Liebe und böse Berge

Zwei ganz unterschiedliche Bücher, die durch einen Gipfel verbunden sind, der zur roten Liste des gefährdeten Welterbes der UNESCO gehört und der gleichzeitig Menschen gefährdet.

«Hier herrsche ich. Seit über 500 Jahren sitze ich in meiner Nische, dort, wo es in den Berg hinein geht. Meine Nase ist schwarz von den vielen Zigaretten, die sie mir anstecken, zwischen meinen Beinen steht die Flasche mit Zuckerrohrschnaps und die Tüte mit Coca-Blättern, meine Hörner sind mit bunten Luftschlangen behängt. Dies alles und das Lamablut, das sie um mich herum verschütten, soll mich gnädig stimmen. Ich soll sie beschützen. Ich bin der Tió, der Teufel, der Herrscher hier im Berg. […]
Klack, Klack, Klack, das Hämmern tönt von außen zu mir herein, dort sitzen die Frauen vor den Mineneingängen und klopfen über ihren Röcken das wenige Erz von den Gesteinsbrocken, die die Männer nach der Explosion auf dem Berg rausschaffen. Einmal in der Woche kommt ein Lastwagen und holt das Erz. 10 Dollar gibt es pro Tonne. Dann machen die Männer Pause. Wortlos hocken sie sich zu mir. Sie kauen Coca und rauchen, ich rauche mit ihnen. Wir harren aus, wir – und der Tod.»

Anfang und Ende des Textes zum 28. Berg, zum Cerro Rico (4800 m), im Buch „Berge. 35 Geschichten zwischen unten und oben“ von Lucia Jay von Seldeneck (Text) und Florian Weiß (Illustrationen). Vor dem Silberberg von Potosí in Bolivien stellen die beiden den Uschba vor, anschliessend den Mont Blanc, immer zu einem passenden Thema sowie mit einigen lexikalischen Angaben. Mit dabei in diesem liebevoll und witzig gemachten Lese- und Zeichnungsbuch sind vier helvetische Gipfel: erwartet Monte Verità (Nr. 3) und Matterhorn (Nr. 25), überraschend als Nr. 20 das Wellhorn (3191 m) in den Berner und als Nr. 23 die Pointe Burnaby (4134 m) in den Walliser Alpen, und zwar mit den Geschichten „Wer möchte schon schreckliche Unholde auf Gemälden betrachten“ bzw. „Stop her!“. Tiefster Gipfel ist der künstliche Fliegeberg (59 m) in Berlin, höchster der fiktive Mont Analogue. Viel Spass beim Abhaken! Wobei man den Cerro Rico besser weglässt: Er gilt als der Berg, der Menschen frisst.

Genau so heisst auch das Buch von Ander Izagirre: Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes.“ Anhand der vierzehnjährigen Halbwaise Alicia, ihrer Familie und des Ortes, an dem sie lebt, erzählt der spanische Journalist die Geschichte des „Rohstoffsegens“ in Bolivien: von den spanischen Eroberern, die Mineralien in Sklavenarbeit abbauen liessen, über den Aufstieg einer lokalen Oligarchie im 19. Jahrhundert bis hin zu einer Reihe von Militärdiktaturen, oft installiert mithilfe der USA, um die Rohstoffversorgung des Nordens zu sichern. Nicht gesichert ist aber das Leben von Alicia, die für zwei Euro pro Nacht einen Wagen voller Steine durch die unterirdischen Stollen schiebt, um die Familie mitzuernähren. Der giftige Staub der Mine schwebt in der Luft, die sie einatmet, und sickert ins Wasser, das sie trinkt. Und das auf 4400 Metern, also auf einer Höhe, auf der in den Alpen die Gletscher noch ein paar Jahrzehnte am Leben bleiben werden. „Der Berg, der Menschen frisst“ ist ein buchstäblich atemberaubendes Bergbuch.

Lucia Jay von Seldeneck, Florian Weiß: Berge. 35 Geschichten zwischen unten und oben. Kunstanstifter Verlag, Mannheim 2022. € 28,00.

Ander Izagirre: Der Berg, der Menschen frisst. In den Minen des bolivianischen Hochlandes. Rotpunktverlag, Zürich 2022. Fr. 29.-

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