Glück und Unglück im Gebirge. Was für die meisten eine kurze und schnell vergessene Pressenotiz, beschäftigt die Angehörigen ein Leben lang. Oft sind es erst die Enkel, die sich für das Schicksal ihrer Vorfahren interessieren. Ein Glücksfall, wenn sie auf Aufzeichnungen wie die besprochenen zurückgreifen können. Glück, wenn auch oft im Unglück.
A LA PIEUSE
MEMOIRE DE
GASTON SAPIN
DE ROSSENS
TOMBÉ LE 18 AOÛT 1945
Eine Totentafel am Gipfelkreuz des Vanil Noir (2389 m). Ich fotografierte sie am 21. September 2010 bei der Überschreitung des höchsten Berges der Freiburger Alpen. Nicht die einzige solche Tafel. Bereits beim Aufstieg zur Cabane de Bounavaux hängt eine ganz besondere, weil sie nicht allein ein „pieuse mémoire“, ein frommes Andenken an den Verstorbenen sein will, sondern die Unfallschuld den Verunfallten zuschiebt und den Betrachtern gleichsam eine Warnung mit auf den Weg gibt: „Ballade imprudente LIONNEL + OLIVIER Le 3 juin 2001“. Oberhalb der Hütte eine ähnliche Inschrift: „Ici Xavier t’invite à la prudence, ne l’oublie pas. 14.7.1990.“ Und so geht es weiter, eine Tafel auf dem Col de la Bounavalette, eine am kettengesicherten Südflankenweg. Unter derjenigen für Gaston Sapin ist eine Tafel angeschraubt für den bedauernswerten Antoine Robert, „FOUDRAYÉ LE DIMANCHE 28 JUILLET 1946 AU SOMMET DU VANIL NOIR.“
Gut drei Wochen bevor Antoine vom Blitz erschlagen wurde, hatte man Gaston endlich gefunden, nach monatelangen Suchaktionen. Am 18. August 1945 war er nicht nach Rossens zurückgekehrt. Die Hüttenwirtin der Cabane de Bounavaux hatte sein Vorbeigehen in ihrem Journal noch notiert. Dann kein Lebenszeichen mehr. Der Vater kam, zuerst alleine, am nächsten Tag mit einer Rettungskolonne, später mit Freunden, mit Dorfbewohnern – überall suchten sie auf und rund um den Vanil Noir. Gaston Sapin blieb verschollen. Am 4. August 1946 fand man ihn, am Fuss der Nordostwand, zuhinterst im Vallon de Morteys in einer Felsspalte. „La partie du côté du froid avait encore sa peau et ses chairs, le visage enfoui contre le sol était brunâtre et émacié comme celui d’une momie.“
Als ich die Totentafel von Gaston Sapin fotografiert, war es einfach dies. Mehr nicht. Kein Blitz, keine leichtsinnige Tour. Im letzten Oktober aber erhielt ich ein hübsches, postkartengrosses Büchlein von 60 Seiten zugeschickt mit folgender Widmung: „Pour Daniel Anker, ce texte sur une montagne de mémoire, en hommage cordial, C. Reichler.“ Ich begann zu lesen. Wie der junge Mann auf den Vanil Noir steigt und weg bleibt. Wie er gesucht, gefunden, ins Tal gebracht – und wie die Bergungsaktion fotografiert wird. Wie die Mutter vor Trauer ernsthaft erkrankt, bis man ihr im Spital in Freiburg ihren ersten Enkel ins Bett legte, der um Weihnachten im gleichen Spital zur Welt gekommen war. Ein paar Tage später konnte sie gesund nach Hause gehen. „Vous aurez compris que j’étais cet enfant nouveau-né.“
Man hatte es schon auf den ersten Seiten im dichten, packenden Text gespürt, dass der Vanil-Noir-Besteiger eine ganz wichtige Rolle in Leben des Autors Claude Reichler spielte und dies immer noch tut. Er war sein Onkel. Mehr noch: Claude ersetzte sozusagen Gaston. Davon handelt das jüngste Buch des ehemaligen Professors für französische Literatur und für Kulturgeschichte an der Uni Lausanne. Von dieser schwarzen Zinne am Freiburger Horizont – und von der Macht und der Bedeutung der schwarz-weissen Fotos der Bergung, die zu Hause in einer Schachtel aufbewahrt wurden, als Reliquie. Eine Totentafel, eine Fotoschachtel, ein Buch: une montagne de mémoire.
Ende des letzten Jahres lag nochmals ein rucksacktaugliches Buch im Briefkasten, mit folgender Begleitkarte: „Sehr geehrter Herr Anker. Emil Zopfi hat mich gebeten, Ihnen meine Schwarenbach Erzählung zu senden. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.“ Das hatte ich. Ruth Spälti-Aellig, seit Jahrzehnten in Glarus wohnhaft, hat ihre Kindheitserinnerungen an Schwarenbach aufgeschrieben. Von 1937 bis 1947 (und dann in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre nochmals) führten Ihre Eltern das traditionsreiche Berghotel am Gemmipass. Das wusste ich nicht. Für mich war Schwarenbach eins mit den Stollers; ich hatte mir gar nie überlegt, dass eine andere Familie dort tätig war. Nun weiss ich es: eben Werner und Martha Aellig. Wie sie zum Berghotel kamen, wie sie nach dem strengen Aufstieg von Kandersteg oben eintrafen, was für Freuden und Leiden so ein Hotelbetrieb gab, an schönen Hochsommerwochenenden genauso wie an trüben Wintertagen – und wie all dies Ruthli erlebte: Das und noch mehr lesen wir im 72-seitigen Erinnerungsbuch. Am besten täte man’s natürlich in Schwarenbach selbst, auf sonnigen, windgeschützten Bänken vor den starken Mauern. Das Restaurant ist offen, das Hotel am 17. Januar auch. Vom 24. Januar bis zum 3. Mai 2015 ist es dann durchgehend geöffnet.
Schwarenbach ist zugänglicher, weniger gefährlich als der Vanil Noir, im Winter sowieso, aber auch im Sommer. Doch an der Gemmi können ebenfalls Unfälle passieren, und die Verunfallten mussten abtransportiert werden. Machte so ein Transport in Schwarenbach Halt, hätte Ruthli im Haus drin bleiben sollen. Aber: „Meine Neugier konnte ich nicht ganz bezähmen. Liess die Plane über dem Kanadier noch den Kopf frei, bedeutete es, dass der Verunglückte noch lebte. Bei einem Toten war die Plane vollständig zugeschnürt.“
Claude Reichler: Vanil Noir. Éditions Zoé, Carouge 2014, collection mini, Fr. 6.-
Ruth Spälti-Aellig: Schwarenbach. Kindheitserinnerungen 1937-1947. Spälti Druck, Glarus 1914, Fr. 17.- Erhältlich in Schwarenbach, in der Bücher-Ecke in Kandersteg sowie in der Buchhandlung Wortreich in Glarus.