohner Grindelwalds, selbst kolorierte Blumenbilder, lichtdurchflutete Aquarelle von Wetterhorn und Eiger, das erste Hüttenbuch der Mittellegihütte (Nil hielt die Bergpredigt am 12. Oktober 1924 bei der Einweihung und steuerte das Frontispitz bei), feine Anekdoten. Darunter der Film über den Pfaffensprung. 1939 hatte Nil am Sonnenhang ob Grindelwald ein Vorsass erwerben können und baute das Ertschfeld in ein Ferienhaus um. Auch nach der Eröffnung der nahe daran vorbeiführenden First-Sesselbahn 1946/47 stieg er lieber zu Fuss in sein Heimetli auf. Einmal aber sprang er zwischen Ertschfeld und Mittelstation Bort vom Lift – die Stelle heisst seither Pfaffensprung. Wenn wir mutiger gewesen wären, als wir jeweils mit Emanuel Balsiger, dem Enkel von Martin Nil, im Ertschfeld unvergessliche Skitourentage verbrachten, dann hätten wir den Sprung auch mal versucht.

Eugen E. Hüsler: Das Buch der mystischen Orte in den Alpen. Von sagenhaften Bergen, verwunschenen Seen und magischen Höhlen. Frederking & Thaler, München 2019, Fr. 42.-

Pfarrer mit Pinsel und Kamera. Martins Nils Grindelwald. Grindelwald Museum, in der Wintersaison bis 29. März 2020, in der Sommersaison bis in der Herbst 2020. Täglich offen ausser Montag und Samstag von 15 bis 18 Uhr.

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