Bücher können Leben retten! Zum Beispiel das besprochene. Auch wenn es nicht vom allseits bekannten Lawinenpapst verfasst worden ist. Die Autoren sind kompetent. Lawine ist Lawine ist Lawine. Im Tyrol so gut wie im Berner Oberland.
„Ein einheimischer Skitourengeher trifft am Weg Richtung Rastkogelhütte bei der Schafleitenalm in den Tuxer Alpen zwei Schneeschuhwanderer. Kurz darauf löst er im wenig geneigten Gelände durch Fernauslösung ein kleines Schneebrett aus. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich unterhalb eines kleinen Steilhanges in Falllinie zur Schafleitenalm. Die Lawine erfasst den Skitourengeher und reiβt ihn mit. Dabei kommt er kurzfristig total verschüttet direkt vor der Eingangstür zu liegen. Die Tür hält dem Schneedruck nicht stand. Folglich wird er weiter in die Hütte transportiert, wo er sich selbst aus den Schneemassen befreien kann. Inzwischen organisieren die Schneeschuhwanderer bereits Hilfe und beginnen am Lawinenkegel nach ihm zu suchen. Er kann die Hütte durch den Hauptausgang mit leichten Verletzungen selbständig verlassen. Der eintreffende Hubschrauber fliegt ihn ins Tal.“
Andere hatten nicht so viel Glück: Die Einzelgängerin, die am 20. Dezember 2004, dem ersten Schönwettertag nach Schneefall- und Sturmperiode, am Nonsjöchl östlich von Innsbruck bei mässiger Lawinengefahr in mässig steilem Gelände ein kleines Schneebrett auslöste, wurde von der abgleitenden Masse so unglücklich umgeworfen, dass grad Kopf und Arme im Schnee stecken blieben. Sie konnte sich mit den noch herausragenden Beinen nicht frei strampeln und erstickte jämmerlich. Was die Frau zu wenig beachtet hatte (neben dem deutlich erhöhten Risiko auf Soloskitouren), war das Gefahrenmuster „zweiter Schneefall“.
Zwei Handvoll Gefahrenmuster sind für einen Grossteil der Lawinenunfälle verantwortlich und könnten bei entsprechender Kenntnis und angemessenem Verhalten vermieden werden. Das war die Ausgangslage für das Handbuch von Rudi Mair, seit 1999 Leiter des Lawinenwarndienstes Tirol, und von Patrick Nairz, Stellvertreter von Mair und von 2009 bis 2013 Leiter der Arbeitsgruppe der europäischen Lawinenwarndienste. Zwei bestens ausgewiesene Fachleute mit sehr viel Praxiswissen, und genau so ist ihr gut lesbares, übersichtlich gestaltetes und eindrücklich illustriertes Werk geworden, das nun in der fünften, komplett überarbeiteten und aktualisierten Auflage vorliegt.
Anhand von konkreten Lawinenunfällen jüngeren Datums stellen die Autoren die fünf Lawinenprobleme und die zehn Gefahrenmuster im typischen Verlauf eines Winters vor, vom zweiten Schneefall über Schnee nach langer Kälteperiode (also solcher von gestern) bis zu eingeschneitem Graupel (ganz heimtückisch!), und zwar mit Unfallhergang und Analyse. Zu jedem Gefahrenmuster gibt es Erkennungstipps und Hintergrundwissen. Schaut man sich die Unfälle an, dann gibt es für mich drei Reaktionen: diese Skibergsteiger nahmen ein zu grosses Risiko auf sich, dieser Wintersportler hatte extremes Pech, das hätte mir auch passieren können. Gerade für den dritten Punkt ist das Lawinenwarn- und lehrbuch hilfreich: Dass man sich der verlockenden Gefährlichkeit des Schnee noch besser bewusst wird. Und dass sich eine Tür bei einer Lawine höchst selten öffnet.
Rudi Mair/Patrick Nairz: Lawine. Das Praxis-Handbuch. Die entscheidenden Probleme und Gefahrenmuster erkennen. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2016, Fr. 35.60.