Lokale und globale, freiwillige und verzweifelte Migration. In den Alpen so gut wie anderswo.
«Le 5 mars, ils tentent de franchir le col de l‘Échelle pour passer de l’Italie à la France. Leur traversée devient un enfer. Ils sont exténués, désespérés. Ils s’en sortiront. Amputation des pieds pour Mamadou. Amputation d’une partie de notre dignité pour nous, les montagnards. En apprenant la nouvelle, je suis choquée. Un tel drame est inacceptable et ne peut se reproduire. Pas à ma porte, dans mes belles montagnes. C’est un déclic, une évidence, pour moi comme pour d’autres. C’est décidé, nous irons patrouiller dans les montagnes tant qu’il le faudra, tant que les pouvoirs publics ne prendront pas de mesures humanitaires pour éviter d’autres drames similaires.»
Sagt Stéphanie Besson zu Recht. Mit Überzeugung. Mit Wut im Bauch. Und mit Beschämung, dass sich solch ein Drama vor ihrer Haustüre abspielen konnte. Die Hölle für die Migranten, die im März 2016 bei winterlichen Verhältnissen den Col de l’Échelle (1762 m) zwischen Bardonecchia und Briançon überschritten. Beziehungsweise zu überschreiten versuchten, bis sie im Schnee stecken blieben und schliesslich gerettet werden konnten, aber teils gravierende Erfrierungen erlitten. Der Col de l’Échelle: bei Radfahrern eine beliebte Strecke im Sommer, bei Flüchtlingen eine Transitroute über die Alpen, vom Mittelmeer Richtung Paris und London.
Die aus Briançon stammende Wanderleiterin Stéphanie Besson begann sich nach den Dramen auf dem Col de l’Échelle mit Gleichgesinnten aktiv für die Flüchtlinge einzusetzen. Versuchte sie erstmals unterzubringen, Kleider und Nahrung zu verschaffen, und dann Perspektiven. Forderte für die Gestrandeten ein Recht auf Leben in einem Staat, dessen offizielles Logo „Liberté, Égalité, Fraternité“ lautet, der aber bei den Migranten die Brüderlichkeit oft ziemlich vermissen liess. Besson und ihre Freunde gründeten die Organisation „Tout Migrants“. Im Buch „Trouver refuge. Histoires vécues par-delà les frontières“ schildert Stéphanie Besson engagiert die Hilfsaktionen für die Flüchtlinge und lässt diese unfreiwilligen Alpenwanderer ausführlich selbst zu Wort kommen. Ein Buch, das unter die Haut geht.
Einen passenderen Titel für seinen vierten Roman hätte der im Briançonnais lebende François Labande nicht finden können: „L’échelle de l’espoir“. Einerseits kann die Hoffnung auf tiefen oder hohen Sprossen spriessen, andererseits steht der Leiterpass zwischen Italien und Frankreich für eine (letzte) Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Pass spielt denn auch eine wichtige Rolle im Leben des jungen Arztes Farid. Er wird bei einem Einsatz in Beirut, wo sein Vater lebt, schwer verwundet und erholt sich bei seiner Mutter in Briançon. Er findet Arbeit und wird konfrontiert mit der Tatsache, dass Menschen nicht nur im Libanon und in Syrien ums Überleben und für Menschenrechte kämpfen, sondern auch in den heimatlichen Bergen. Wo findet Farid, hin und her migrierend zwischen Südalpen und Nahost, seine Destination?
Die Fragen nach der Bestimmung, nach dem Lebensziel und ganz konkret nach der Verdienstmöglichkeit stellen sich auch diejenigen Migranten, die in die Alpen einwandern, um dort zu arbeiten. Die also nicht Flüchtlinge im engeren Sinne sind, sondern Jobsuchende. Dazu hat die Ethnologin Flurina Graf, Senior Researcher am Institut für Kulturforschung Graubünden, eine grossangelegte Untersuchung gemacht. In „Migration in den Alpen. Handlungsspielräume und Perspektiven“ ist sie der Frage nachgegangen, wie es sich als Migrantin und Migrant in der hoch touristischen Region Oberengadin und im ländlich-peripheren Avers und Schams lebt. Wie richten sie sich am Ort und zwischen den Orten ein? Wie entstehen und gestalten sich Zugehörigkeiten? Welche Potenziale bietet die Region den zugewanderten Portugiesen (sie bilden ein gutes Drittel der ausländischen ständigen Bevölkerung in beiden Regionen) und welche Ressourcen bringen sie und die ebenfalls zahlreichen Italiener und Deutsche mit? Sehr interessante Lektüre, gerade auch für diejenigen von uns, die zwischen Zuoz und Maloja gerne Ferien machen.
Und noch eine Lektüreempfehlung, aber für alle. Im Extraheft „Zeit Literatur“, das der „Zeit“ vom 18. März 2021 beiliegt, findet sich ein Gespräch mit Parag Khanna zu seinem am 22. März erscheinenden Buch „Move. Das Zeitalter der Migration“. Darin zeigt der indisch-amerikanische Politikwissenschaftler, wie der nicht mehr aufzuhaltende Klimawandel eine neue Weltordnung mit globaler Migration schafft: „Chinesen, Inder und andere Asiaten, deren Heimat unbewohnbar wird, werden sich in Zentralasien niederlassen – und vor allem in den Weiten Sibiriens.“
Stéphanie Besson: Trouver refuge. Histoires vécues par-delà les frontières. Éditions Glénat, Grenoble 2020, € 20.-
François Labande: L’échelle de l’espoir. Roman. Éditions du Fournel, L’Argentière-La Bessée 2020, € 22.-
Flurina Graf: Migration in den Alpen. Handlungsspielräume und Perspektiven. Eine Publikation des Instituts für Kulturforschung Graubünden. Transcript Verlag, Bielefeld 2021, € 40.- Kann auf www.transcript-verlag.de gratis heruntergeladen werden.
Parag Khanna: Move. Das Zeitalter der Migration. Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, € 24.-