Di Schnell

Jede Route hat ihre Geschichte, jeder Kletterer, jede Kletterin erlebt sie anders. Es sind nicht die Griffe und Tritte, die zählen. Es sind die Menschen.

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Gestern wieder mal geschafft. «Di Schnell» auf der Galerie ist immer eine Herausforderung – für mich. In neuen Topos ist sie wohl zu recht höher eingestuft als einst: 6c. An der Schlüsselstelle hoch oben gibt’s nichts zu mogeln. Man schafft sie oder schafft sie nicht. Kein Hängen und Hangeln hilft, der letzte Haken will erklettert sein. Und seit der zweitletzte einen halben Meter tiefer gebohrt worden ist, kann man auch schöne Flüge machen. Meine Geschichte beginnt an dieser Stelle, ein kühler Sonntag war’s, viel Volk am Werk. Freunde, Freundinnen, man trifft sie heute nur noch selten hier. Also da hing ich zum ersten Mal und schaffte die Stelle nicht. Eine Express blieb hängen, ich am Boden. Am Boden zerstört. Corinne hatte Erbarmen, kletterte die Route und rettet mein Equipment. Sie war damals gerade im Glarnerland tätig als Lateinlehrerin unserer Tochter. Eine der stärksten Kletterinnen der Szene, hatte einen schweren Kletterunfall im Donautal überlebt.

Manchmal treffe ich sie im Kraftraum, wir plaudern ein bisschen. Corinne trainiert auf dem Laufband für Marathon. Zwischendurch war sie auch mal Airobic-Meisterin. Klettern? Ja, mit ihrem Adoptivsohn in der Halle, sagt sie. Ihr Ehemann ist vor einigen Jahren verstorben, allein zieht sie die zwei adoptierten Kinder auf. Eine kleine, starke, mutige Frau. Vielleicht erwähne ich auch manchmal Die Schnelle und den geretteten Express. Oder wie wir sie einst in San Diego besuchten, nach einer Kletterreise durch die USA, und am Sandstrand vor ihrer Wohnsiedlung im Atlantik badeten,

«Sieht man dich auch wieder mal auf der Galerie?», frage ich. Vielleicht, ja. Dann geht sie nicht zum Laufband, sondern zu einer Stange, macht Aufzüge. Bevor ich gehe, lacht sie mir zu: «Ich schaff noch ein paar.»

Also dann, Wiedersehen. Wie wär’s mit Der Schnellen? Die schafft Corinne bestimmt noch.

(Foto aus dem Jahrbuch SAC 1988. Artikel von Hanspeter Sigrist und Corinne Stutz: Die Rolle der Frau im Bergsteigen und Klettern.)

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