Grenzen werden gezogen, markiert – und überschritten. Am und gegenüber vom Matterhorn, gerade in diesem Sommer. Auf nach Zermatt!
„Une histoire qui titille la curiosité. Partons donc à la découvert pédestre et historique des paysages sublimes qui portent la frontière italo-valaisanne entre le Mont Dolent, surplombant La Fouly, et le Piccolo Corno Gries non loin du Nufenen.“
Schreibt Olivier Cavaleri im Vorwort zu seinem fünften Führer zur „Histoire de bornes“ in der Westschweiz. Nach der geschichtlichen Erkundung des Grenzverlaufs im Jura neuchâtelois und vaudois, rund um Genf sowie zwischen Frankreich und dem Wallis hat sich der welsche Grenzsteinspezialist der 201 Kilometer langen Grenze zwischen dem Wallis und den italienischen Regionen Valle d’Aosta und Piemont angenommen. Also der höchsten, schwierigsten und wahrscheinlich auch schönsten Grenze der Schweiz, mit Gipfeln wie Dent d’Hérens, Nordend und Pizzo Cervandone und Pässen wie Col du Grand Saint-Bernard, Jazzilücke und Forca d’Aurona. 15 Wanderungen zu den Pässen und zahlreiche Exkurse lassen die Herzen der Grenzschlängler höher schlagen. Interessant zu lesen und zu sehen, wie sich die Grenze mit dem Gletscherrückgang verändert – und mit Bauten, die darauf entstehen. Paradebeispiel dafür ist der Theodulpass und seine Nachbarschaft mit Furggsattel, Testa Grigia und Gobba di Rollin: Insgesamt 17 Steine, Metalltafeln und Inschriften direkt auf Fels, erstellt von 1931 bis 2006, legen den Grenzverlauf genau fest. Die beiden höchstgelegenen Grenzmarkierungen befinden sich bei der Capanna Regina Margherita auf der Signalkuppe/Punta Gnifetti (4553 m); auf dem Grenzgipfel (4617 m), dem höchsten Punkt der Schweizer Grenze, gibt es offenbar keine Borne. Auf dem berühmtesten Gipfel nicht nur auf der Grenze Italien-Wallis, sondern überhaupt auf der Schweizer Grenze, fehlen die Grenzmarkierungen offenbar ebenfalls: am und auf dem Matterhorn. Der Cervino ist natürlich auf dem Cover von Cavaleris jüngstem Buch abgebildet, mais bien-sûr!
Um Matterhorn und Grenzen geht es in diesem Sommer auch in zwei Events in Zermatt. Allerdings nicht um staatliche Grenzen, sondern um gesellschaftliche, sportliche, biologische, materielle. 1871, sechs Jahre nach der Erstbesteigung, will die 34-jährige Engländerin Lucy als erste Frau auf den Gipfel des Matterhorns steigen. Vier Jahre zuvor wäre ihr Félicité Carrel beinahe zuvor gekommen; sie musste auf 4300 Metern Höhe umkehren, weil sie mit Rock kletterte und an den heftigen Gipfelwinden scheiterte. Lucy hingegen kämpft nicht mit unpassender Kleidung, doch gegen den Willen ihrer Eltern, die Gesetze ihres Standes und geschlechterspezifische Vorurteile. Und gegen ihre Konkurrentin in Sachen Erstbesteigungen durch Frauen, die US-Amerikanerin Meta Brevoort. Lucys Lieblingsführer Melchior Anderegg hört von deren Plänen und eilt sofort nach Zermatt, damit seine treueste Klientin die first Lady on top of the Matterhorn wird. Ist aber Lucy nur das, oder etwas mehr? Dazu ein kurzer Dialog zwischen Bergführer Peter Perren und Matti, Dorforiginal von Zermatt, im Schauspiel „Matterhorn: No Ladies please!“ von Livia Anne Richard, das in diesem Sommer im Rahmen der Freilichtspiele Zermatt auf dem Riffelberg aufgeführt wird und das am vergangenen Donnerstag Premiere feierte:
Matti: Melchior, Melchior – ich kheere numma no «Melchior».
Peter: Bischt appa schalüsa?
Matti: Mich nimmt numma wunner, ob där mit ira numme gheyt ga chlättru.
Peter: Was dü in diinem Chpof öi immer zämenschtudierscht.
Matti: Ich tetti ämel nid numma chlättru, mit dära.
Aber, aber Matti! Auch an den dritten Freilichtspielen Zermatt erleben wir spannende Stunden, hoffentlich mit abendsonnigem Blick aufs Matterhorn.
Begleitet wird das Theaterstück durch die Ausstellung „Matterhorn Ladies“ des Alpinen Museum der Schweiz. Erzählt wird auf dem Gornergrat oben, mit Texten, Fotos, Büchern und Ausrüstungsgegenständen die Geschichte von vierzehn Matterhorn-Pionierinnen aus der Schweiz, Italien, England, Belgien, Frankreich, USA und Japan. So die Matterhorn-Hochzeitsreise von Maud Wundt-Walters im Sommer 1894. Oder der erste All-Female-Ascent am 13. August 1932 durch die Französin Alice Damesme und die US-Amerikanerin Miriam O’Brien. Und der überhaupt erste Flug vom Gipfel im Wingsuit durch die Westschweizerin Géraldine Fasnacht im Juni 2014.
Olivier Cavaleri: Histoire de bornes. La frontière entre le Valais et l’Italie. Balades – découvertes – histoire. Editions Slatkine, Genève 2019, Fr. 32.-. www.histoiredebornes.ch
Matterhorn: No Ladies please! Riffelberg, 11. Juli bis 1. September 2019; www.freilichtspiele-zermatt.ch
Matterhorn Ladies. Gornergrat, 29. Juni bis 27. Oktober 2019; www.alpines-museum.ch