Wo der Alpenwall aus den blauen Wogen des Meeres steigt. Marina di Massa auf einem der Plakate im besprochenen Band, bzw. Strandbuch, die Schöne im Boot und die Felsen im Blick. Warum nicht wiedermal in den Apuanen klettern und abends am Strand von Massa ins Meer steigen? Aber bitte nicht an Ferragosto, da gibs Steinschlag und Verkehrsstau auf sicher.
„Marina di Massa, ein Badeort am Tyrrhenischen Meer, also in der Toskana, war lange Jahre für Strandurlauber höchst attraktiv und galt noch in den fünfziger und sechziger Jahren als beliebtes Zentrum von Strandleben und Badekultur. Inzwischen ist der Ort jedoch durch die Autostrada Azzura und ein ausgedehntes Industriegebiet von seiner Gemeinde Massa getrennt und hat einiges von seinem Charme eingebüßt.“
Aber auf dem Plakat für Marina di Massa aus dem Jahre 1949, da ist der Charme noch zu finden – und wie! Vergnügt rudert die junge Dame im modischen Einteiler auf dem weissen Katamaran Richtung Strand, Ufer – und Berge. Denn im Hintergrund hat Filippo Romoli die apuanischen Alpen markant ins Bild gesetzt, inklusive weisser Flecken. Das ist nicht etwa Firn, sondern Fels, genauer: Marmor. In den Alpi apuane wird der berühmte Marmor von Carrara abgebaut und somit die Forderung rebellischer Jugendlicher der Alpennordseite seit 2000 Jahren fast tagtäglich in die Tat umgesetzt: „Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer.“
Am 15. Augst, an Mariä Himmelfahrt, werden nur die vordersten Reihen am Strand von Marina di Massa einigermassen freie Sicht aufs Wasser gehabt haben. Und auf den marmorhaltigen Wanderwegen, in den Hütten und auf dem Pizzo d’Uccello (1781 m), dem toskanischen Matterhorn, dürften sich die Touristen auch auf den Füssen bzw. Schuhen gestanden haben. Ferragosto ist der Grund für diese alljährliche Massierung: der wichtigste Ferientag in Italien! Alle flüchten entweder ans Meer oder in die Berge. Und diese berühren sich ja in bella Italia recht häufig. Zwischen dem Monte Altissimo (1589 m) und Forte dei Marmi in Apunia (dieser Begriff findet sich auch noch auf dem Plakat mit der sportlichen Schönheit) liegen nur 11 Kilometer. Die Amalfiküste ist eigentlich eine abschüssige, zerklüftete, bis 1400 Meter hohe Felswand, die für touristische Zwecke immer weiter hergerichtet wird, wobei die Uferstrasse noch immer gleich eng ist. Heute wird man dort mit der Macchina nicht vorwärts gekommen sein, nicht mal mit einer Vespa. Nur zu Fuss, zum Beispiel auf dem Sentiero degli Dei, wobei es ebenfalls dort Staus gegeben haben wird, jedenfalls in den Ristoranti an Start und Ziel dieses Götterweges.
Warum also nicht zu Hause bleiben – und vom Strand und dem Gebirge dahinter träumen? Vor allem dann, wenn man ein passendes Buch zur Hand hat. Nämlich „Sehnsucht nach dem Meer. Reisen, um glücklich zu sein“. Johannes Thiele schildert in diesem fein gemachten Bildband die grosse Zeit der Reiseplakate von 1890 bis 1960, natürlich mit vielen wunderschönen Beispielen, zum Beispiel eben dem Plakat für Marina di Massa. Nach einer klugen Einleitung nimmt er uns mit an die Italienische Riviera, nach Süditalien, ans Adriatische Meer, nach Spanien, Portugal und Griechenland, nach Frankreich, Belgien und Holland, auf die Britischen Inseln, an die Nord- und Ostsee. Und, mais bien-sûr, an die Côte d’Azur.
Und wer jetzt findet, ein Strandtuch, pardon: ein Strandbuch sei kein Bergbuch, lese noch den Satz von Ludwig Purtscheller, einem der bahnbrechenden Alpinisten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts; in seinem posthum publizierten Werk „Über Fels und Firn“ schrieb er über die Alpes Maritimes: „Hier steigt der Alpenwall wie die leuchtende Gestalt der Göttin Aphrodite aus den blauen Wogen des Meeres empor, um in kühnem Ansturme Europa zu gebieten.“
Johannes Thiele: Sehnsucht nach dem Meer. Reisen, um glücklich zu sein. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2012, Fr. 40.90.