Durch und durch Simplon

Auf zum Simplon! Dies ist nicht nur eine Buchbesprechung, es ist eine Liebeserklärung an ein Buch, einen Pass und … na ja. An eine unvergessliche Skitour. Die Gegend um den Pass an der Grenze verströmt offensichtlich einen ganz besonderen Zauber. Es gibt Leute, die ihre Asche über dem Simplon verstreuen lassen – zum Beispiel der Landesverräter Jean-Louis Jeanmaire.

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„In der Abendsonne glänzt die Westflanke des Mä­derhorns hoffnungsvoll und unwiderstehlich. Muss das ein Traum sein, dort runter­zu­fahren, 950 steile, direkte Höhenmeter hinunter an den seit alters her wichtigen Verkehrsweg Frankreich-Italien! Ob die Schneeverhältnisse wohl sicher genug sind? Wir beten in der Nacht dafür. Sie ist klar und kalt. Am Morgen haben wir es nicht eilig. Die Westflanke liegt lange im Schatten. Ja, man könnte mit dem 10-Uhr-Postauto ankommen und dann gleich Felle auf- und losziehen. Aber eine Nacht auf dem schweizerischen Alpenhauptkamm sorgt für die richtige Einstimmung wie das Läuten der Kirchenglocken vor dem Feierabend.

In steilen Hängen folgen Eva und ich der guten Spur gegen den Chaltwasserpass. Die Aussicht weitet sich, die Spitzen von Dom und Weiss­horn schieben sich am Horizont hervor. Kein Strassenlärm dringt von unten hier he­rauf, bloss das Geräusch, wenn wir die Ski über den Schnee ziehen. Zuletzt noch ein Grat, dann sind wir auf dem Mäderhorn, dessen höchster Punkt sich ein paar Meter oberhalb der Mäderlücke (2887m) befindet. Handschlag, Gipfelmüntschi, Abfahrtsvorbereitungen.

Vorsichtig rutschen wir über den abschüssigen Westgrat an den Rand der Westflanke, die mit einem 350 Meter hohen, durchschnittlich 35 Grad steilen Couloir beginnt. Der Schnee scheint zu halten. Der erste Schwung. Dann noch einer. Dann zehn. Der Schnee ist nicht ganz leicht zu fahren, aber sicher. Bogen um Bogen tauchen wir in den Abgrund. Wir halten nur an, um nach Luft zu schnappen. Weiter unten gibt es kein Halten mehr. Zweieinhalb Stunden Aufstieg, eine halbe Stunde Abfahrt. Aber was für 30 Minuten! Wir zischen durch die paar Zentimeter Sulz. Neben der Lawi­nengalerie der Simplonstrasse en­det der Rausch. Wir steigen aus den Bindungen, überqueren die Passstrasse, halten den Daumen raus. Das erste Auto hält. Es ist ein Oberwalliser Skitourenfahrer. Wohin er geht, wollen wir wissen. An die Karfreitags-Prozession auf Ski, die etwa in einer Viertelstunde beim Hospiz beginnen würde. Ob wir mitkommen dürften? Aber gewiss, ist seine Antwort. So kommen wir zur zweiten Skitour am ersten vollen Tag unseres österlichen Urlaubs auf dem Simplon. Und zu einer Skitour, wie wir sie noch nie gemacht haben.

Schweigend ziehen etwa 250 Leute in Viererkolonnen vom altehrwürdigen Simplon Hospiz, das die Mönche des Augustinerordens führen, zu dem mit einem Kreuz versehenen Felsblock unterhalb des Nordgrates des Hübschhorns. Fast alle Teilnehmer schieben Tourenski über den Schnee, einige stapfen auch zu Fuss hoch. Alter und Ausrüstung erstrecken sich über drei Generationen. In der Mitte trägt abwechselnd eine Person aus dem Publikum das Holzkreuz, das jeweils in den Schnee gesteckt wird, wenn sich die Prozession um eine (vorgestellte) Kreuzweg-Station versammelt. Teilnehmer und der Prior halten auf Deutsch und Französisch Ansprachen, die ein eisiger Wind verweht. Die halbrunde Nordwestwand des Hübschhorns bildet eine offene Kathedrale aus Fels und Firn, über der sich ein blauer Himmel wölbt.

Warm leuchten abends die Hänge über der Simplonstrasse. Viele Spuren kreuz und quer oberhalb des Hospiz‘, ein paar gleichmässige am Mäderhorn.“

Lang ist es her, und unvergesslich. Und nun halte ich ein neues Buch über den Simplon in der Hand, das ebenso ungewöhnlich ist wie dieser Karfreitagsskitag. Der italienische Alpinist und Alpin-Instruktor Enrico Serino, der als Käser in Simplon Dorf arbeitete, hat unterstützt von seiner Lebenspartnerin Monika Holzegger, die den Stockalperturm in Gondo als Hotel führte, ein ganz spezielles Werk geschrieben, gezeichnet, fotografiert und gestaltet. Ein Werk, das einerseits als Führer für 63 unterschiedliche, zum Teil bisher unveröffentlichte Touren auf Gras und Schnee, in Fels und Eis, auf Wegen und Strassen daherkommt. Und das andererseits diese Touren, ihre Gegend und Leute mit originellen Zeichnungen, mit eigenen und fremden Geschichten, mit Interviews und Erinnerungen zu Wort kommen lässt.

Ein passendes Buch für Gott- und Sonnenanbeter, Wanderer und Bewunderer, Klettersteig- und Hochtourengeher, Fels- und Eiskletterer, Ski- und Schneeschuhtouristen, Spaziergänger und Sofaleser, Hotelgeniesser und Bergseebadende. Ein bergsportliches, naturkundliches und geschichtliches Rezeptbuch mit dem schönen Titel „Durch und durch Simplon“. Denn man muss ja nicht über den Pass…

Enrico Serino: Durch und durch Simplon. 63 erzählte Bergtouren in 4 Jahreszeiten. Holz-Egg Verlag 2013, Fr. 38.-
Attraverso il Sempione. Sentieri, roccia, neve, ghiaccio, MonteRosa Edizioni, Gignese 2013, € 25.90. www.holzegger.ch, www.monterosaedizioni.it

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