Kingspitz Nordostwand

Heute vor 75 Jahren kletterten Hans Haidegger und Mäusi Lüti aus dem Solothurnischen und der Grindelwalder Bergführer Hermann Steuri als erste durch die Nordostwand des Kingspitz in den Engelhörnern – als «Ersatz» für die Eigerwand, die sie den Deutschen und Österreichern überlassen hatten.

Für uns junge Kletterer der Sechzigerjahre war die Kingwand ein «Muss» – ans Datum meiner einzigen Durchsteigung an einem nebligen Tag erinnere ich mich nicht mehr, nichtmal ans Jahr. Auch die Geschichte der Wand interessierte mich damals noch nicht. Das Interesse an alpiner Geschichte regte sich erst später – vielleicht als Ersatz fürs extreme Klettern. Es waren jedenfalls drei grosse Persönlichkeiten, die damals die 600 Meter hohe Kingwand meisterten. Hans Haidegger beispielsweise war im Jahr zuvor solo durch die noch unbegangene Eigerwand bis in halbe Wandhöhe geklettert, an einem Tag hinauf und hinunter – wohl eine der geheimnisvollsten Leistungen der Schweizer Alpingeschichte. Die Erstbegehung der Kingwand bildet einen Markstein im damaligen Felsklettern.

Hans Haidegger (1913–1991) war zu jener Zeit noch österreichischer Staatsbürger, was ein Grund sein kann, dass er kein Aufhebens von seinen ausserordentlichen Leistungen machte. Er war sechs Monate alt, als seine Eltern aus Innsbruck in die Schweiz zogen. Sein Vater, Berufsoffizier bei den Kaiserjägern, hatte schwere Augenverletzungen erlitten und wollte sich hier medizinisch behandeln lassen. Die Mutter starb, als er vierzehn war. Schon jung begann er mit Klettern, vorerst am Weissenstein bei Solothurn, wo er wohnte. Mit fünfzehn radelte er ins Wallis und stieg allein aufs Matterhorn. Im Jura gehörte er schon bald zu den hervorragendsten Kletterern, dem schwierige Erstbegehungen gelangen. Der bekannte Routenerschliesser und Buchautor Claude Remy nennt ihn «Père de l’escalade dans le Jura». Zu der Gruppe von jungen Bergsteigern, die Hans Haidegger um sich scharte, «la bande à Haidegger», gehörte auch die Grafikerin Mäusi Lüthy, eine der ersten Extremkletterinnen der Schweiz.

Nebst dem Jura galt sein Interesse vor allem grossen kombinierten Routen im Berner Oberland, wo ihm bedeutende Erst- und Zweitbegehungen gelangen – wo er aber auch eine traumatische Erfahrung machte, die ihn lebenslang belastete. Nach der Nordwand des Lauterbrunner Breithorns auf teilweise neuer Route löste sich im Abstieg ein Stein und riss seinen Gefährten Fritz Fricker in den Abgrund. Haidegger litt unter Schuldgefühlen, Kollegen wandten sich von im ab. Das sei ein Grund gewesen, dass er häufig mit Frauen extreme Touren unternahm, vermuten seine Töchter. Auch seine spätere Frau Lily Zurmühle, Bäckerstochter aus Solothurn, war eine begeisterte Kletterin, mit der er 1942 die Nordwand des Altmann im Lauteraargebiet erstbeging, eine zwölfstündige schwierige Tour durch losen, vereisten und verschneiten Fels. Lily habe kleine Füsse, so könne sie gut auf kleinen Tritten stehen, pflegte er zu scherzen.

Haidegger besass ein Pilotenbrevet und wurde nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 ans Dritte Reich zur Luftwaffe einberufen, rückte aber nicht ein. Ein Militärgericht verurteilte ihn als Deserteur in Abwesenheit zum Tode, der Familienbesitz in Österreich wurde enteignet. Verständlich, dass er sich im Sommer der Erstbegehung 1938 von der Eigerwand fern hielt, an deren Fuss es von deutschen Journalisten und Funktionären wimmelte und auf den Zelten einiger Bergsteiger aus dem Reich Hakenkreuzwimpel flatterten.

Der Anruf eines Bergführers aus Grindelwald, vermutlich von Hermann Steuri, hatte ihn 1937 zur legendären Solo-Erkundung für eine mögliche Schweizer Erstbegehung bewogen, war er doch einer der Wenigen im Land, die dazu in der Lage waren. Hermann Steuri, der stärksten Kletterer unter den Oberländer Führern, stand selber unter grossem Druck seiner Familie und der Öffentlichkeit, die Finger von der «Mordwand» zu lassen. Im Sommer 1936, nach dem dramatischen Tod der Viererseilschaft mit Andreas Hinterstoisser und Toni Kurz, hatte der Regierungsrat des Kantons Bern ein Verbot von Begehungen beschlossen, es später jedoch abgeschwächt dahin, dass man nicht zu Rettungen verpflichtet sei. «Dass es mich gejuckt hätte, darf ich nicht abstreiten», bekannte «Mändu» Steuri später.

Im September 1938 rief Steuri wieder einmal an, Deutsche seien an der Nordostwand des Kingspitz in den Engelhörnern im Schneesturm gescheitert. Sofort reisten Hans Haidegger und Mäusi Lüthy ins Rosenlaui. «Am 26. September 1938 eröffneten wir SAC-ler, mit nur wenig Haken und den einfachsten Mitteln ausgerüstet, in etwas mehr als sechs Stunden die klassische Route durch die Kingwand», erinnert er sich. Damals eine der schwierigsten Felsrouten der Alpen, gilt die 600-Meter-Wand noch heute als grosse klassische Klettertour. Allerdings stecken heute beträchtlich mehr als die sechs Haken, die Steuri und Haidegger schlugen, während Mäusi fotografierte. «In der Kingspitzwand mit meinen zwei besten Bergkameraden hatte ich viel Spass. Einer kletterte und die zwei andern kritisierten», schreibt sie in einem Brief an den Alpinjournalisten Daniel Anker.

Hans Haidegger wurde 1942 eingebürgert und leistete Militärdienst als Funker bei den Übermittlungstruppen. Endlich durfte er auch seine geliebte Lily heiraten, zuvor erlaubten es ihre Eltern nicht, hätte sie doch damals das Schweizer Bürgerrecht verloren. Die Hochzeitsreise im Militärurlaub führte auf eine Skitour vom Jungfraujoch über die Lötschenlücke und über den Grossen Aletschgletscher bis nach Mörel.

Mäusi Lüthi (1911–2002) war auch als Skirennfahrerin erfolgreich, Mitglied des nationalen Frauenteams. 1939 lernte sie anlässlich eines Skirennens in Chamonix ihren späteren Mann Paul Teraillon kennen. Er war Uhrmacher und gründete 1946 in Annemasse das Unternehmen Teraillon, das Waagen und Haushaltartikel herstellt.

Auch Hermann Steuri (1909–2001) war ein erfolgreicher Skirennfahrer, Skilehrer und Trainer der Schweizer Skinationalmannschaft. Als Bergführer und Expeditionsbergsteiger weit über die Schweiz hinaus bekannt.

Ein Gedanke zu „Kingspitz Nordostwand

  1. Als ich die Wand im Sommer 1964 erstmals durchstieg, war die sog. Schlüsselstelle noch heikel (sie galt damals als VI Grad). Als ich die Wand zwei Jahre später wieder bestieg, stellte ich zu meinem Bedauern fest, dass inzwischen jemand die schwierigste Stelle mit einem Hammer „bearbeitet“ haben musste (und um einen halben bis ganzen Grad gekürzt). Schade.
    Übrigens waren Bohrhaken damals tabu.

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