Der Schweizer Alpen-Club bezeichnet sich heute als Sportverband – noch vor wenigen Jahren ein Sakrileg, denn man strebte ja nicht nur in die Höhe sondern nach «Höherem». Und findet sich heute in den Niederungen vereint mit Fifa und IOC. Doch die Geschichte ist unerbittlich, wie das besprochene Buch darstellt. Bald wird wohl auch Ueli Steck nach einem Speed einem Dopingtest unterzogen.
„Sind Sie Spörtler?“
„Nein, ich bin Bergsteiger.“
Auf diese Kurzformal brachte der Luzerner Lehrer, Alpinist und Höhlenforscher Hugo Nünlist 1945 den Gegensatz zwischen Bergsteigen und Sport – einen Gegensatz allerdings nach der damaligen noch vorherrschenden Meinung des Schweizer Alpen-Club. Die Unterscheidung zwischen Bergsteigen und Sport geht auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück, als die Engländer planmässig die Gipfel der Alpen eroberten. Für sie waren die Berge „the Playground of Europe“, wie Leslie Stephen sein 1871 erstmals aufgelegtes Werk betitelte. Der Erstbesteiger des Biesch- und Schreckhorns schrieb: „climbing is a pleasure to me“. Sein Landsmann Albert Frederick Mummery sprach vom „mountaineering as unmixed play“. Und Edward Whymper, der Erstbesteiger des Matterhorns, schrieb im Vorwort seines Klassikers „Scrambles amongst the Alps“, diese seien „holiday excursions“ gewesen: „They are spoken of as sport, and nothing more.“
Bergsteigen = Sport? Und nicht mehr? Für viele SACler war das Bergsteigen mehr als Sport, wenn es denn überhaupt Sport war. Beispiel Carl Egger, Ehrenmitglied des SAC, in seinem Beitrag „Wandlungen der Bergsteigerpsyche 1863–1938“ im Jubiläumsband der SAC-Zeitschrift „Die Alpen“ zum 75jährigen Bestehen des Vereins: „Wo früher der angehende Bergsteiger sich langsam vom Leichten zum Schwierigeren einübte und vor gewissen Standardtouren ein Gefühl der Hochachtung aufbrachte, da beginnt heute der Anfänger ohne Respekt vor Gefahren und ohne Hemmungen gerade mit den berühmtesten Routen, erklärt sie für leicht und wenig interessant. Das Sensationsbedürfnis muss schon auf anderem Wege gestillt werden, und da kommt nun der moderne Klettersport mit dem Sichmessen an der Schwierigkeit, mit ihrer Graduierung und mit Überlisten von Überhängen mittels Flaschenzug und Mauerhaken wie gerufen – nur dass diese Art von Akrobatik nichts mehr mit Bergsteigen zu tun hat und ebensogut in einem Steinbruch oder an einer Hausfassade ausgeübt werden kann.“
Tempi passati zum Glück. Der damalige Zentralpräsident Frank-Urs Müller positionierte in einem Interview in den „Alpen“ im Jahre 2009 den Club ganz klar: „Wir sind primär ein Bergsportverband.“ Und so stört sich der SAC heute sicher auch nicht daran, dass im Buch „Ein Lauf durch die Zeit. Sportgeschichte – eine Einführung“ der Alpinismus auch mitmacht. Nicht an vorderster Stelle zwar, aber der Bergsport ist dabei, im Text und mit Bildern, so zum Beispiel mit demjenigen der fünf Alpinisten, die 1895 auf einem riesigen Gletschertisch des Rhonegletschers stehen bzw. hocken. Wie akrobatisch das Emporkommen auf den Felsen war, sieht man leider nicht…
Im Buch „Ein Lauf durch die Zeit“ geht es um Sport als kulturelles und historisches Phänomen, um Sport als Kult von Olympia bis zur Fankurve, um Ausgrenzung und Einbindung von Menschen durch Sport, um Sport und Politik, um Sport und Wirtschaft unter dem Titel „Vom Cheeseburger zum Sportmenü“. Die Einführung in die Sportgeschichte findet am Beispiel des Laufens statt – in den Minuten, in denen ich diesen Text schreibe, läuft die Schweizer Leichtathletin Selina Büchel an den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro über 800 Meter. In vier Jahren werden endlich auch die Bergsteiger an einer Olympiade teilnehmen dürfen: In Tokio 2020 steht erstmals Sportklettern auf dem Programm, neben Karate, Skateboarding, Surfen und Baseball/Softball. Das hat am 3. August 2016 das Internationale Olympischen Komitee bei seiner Sitzung in Rio bekannt gegeben.
Darauf wollen wir anstossen. Mit Robert Eggimann, der 1938 in der SAC-Zeitschrift festhielt: „Das moderne Bergsteigen – ein Cocktail in verschiedenen Farben, eine Mischung aus Ungleichem, weil man heute Bergsteigen mit Akrobatik vermischt und Klettern mit Fassadenklettern verwechselt, weil man eine Besteigung für einen Einbruchdiebstahl hält – das moderne Bergsteigen lässt uns dem Bergsteigen der Anfänge nachtrauern, dem gesunden Getränk, klar, natürlich und einfarbig, wie der reine und goldene Wein aus Aigle oder Yvorne.“
Thomas Notz, Dominique Fankhauser, Eric Jeisy, Walter Mengisen: Ein Lauf durch die Zeit. Sportgeschichte – eine Einführung. hep Verlag, Bern 2016, Fr. 42.-