Hans Morgenthaler (1890-1928), Botaniker, Geologe, exzentrischer Schriftsteller und extremer Bergsteiger.
Noch ist die Nacht hell wie der Tag. Aber wie wir jetzt etwa um ein Uhr früh mit grimmig entschlossenem Mut kaum dreihundert Meter unterm Gipfel ins Bassin des Bifertengletschers, ins nächtliche Wolkentreiben eintauchen, fällt’s grausam über uns her. Ozeanwellen von Staubschnee und Wolken hüllen uns ein, jedes Sehvermögen erlischt, brüllend schlägt Sturm von der Gliemspforte, von der Bifertenlücke, vom ganzen Urlaungrat auf uns herab; wie mit nassen Peitschen geschlagen, schmerzt das Gesicht, orangerot, gelb wie bengalisches Licht, rot wie Widerschein von Feuersbrunst leuchtet für ein paar letzte Minuten der Mond durch den wirbelnden Rauch. Noch vermag ich, gebückt durch den Sturm kriechend, schnüffelnd wie ein Jagdhund die Aufstiegsspur zu erraten. «Das Seil gut gestreckt!:» Die Gletscherspalten kann man nicht einmal mehr ahnen. «He da! Aufgepasst!»
«Sind wir auf der Spur?» fragt einer von hinten. « Nur zu und möglichst rasch, möglichst tief hinunter!»
Skifahren am Seil ist bei Tage schon eine Kunst, die nicht jeder fertigbringt. Mit sturmblinden Augen, in tosendem Orkan, nachts auf dem Gletscher ist die Grenze des Menschenmöglichen bald erreicht. Hup, hup hüpft es davon ins Bodenlose, du hast die Bauchmuskeln steinhart gespannt, um Stösse zu parieren, ein Ruck durch das Seil und – schon liegst du im Schnee. «Auf, auf und hinunter!»
Der Hintermann am zweiten Seil, beim Aufstieg schon erschöpft, ist völlig zusammengebrochen. Von Skikünsten keine Spur mehr. Der Australier schleift ihn wie am Lasso durch den Schnee. Es beginnt steiler zu werden. Wahnsinnig, denke ich, in diesen Eishängen skifahren zu wollen! Wir müssen schon nahe dem obern Rand des Abbruches sein … «Aufpassen! Gestrecktes Seil! Vorsichtig!» Mit kleinen Tritten schräg vorwärts und abwärts kantend, fühle ich einen Ski in der Luft … «Achtung, Schrund !» Jetzt stürmt der Ausrralier gewaltsam heran, brüllt gute Räte in den Wind, der die Worte an die Bifertenwand hinüberschmeisst, wo sie ohnmächtig zerschellen.
«Was brüllst du, Max?»
«Deckung vor dem Sturm suchen in einem Schrund!» kommandiert auf einmal klar hörbar die eiserne englische Stimme von hinten. Ich stolpere vor, falle rückwärts, stehe auf, falle wieder. Ich versuche gehorsam zu tun, was man mir befiehlt, aber umsonst: «Max, willst nicht du vorangehen? Es tut mir leid, ich weiss beim besten Willen nicht, wie man das macht – Deckung suchen in einem Schrund.»
Fahl, gelb, grünlich zieht eine Welle Mondlicht durch die brodelnde Wolkennacht, meine Sinne verwirrend. Maxwell, den erstarrten, gestrauchelten Kandidaten als Bremsklotz hintendrein schleifend, bewegt sich als gespenstische Silhouette etwa sechs Meter vor mir und etwas tiefer, schattenhaft verzerrt im trüben Schein der dünstigen Nacht. Doch was ist jetzt nur das? «Ich kann den Max nicht mehr sehen!» will ich rufen. «Verdammt, wie blendet einen dieser dumme Sturm!» Ich versuche nochmals zu schauen, reisse die Augen von neuem auf … «Herrgott, der Max ist wirklich verschwunden!»
«Meier, Seil halten !» brülle ich, stürze mit einem Satz auf den Maroden zu, ergreife sein Seil. Max ist in eine Spalte gefallen. Unsichtbar hängt er im Schrund. Kein Zoll ist mehr von dem schönen Engländer zu sehen. Was geschieht jetzt da Merkwürdiges vor mir? Wie eine Hand aus dem Grabe ragt plötzlich ein einzelner Ski in die Nacht herauf, zappelt hin und her, fliegt in die Luft, ein zweiter folgt und – fällt mit dem ersten zurück.
Overreckt, mein Seilkamerad, hat unterdessen sich loszuknüpfen begonnen. Es gelingt ihm nur langsam, mit erstarrten Händen den Knoten zu lösen; aber nun bewegt er sich, das an mir befestigte Seil lose in der Hand haltend, auf die Spalte zu, die Max verschlang, vorsichtig bis dicht an deren Rand schleichend. Und jetzt schleudert er mit sicherem Wurf dem Maxwell, der immer noch unsichtbar im Schrund hängt, mein Seilende zu, ein Rucksack fliegt wie aus der Unterwelt herauf, fällt zurück, verschwindet für immer. Nichts bewegt sich mehr da vorne, nur Overreckt kauert im Schnee, und niemand würde ahnen, dass dort unterm Boden, unterm Schnee, ganz im Eis drinnen immer noch ein lebendes Menschenherz schlägt. Aber der zähe Australier im Schrund denkt trotz der abscheulichen Kälte, trotz des Seils und des Sturms, die ihm den Atem verschnüren, nicht ans Kapitulieren. Er hat inzwischen das Seilende, das Franzl ihm zuwarf, ein paarmal um einen Arm geschlungen und hängt nun wenigstens, statt nur an einem, an zwei starken, dicken Bergseilen. Und jetzt ruft Overreckt: «Ziehen!»
«Ho, Ruck!» Der englische Kopf taucht neben Obexer auf … «Hoh, Ruck! Hoh, Ruck!» … Max will bei aller Anstrengung nicht über den Rand der Spalte herauf. Der Schnee ist weich, die Seile schneiden ein. Unsere Kräfte erlahmen. Gut, dass er wenigstens nicht völlig in den Schrund zurücksinkt.
Der Max muss vor allem heraus! denke ich jetzt. Meine Handschuhe sind steinhart vereist. Ich streife sie ab. So kann ich ordentlich ziehen, und eine Viertelstunde nach seinem Verschwinden liegt der Australier keuchend und schnaubend neben uns.
«So … und jetzt weiter. Wir sind noch nicht zu Hause. In der Fridolinshütte wird’s behaglicher sein zum Ausruhn.»
Der Gletscher ist hier ungemütlich steil und eisig. Kaum eine schäbige Kruste Schnee klebt auf dem Eis. Franzl geht jetzt voraus.
«Hast du die Spur?»
«Nein !»
«Sie muss hier deutlich sein. Stufen im Eis kann der stärkste Sturm nicht verwehen.»
«Es geht nicht.»
Maxwell versucht’s und – gibt auf: «Wir müssen den Morgen abwarten!»
«Hier wird’s uns töten,» murmle ich.
Glücklicherweise haben wir unsere Pickel. An dachjähem Eishang über dem Gletscherabbruch beginnen wir mühsam uns einzugraben. Eine horizontale Furche wird ins Eis geschnitten, langsam verbreitert, bergwärts ist sie nach einer halben Stunde schon einen Fuss tief.
«Jetzt grab du ein wenig, von Allmen !» keucht Franzl erschöpft. Ich will es versuchen, denke ich, mein Gott, und merke plötzlich, dass ich den Pickel nicht halten kann. Zum Teufel, meine Hände sind starr! Die Handschuhe, die ich ausziehen musste, gingen längst im Sturm verloren. Ich schwinge die Arme, reibe die Hände mit Schnee; das strengt an, tut weh und – hilft nichts. Ich kreuze die Arme über der Brust, strecke die Hände in den Kittel unter die Achseln. Aber jetzt zwickt mich der Sturm ins Gesicht, dass ich beinahe ersticke.
Noch ein wenig länger muss das Biwakplätzchen werden. Einer hackt, die andern warten. Wer den Kopf in die Furche dicht ans Eis streckt, kann, für Minuten vor dem Sturm gedeckt, ordentlich atmen. Endlich ist unser Einschnitt drei Meter lang, bergwärts fast einen halben Meter tief; einen Spreizschritt breit ist das Plätzchen fast eben, für bescheidene Ansprüche nicht nur ein Obdach, sondern für jene, die zu unterst liegen, zeitweise sogar fast windstill.
Schlotternd, die Arme vor den Gesichtern verschränkt, liegen vier Körper in pechschwarzer Nacht am blanken Eishang. Sturm heult, Orkan saust. Wollte man seine Hände in den Taschen bergen, waren diese zugefroren und voll Eis, und schützte man nicht in erster Linie seinen Kopf mit Hilfe der Ärmel, peitschte eiskörnerbeladener Sturm einem ins Gesicht, dass man erstickte. Grimmig drohten Sterben und Verderben. Seid ihr bereit?
Eigentlich sollte ich noch weiterleben, eigentlich hätte ich allerlei wieder gutzumachen, abzuwarten, aber – meinetwegen zugrunde gehen. Und doch: «Nein!»
«Redet, Kameraden, rührt euch !» brüllte Overreckt in den Sturm. «Nicht schlafen! Schlafen ist Tod!» Meine Hände in den Taschen bergen, waren diese zugefroren machen. Ich versuchte es nochmals mit Fingerübungen. Die Gelenke versagten vollkommen. Schlimmstenfalls werde ich wenigstens frei vom Militärdienst, dachte ich. Wenn wir ganz einschlafen? Erfrieren? Wird man uns im Sommer finden? Keine grosse Wahrscheinlichkeit. Der Gletscher wird uns behalten. Wie Steine werden wir in ihm versinken und unsere Zukunft, unser Geheimnis, unsere – Schuld mit uns.
Unvermindert brüllt der Sturm. Eng an das Eis geschmiegt, riskiert man doch, fortgerissen, in Nacht und Tiefe geschleudert zu werden. Manchmal stöhnt einer von uns wie ein verwundetes Tier … Unerträglich wird die ganze Muskulatur durch das krampfhafte Zittern geschwächt, die Lungen schnaufen trotz des untätigen Liegens heftig. Eisgepanzert von unten bis oben, die Augenlider zugefroren, Eiszapfen in den Haaren, blind und halb ohnmächtig dem Wüten ausgeliefert, und doch nicht tot! Das Schlottern und Zähneklappern erwärmt, denke ich, selig hat einer sich ergeben und schläft mit langen Atemzügen. «He, aufpassen, du dort irgendwo in der Nacht!» Ein anderer ruft von Zeit zu Zeit: «Mut, ausharren, alles hat schliesslich ein Ende!»
«… sogar das Leben.»
Wenn es sein muss, ist Sterben nicht schwerer als Leben. Alles Schlafen ist wie Erlösung. Schlafen ist angenehmer, als gegen den Sturm sich wehren zu müssen. Alle liegen wir ruhig, keiner redet, keiner rührt sich. Auf einmal ahne ich wieder, was uns bedroht. «He, auf, Kameraden!» Mit Gewalt kratze ich das Eis aus den Augen, reisse die Lider auf, um sie vor Schmerzen sofort wieder zu schliessen. Sehen kann man übrigens nichts. Nochmals ein Versuch! Phosphorgelbes Licht, das blendet. Eine Helle wie in elektrisch erleuchtetem Saal, und dennoch nichts zu sehen. Ich ergebe mich in die Nacht. «Herrgott, Kameraden, lebt auch ihr noch?» Jetzt wird’s ringsum ruhiger. Eintönig saust nur der Sturm. Das Sausen wird zur Musik, verliert sich, leiser werdend, wie in unermesslicher Ferne.
Es ist jetzt nicht mehr sehr kalt, ein unangenehmes, feuchtes Gefühl in den Kleidern hat mich geweckt. Fast schuhtief sind wir vom Neuschnee bedeckt. Ich wische die Augen mit den Armen aus. Es ist wieder Tag. «Auf! Und um Gotteswillen hinunter zur Hütte, bevor die neue Nacht kommt!
Wir haben gut geruht, fühlen uns frischer. Das Wetter erlaubt es, es geht, langsam zwar nur, und abends um neun, als die neue Nacht angebrochen war, betraten wir nach dreiunddreissigstündiger Sturmfahrt die Fridolinshütte wieder, vom Kopf bis zu den Füssen verglast und vereist.
«0, ich brauche nie mehr rechtsumkehrt zu machen! Keine Kanonen mehr zu richten!» Meine Hände, schneeweiss und steinhart, klingen gegeneinander wie Porzellan gegen Glas.
«Aufpassien, dass keine Finger abbrechen !»
«Aber weh tut es merkwürdigerweise nicht.» Mehr oder weniger verwundet waren wir alle. Ich mit den am schwersten verletzten Händen machte Feuer, kochte Tee, spürte nichts. Mein Kamerad-Kandidat stöhnte mit erfrorenen Füssen die ganze Nacht.
Am nächsten Abend schwenkte ich meine Wunden in blauem Sublimatwasser der Klinik. Die drei ersten Wochen nach dem Unfall wohnte ich auf meiner Studentenbude und ging täglich zur Wundbehandlung in das Spital. Nach dieser Zeit war das Tote wirklich tot, und man durfte herzhaft abschneiden. Links kürzte man sämtliche Finger, ritsche ratsch, um zwei Glieder, rechts aber blieb ordentlich mehr, hauptsächlich ein schönes Stück Zeigefinger samt Nagel, vielleicht damit ich’s nicht zu verdammt schwer haben sollte, diese fatale Geschichte noch aufzuschreiben.
Aus: In der Stadt, Roman von Hans Morgenthaler, Spaten-Verlag, Grenchen 1950 (vergriffen)
Empfehlenswert: Ihr Berge. Mit einem Nachwort von Edgar Schuler. Verlag Akademischer Alpenclub Zürich, 1996