Heilige und geheimnisvolle Berge

Zwei Bücher zu besonderen Bergen: ein Geschichtsbuch zu heiligen, ein Atlas zu geheimnisvollen. Teilweise sind es die gleichen Gipfel.

«Am meisten heilige Berge gibt es im Tibet. Schriftliche Quellen machen deutlich, dass Eremiten und Asketen dort auf das Hochland zogen. Sie beteten Berge an und meditierten vor ihnen. Sie erzählten, dass auf ihnen Götter wohnen. Aus diesen Geschichten entstanden spirituelle Reiseführer, die Wallfahrten und Rituale im Angesicht eines Bergs auslösten. So erfolgte die religiöse Aufladung eines Bergs, die eine Community von Gläubigen unter sich teilte.»

Ausschnitt aus dem Interview mit Jon Mathieu zu seinem neuen Buch „Mount Sacred. Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500“. Das Gespräch mit dem Zitattitel „Für die Kirche war die Anbetung von Bergen eine Sünde“ erschien am 24. Januar 2023 in der Berner Tageszeitung „Der Bund“, illustriert mit einem Sonnenaufgangsfoto des Gipfelkreuzes auf dem Bietenhorn ob Mürren. Nochmals ein Zitat von Mathieu, emeritierter Titularprofessor für Geschichte mit Schwerpunkt Neuzeit an der Universität Luzern und bekannt als Gebirgsforscher und Historiker der Alpen: „Im katholischen Kanton Freiburg wimmelt es von Gipfelkreuzen. Einige stehen aber auch auf Berner Bergen.“ Heilig sind die meisten von diesen Gipfeln nicht. Anders in Italien. Im Jubiläumsjahr 1900 rief Papst Leo XIII. dazu auf, auf 19 Gipfeln in Italien, vom Monviso im Piemont bis zum Monte San Giuliano in Sizilien, ein grosses Kreuz zu erstellen – für jedes Jahrhundert seit der Geburt von Jesus ein Kreuz. Es kamen zahlreiche weitere dazu, wie dasjenige auf dem Cervino.

Natürlich steht nicht auf jedem heiligen Berg ein Kreuz. Aber heilige Berge stehen überall auf der Welt: der Mount Kailash in Asien, die Black Hills mit den Präsidentenköpfen in Nordamerika, der Uluru in Australien oder der hierzulande nicht so bekannte Ol Doinyo Lengai in Tansania. Ihnen wurde und wird Heiligkeit zugesprochen, was sich in Gebeten, Meditationen und Wallfahrten äussert, wobei letztere heute oft mehr touristischen als religiösen Charakter haben. Wie es dazu kam, dass Berge heilig gesprochen wurden, enthüllt Jon Mathieu eindringlich und einfühlsam in „Mount Sacred“. Diesen Berg gibt es so nicht in der Natur und auf keiner Landkarte; er ist ein virtueller Berg, ein Buchberg. Und passt irgendwie zum Hügel, der am 8. Juni 1794 auf dem Pariser Marsfeld (vor dem heutigen Eiffelturm) aufgeschüttet wurde, zur Feier des „höchsten Wesens“. Nur ein Jahr später, nach einer blutigen Hinrichtungswelle, wurde dieser künstliche Berg als „Monument des Terrors“ bezeichnet – und eingeebnet. Andere künstliche Berge, wie zum Beispiel die Schlackenhügel im Ruhrgebiet, blieben erhalten – und werden kaum als heilig bezeichnet. Und doch: Auf der Knappenhalde (101 m) in Oberhausen, auch Monte Schlacko genannt, findet immer an Auffahrt ein Gottesdienst statt.

In drei grossen Schritten nimmt uns Jon Mathieu, der in Burgdorf an der Alpenstrasse wohnt, auf die Reise zu heiligen Bergen mit. Nach der Anreise in zwei Etappen macht er Halt an wichtigen Stationen, wie am Tai Shan, dem kaiserlichen Ostberg in China, oder dem Paektusan in Nordkorea, und fragt zuletzt nach der Zukunft für heilige Berge, gerade heute in der Zeit von Kolonialismus und Antikolonialismus, von Umwelt- und Klimaschutz. Eine faszinierende, tief schürfende, bestens dokumentierte Lektüre zu den wichtigen Gipfeln der Heiligkeit. Am besten zu lesen selbstverständlich auf einer sakralen Erhebung, zum Beispiel auf dem Michaelskreuz mit der Gipfelkapelle (795 m). Oder auf Masada, einem Gipfelplateau am Rand der Judäischen Wüste, mit der Palastfestung von Herodes, 43 m.ü.M, aber 473 Meter über dem Toten Meer.

Der Masada-Gipfel ist der erste Berg im „Atlante dei monti arcani. Storie e miti del mondo verticale”. Albano Marcarini stellt 88 mysteriöse, geheimnisvolle Berge vor, immer auf einer Doppelseite Text/topografische Karte sowie zusätzlich mit ein paar touristischen Infos im Anhang. Italien ist mit 28 Gipfeln, wovon drei an der Grenze zur Schweiz (Badile, Cervino, Monte Rosa) stehen, mit Abstand am besten vertreten. Verständlich, weil sich der Atlas vor allem an die italienische Kundschaft richtet. Für GipfelstürmerInnen aus der Schweiz hat das aber den grossen Vorteil, dass diese bequemer erreichbar sind als zum Beispiel der heilige Berg der Massai, der Ol Doinyo Lengai (2878 m), der Sri Pada (2243 m) auf Sri Lanka oder der Kalkajaka (465 m) in Australien; zu letzterem lesen wir: „L’acesso è vietato.“ Deshalb als nächste oder übernächste Ziele folgende besonderen Berge im Nachbarsland anpeilen: 2. Monte Nuovo (133 m), 8. Rocca di Cerbaia (367 m), 9. Monte Calamita (413 m), 11. Monte delle Formiche (638 m), 13. Monte Soratte (691 m), 19. Monte Pirchiriano (962 m), 21. Pietra di Bismantova (1047 m). Den Namen der Nummer 21 kannte ich, und oben stand ich auch schon. Viel Freude und Ehrfurcht beim Besteigen. Und beim Lesen.

Jon Mathieu: Mount Sacred. Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500. Böhlau Verlag, Wien 2023. € 35,00.

Albano Marcarini: Atlante dei monti arcani. Storie e miti del mondo verticale. Ulrico Hoepli Editore, Milano 2022. € 24,90.

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