Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie

Sechs Kilo Buch im A3-Format, ein Prachtsband über das historische Hotel Glacier du Rhône in Gletsch, heute fern allen Gletschern, und die Dynastie der Hoteliers Seiler mit ihrem Doyen Alexander Seiler, „Gastfreund der Hochalpinisten“.

„Diese Gegend, die von Furka und Grimsel eingeschlossen ist, heisst das Gletsch und übertrifft an Öde und Traurigkeit alles, was wir bisher noch sahen.“

Welche ein Kontrast! In jeder Hinsicht. Zum Beispiel bei Grösse, Gewicht und Preis. Das Reclambändchen mit den Berggedichten, das ich als letztes Buch der Woche vorstellte, wiegt und kostet fast nichts. Und jetzt dieser querformatige Prachtsband im Format A3, mit dem stabilen Schuber sechs Kilo schwer, 448 Seiten und 5 Zentimeter dick, zahlreiche ganz-, ja doppelseitige Abbildungen, farbig selbstverständlich, wenn es das Original erfordert, grosszügig gelayoutet mit viel leerem Raum: Solche Opulenz hat natürlich ihren Preis. Aber so ein Buch erstehen wir ja nicht alle Tage. Im Rucksack hat es ohnehin keinen Platz. Im Büchergestell übrigens auch schlecht.

Welch ein Kontrast! Links auf einer weissen Seite der Satz des deutschen Philosophen Georg Friedrich Hegel, den er 1796 in sein „Tagebuch der Reise in die Berner Oberalpen“ zur traurigen Öde von Gletsch notierte, und rechts auf einer schwarzen Seite nur zwei Wörter: „Gletsch einst“. Gletsch zuoberst im Walliser Haupttal. Ein Säule mit der Jahreszahl 1818 steht dort. Heute blicken wir uns in Gletsch vergeblich nach einem Gletscher um – er ist verschwunden. Wir müssen lange gehen, bis wir ihn finden. Gut zwei Stunden schweisstreibenden Steigens in grasigen Halden und glücklichen Gehens auf einem Weglein durch Gletscherschliffbuckel, bis wir auf eine Schulter gelangen, wo wir endlich das scheinbar ewige Eis entdecken: den Rhonegletscher. Aber nicht nur das Eis sehen wir, sondern auch einen See; einen neuen See, der grösser wird, weil sich der schmelzende Gletscher immer weiter zurückzieht. Das Wasser staut sich hinter einem natürlichen Granitwall, auf der Oberfläche treiben Eisberge.

Welch ein Kontrast zu früher. Als der Rhonegletscher mächtig und prächtig noch in den Talboden hinabfloss und ein Schauspiel bot, dem sich Künstler und Touristen nicht entziehen konnten. Auch Hegel nicht: Diese gebirgige Landschaft war einfach nicht sein Ding, viel besser gefiel es ihm in Tschugg am Jolimont im Berner Seeland, wo er als Hauslehrer der Familie von Steiger arbeitete und die vergletscherten Berge nur am fernen Horizont leuchten sah – vielleicht. Galenstock, Furka- und Gärstenhörner sind halt keine jolis monts, keine hübschen Berge. Ganz klein ist der Mensch an ihrem Fuss, an ihrem Gletscher. Und so haben die Maler und Fotografen die Szenerie auch festgehalten. Ihre Werke sind nun im Prachtsband „Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie“ zu bestaunen.

Welch ein Kontrast zwischen der Wildnis draussen und der Wohnlichkeit drinnen, im Hotel Glacier du Rhône, wie Franz und Alexander Seiler ihr Hotel nannten, das sie anstelle der Zeiterschen Herberge errichten, welche ab den 1830er Jahren bestand. Eine kluge Investition, denn 1865 und 1895 wurden die Passstrassen über die Grimsel und die Furka gebaut, und so logierte man im Seilerschen Hotel im Schnittpunkt zweier Reisewege und in Sichtweite des Rhonegletschers. Nachfahre Mark Andreas Seiler zeigt nun, wie das Familienhotel aussah, wie man darin arbeitete und lebte, bevor man es 1984 schloss – die Reisenden mussten nicht mehr übernachten, der Gletscher war nimmer da und die Sommersaison einfach zu kurz. Doch dank des Buches können wir sozusagen immer noch durch das Hotel Glacier du Rhône spazieren. Das Buch beschränkt sich indes nicht auf das Hotel in Gletsch, sondern porträtiert ebenso die andern Hotels (das Monte Rosa in Zermatt beispielsweise, das Ermitage in Küsnacht am Zürichsee), und zeigt, wer dahinter stand: Alexander Seiler am Anfang, der „Gastfreund der Hochalpinisten“. Dabei wir das Seilersche Menü üppig angerichtet, mit Speisekarten und Prospekten, Fotos und Plakaten, Zeichnungen und Zeitungsausschnitten, Erinnerungen und Analysen, Fragen und Antworten. Und Zitaten. Im ersten Band des Romans „Die Tochter des Diplomaten“ von Philipp Galen aus dem Jahre 1867 lesen wir:

„Dicht am Gletscher und Eisgewölbe der Rhone steht das gastliche Haus des Herrn Seiler, zu dem wir jetzt gehen, um uns an einer Tasse heissen Kaffees zu erwärmen.“

Mark Andreas Seiler: Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie. Horizonte einer Walliser Hoteliersdynastie. Mit einer Vorwort von Pascal Couchepin. Rotten Verlag, Visp 2011, Fr. 179.-

Ein Gedanke zu „Ein Gletscher – ein Hotel – eine Familie

  1. Das vorliegende Buch möchte ich sehr gern allen Freunden schöner Bücher, vor allem über die grandiose Bergwelt der Schweiz in den letzten beiden Jahrhunderten, weiterempfehlen.
    Aus meiner Sicht ist das Buch inhaltlich – vor allem mit unwiederbringlichen Fotos aus 150 Jahren Hotelbetrieb – in den verschiedenen Häusern der Hoteliersfamilie Seiler eine lohnenswerte Anschaffung. Dieses Buch mit wunderschönen Fotos der Schweizer Bergwelt und interessanten historischen Plakaten, Hotelbeschreibungen etc. ist sehr informativ geschrieben und gibt einen tiefen Einblick in das Schaffen einer Familie aus dem Wallis, vergleichbar nur mit der ebenfalls aus dem Wallis stammenden Hoteldynastie Ritz.
    Es ist interessant zu lesen, wie Cäsar Ritz und Alexander Seiler d. Ältere in ihren jungen Jahren Ziegenhirten waren und als ihr Lebenswerk jeweils eine der bekannten Hoteldynastien begründet haben.
    Allein wegen der Fotografien in bester Wiedergabequalität und der gesamten Aufmachung einschließlich des Schubers ist der Kaufpreis des Buches mehr als angemessen.

    Hanns Timm
    Dipl.-Ing. Architekt
    Photograph
    Simferopol/ Krim und Lviv/ Ukraina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert