Berge gebären bekanntlich keine Mäuse, aber gelegentlich neue Berge – Bücherberge. So auch der Gotthard, der zwar «nur» ein Pass ist, also nichtmal ein Berg und nun eigentlich auch gar nicht mehr vorhanden, da für Reisende nicht mehr sicht- und spürbar. Dafür gibt es jetzt den neuen Gotthard-Bücherberg. Hier eine Auswahl.
„Am 20. September 1707 erhält Pietro Morettini aus dem Maggiatal den Auftrag, zur Umgehung der sogenannten Twärrenbrücke ‚eine neuwe Strass durch den lebendigen Fels zu bauen‘: das Urnerloch. Der Schüler des französischen Festungsingenieur Vauban kann das 64 Meter lange Loch 1709 dem Verkehr übergeben.“
Das Urnerloch: der erste Tunnel am Gotthard. Mehr noch: der erste Schweizer Strassentunnel. Nur elf Monate dauerte das Sprengen mit Schwarzpulver im Gotthardgranit, bis der Stollen so gross war, dass Saumtiere ohne Reiter hindurchgehen konnten, mit einer Geschwindigkeit von rund 3 km/h. Fünf Tage dauerte die Reise von Zürich nach Mailand. Nach der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels, dessen Anstich im November 1999 begann, wird die Reisezeit noch drei Stunden betragen, für den rund 57‘000 Meter langen Tunnel (Weströhre 56‘978 m, Oströhre 57‘091 m) weniger als 20 Minuten. Da werden wir kaum Zeit finden, all die schweren und dicken Bücher zu lesen und zu studieren, die zur Eröffnung des neuen helvetischen Jahrhundertbauwerkes am 1. Juni 2016 erschienen sind oder dies noch tun. Deshalb hier ein kleiner Überblick über dünnere, aber keineswegs leichtgewichtige Publikationen.
Das Urnerloch, den Urahnen des Basistunnels, fand ich in „Legenden vom Gotthard“ von Hans-Peter Bärtschi, dem besten Kenner der Eisenbahn- und Industriegeschichte der Schweiz. Illustriert ist seine Schrift, die auf 84 Seiten die Geschichte des eidgenössischsten aller Pässe vom stiebendes Steg bis zum längsten Tunnel aufgleist, mit Karikaturen von Martial Leiter, wie immer überraschend, witzig, böse – einfach auf die Linie gebracht.
Alles Wissenswerte zum neuen Tunnel kurz, zügig und verständlich dargestellt: Das schafft das neue, 72seitige SJW-Heft 2519 mit dem Titel „Weltklasse Gotthard“. Der längste Tunnel der Welt ist nicht der erste Weltrekord an diesem Berg. Seit dem Mittelalter bis heute suchen die Menschen am Gottardo neue Möglichkeiten, um das natürliche Hindernis zwischen dem Norden und dem Süden noch schneller zu überwinden.
„Gebaute Geschwindigkeit“: So betitelt die schweizerische Architektur- und Design-Zeitschrift „Hochparterre“ präzis und prägnant ihr Themenheft zum jüngsten Urnerloch; richtig müsste es natürlich Urner-Tessiner-Loch heissen. Das 40seitige Heft zeigt, wie gut gestaltet der sichtbare Teil der neuen Eisenbahntransversale ist: „100‘000 Tonnen Gestaltungswille“ ist ein Heftabschnitt überschrieben. Was ja schliesslich nicht ganz neben den Geleisen steht. Denn was drin ist im Gotthardberg, nehmen wir ja kaum war. Tunneleingänge, Brücken, Entlüftungsschächte, Stützmauern, Betriebszentrale und Besucherzentrum hingegen schon.
Alle diese Bauten müssen auch kartografiert werden, ganz offiziell und nicht geheim. Dass aber gerade rund um den Gotthard, das angebliche Herz der Schweiz, so viele geheime Karten entstanden sind, enthüllt Martin Rickenbacher auf 64 Seiten fulminant und filigran mit „Festungskarten. Geheime schweizerische Militärkarten 1888–1952“. Eine azimutgenaue Dokumentation feldgrauer Jahrzehnte, die so weit auch nicht zurückliegen. Doch lassen wir den Lokomotivführer der Kartengeschichte am besten grad selbst sagen, was Sache ist und was geheim bzw. eben nimmer: „Die hier beschriebenen Festungskarten entstanden parallel zum Aufbau der schweizerischen Landesbefestigung. 1885 beschloss der Bundesrat, als Reaktion auf die Eröffnung der Gotthardbahn, die Gotthard-Südfront zu befestigen. Das Artilleriefort ‚Fondo del Bosco‘ westlich von Airolo hatte das Südportal zu sichern; es bildete den Nukleus der auf Andermatt und die Pässe von Oberalp, Furka und Grimsel ausgedehnten Gotthardbefestigung.“
Das sollte für eine ausgedehntere Zugslektüre reichen. Als Rucksacklektüre nähme ich diese beiden Sonderausgaben zum Gotthard mit: „In Rekordzeit durch den Berg der Nation“ der „NZZ am Sonntag“ vom 15. Mai 2016 und „Ab in den Süden“ von „Tages-Anzeiger/SonntagsZeitung“ vom 21./22. Mai 2016. Einmal gelesen, taugen die Zeitungsbünde auch zum Ausstopfen nasser Schuhe, wenn wir „Zu Fuss über den längsten Tunnel der Welt“ marschieren. So lautet der Untertitel des Wanderführers „Gotthard Tunnel Trail“. Fünf Etappen lang ist der Weg von Erstfeld nach Bodio, mit 100 Kilometer Distanz und 2500 Meter Aufstieg. 88 Seiten umfasst der in drei Sprachen geschriebene, üppig bebilderte Führer. Für Gewichtsfetischisten sind die 202 Gramm vielleicht am oberen Limit. Sie sollen aber froh sein, dass sie nicht die beiden Bände von Felix Moeschlins „Wir durchbohren den Gotthard“ von 1947 mitschleppen müssen. Der letzte Satz in diesem Monumentalwerk sei allen auf die nächste Gotthardreise mitgegeben: „DOCH DER TUNNEL STEHT DA, ALS OB ER IMMER DAGESTANDEN SEI UND EWIG DASTEHEN WÜRDE.“
Hans-Peter Bärtschi: Legenden vom Gotthard. Mit einem Kapitel von Ernst Halter und Illustrationen von Martial Leiter. Schriftenreihe Vontobel-Stiftung, Februar 2016, gratis. www.vontobel-stiftung.ch.
Matthias Rennhard, Roland Hausheer: Weltklasse Gotthard. SJW-Heft Nr. 2519, Fr. 5.- www.sjw.ch.
Gebaute Geschwindigkeit. Themenheft von Hochparterre, April 2016. Fr. 15.- shop.hochparterre.ch.
Martin Rickenbacher: Festungskarten. Geheime schweizerische Militärkarten 1888–1952. Cartographica Helvetica Heft 52. Fr. 25.- Verlag Cartographica Helvetica, Untere Längmatt 9, 3280 Murten, www.kartengeschichte.ch.
David Coulin: Gotthard Tunnel Trail. Herausgegeben vom Verein Gotthard-Connects, Andermatt 2016. Fr. 19.90. www.gotthard-tunnel-trail.ch.
Alles zum neuen Gotthard-Basistunnel und zu den Eröffnungsfeierlichkeiten unter www.gottardo2016.ch. Und im Forum Schweizer Geschichte Schwyz, dem schweizerischen Heimatmuseum, ist bis am 2. Oktober 2016 folgende Ausstellung zu sehen: „Gotthard – ab durch den Berg.“