Berggeister

Ein Fotoband mit geheimnisvollen Fotos. Daniel Pittet lotet mit der Kamera eine andere Realität aus, wie es vor 200 Jahren Rudolph Meyer mit der Schreibfeder zeigte.

«Und rings um die Berge zog sich unten ein Saum von Alpenrosen im Glutfeuer der Rubinen; dann dehnten sich wieder Abhänge aus, blumig durchwoben wie der Ornat eines Priesters; oben schimmerte ein Saphirstreifen, der im Schneefeld sich verlor. Die Spitzen der Eisfelsen blitzten im Sonnenlicht als ein Brillanten-Diadem. Der Himmel war ein tiefer See, der zündete im Widerschein der Alpenrosen, und alle Blumen spiegelten sich in ihm glühend und goldig, wie Morgen- und Abendroth im Gewässer, und die Farben schwankten und schillerten im Wellenschlage.»

Dieser wundervolle Blick auf die Landschaft stammt von einem Schriftsteller und Alpinisten, der vor 200 Jahren unterwegs war. Rudolph Meyer (1791–1833), Spross der Aarauer Fabrikantenfamilie Meyer, Sohn des Jungfrau-Erstbesteigers Johann Rudolf Meyer. Rudolph Meyer selbst gelang fast die Erstbesteigung des Finsteraarhorns (4274 m) am 16. August 1812. Ob seine Führer Arnold Abbühl, Joseph Bortis und Alois Volken wirklich den allerhöchsten Punkt erreicht haben, ist eines der grössten Rätsel der Alpinismusgeschichte. Meyer selbst blieb mit einem weiteren Führer, Kaspar Huber, auf dem Südostgrat des Finsteraarhorns zurück. Rudolph Meyer lehrte von 1821 bis zu seinem Tod als Professor der Naturwissenschaften an der Aarauer Kantonsschule; sein Hauptwerk heisst „Die Geister der Natur“ von 1820. In „Alpenrosen. Ein Schweizer-Taschenbuch auf das Jahr 1831“ publizierte Meyer die Erzählung „Der Geist des Gebirges. Eine – wahre Geschichte“, aus der das Einstiegszitat mit sich spiegelnden Landschaftseindrücken stammt.

Hauptfigur dieser Rahmenerzählung, die 1815 im sturmumtosten Grimsel Hospiz spielt, ist der Walliser Gemsjäger Joseph Walcher. Er reisst die meisten Zuhörer mit seiner ebenso stürmischen Geschichte fort, die von romantischen Einfällen nur so spukt. Dazu gehören die schicksalshafte Begegnung und die Gespräche mit dem Berggeist. Eine der Weisheiten des Berggeistes sei hier widergegeben: „Der Mensch ist aus dem Urmeere noch nicht aufgetaucht, aber es schlagen in diesem Meere schon die Pulse eines höhern Lebens. Das Meer versinkt; doch sein Leben geht nicht unter!“

Rätselhaft, nicht wahr? Rudolph Meyer hätte Freude am geheimnisvollen Fotoband, der vor rund zwei Monaten aufgetaucht ist: „Berggeister. Ein anderer Blick auf die Landschaft.“ Lassen wir Daniel Pittet gleich selber erzählen. Der 1967 im Greyerzerland geborene Ingenieur, Architekt und Fotograf wollte nach einer Novemberwanderung im Basodino-Gebiet noch einmal seine Bilder anschauen – und kippte eines um 90 Grad um: „Ich trug keine Brille und konnte das Bild nicht gut erkennen, aber ich hatte dennoch die Offenbarung eines Gesichts, das mich anstarrte. Der entschlossene Blick faszinierte mich. ‚Ich bin hier und sehe dich!‘ sagte es zu mir.“ Der Schlüsselmoment: Die Spiegelung der Landschaft auf dem glatten Wasser eines Sees und die anschliessende Drehung des Bildes von der Horizontalität in die Vertikalität schufen neue Formen, mysteriöse Gestalten, phantastische Körper und Köpfe. „Diese Begegnung mit den Berggeistern ist eine Einladung, einen tiefen Blick auf die Welt um uns herum zu werfen, die Umgebung intensiv zu beobachten, in die sichtbare Materie einzudringen, um ihr innerstes Wesen zu erkennen und sich davon zu nähren.“

Tauchen wir also ein in diese andere Welt, nehmen wir Kontakt auf mit den Kreaturen und Gespenstern, den Engeln und Ungeheuern, die uns da plötzlich begegnen, uns anschauen, vielleicht auch etwas mitteilen wollen, wie es einst Joseph Walcher erlebt hat. Im Anhang des Fotobandes steht, wo und wann Daniel Pittet seinen Berggeistern begegnet ist, im Tessin, am Zmuttgletscher bei Zermatt, im Toggenburg, aber auch auf Island. Auf einzelnen Bildern erkennt man noch, wie sie entstanden sind, sieht man noch das Ufer. Andere jedoch haben sich völlig gelöst vom Ursprung, sind sozusagen vergeistert, nur noch fremde Wesen tauchen auf. Oder doch nicht? Denn auf dem Bild auf Seite 67 versteckt sich ein Hase. In diesem Sinne: Frohe Ostern!

Rudolph Meyer: Der Geist des Gebirges. Eine – wahre Geschichte; erstmals veröffentlicht 1830, abgedruckt in Fundstücke der Schweizer Erzählkunst. Erster Band 1800–1840. Birkhäuser Verlag 1990.

Daniel Pittet: Berggeister. Ein anderer Blick auf die Landschaft. AS Verlag, Zürich 2024. Fr. 49.-

Ausstellung „Esprits de la montagne. Photographies de Daniel Pittet“ im Musée gruérien in Bulle bis am 26. Mai 2024; https://musee-gruerien.ch

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