Bergwärts

Potemkinsche Dörfer in den Alpen? Wie moderne Achitekten Rusticos und andere alte Bausubstanz am Fuss des Gebirgs fürs globalisierte Zeitalter bewohnbar machen – ein Buch bringt Beispiele. Mit dem Offroader hinterm Blockhaus und dem Blick über den See wird man da gern zum Stadtflüchtling – zumindest zeitweise.

„An dem alten Gemäuer nagt weiterhin der Zahn der Zeit, und das ist dem Architekten nur recht. So werden sich wohl noch viele eisige Winterwinde und drückende Hitzetage an dem alten Haus reiben, und eines Tages zerfällt es vielleicht ganz, und dann steht da nur noch ein Betonhaus.“

Das wäre schade, sehr schade. Denn gerade aus diesem Gegensatz von verwitterter Schale und erneuertem Innen, von aussen fast nix und innen sehr fix, erhält das dreistöckige Rustico in Linescio im Valle Rovana, einem Seitental des Vallemaggia, sein archaischen Charme. Aussen sieht man, abgesehen vom neuen Steindach, dem Betonkamin und einer drehbaren Glastüre, dem Steinhaus nicht an, dass es ihnen radikal umgebaut wurde: Wände, Boden und Dach, Treppe, Kamin und Schlafnische aus Beton, dazu hohe Eichenläden, mit denen das eigentlich offene Haus geschlossen wird. Ein faszinierender, überzeugender, minimalistischer Umbau. Vielleicht nicht ganz das, was man sich unter einem gemütlichen, romantischen Ferienhaus im Tessin (oder anderswo) vorstellt; eine Küche fehlt, nur eine kleine elektrische Platte, um den Espresso zu machen. Gekocht wird wahrscheinlich in der Feuernische. Doch um Idylle und architektonische Schmusigkeit geht es in diesem Fall auch nicht. Sondern darum, wie man vorhandene Bausubstanz auch (und gekonnt) umnutzen kann. Das von Daniel Buchner neu erfundene Rustico in Linescio ist einer von 15 Bauten, welche die im Bernbiet aufgewachsenen Mirko Beetschen und Stéphane Houlmann in ihrem Bildband „Bergwärts. Zeitgemäß wohnen in den Schweizer Alpen“ vorstellen.

Fünfzehn mehr oder weniger alte Bauten vor allem aus dem Berner Oberland und dem Tessin, denen neues Leben eingehaucht wurde; einmal ist auch ein ganz neu erstelltes Haus an Traumlage am Lago Maggiore vorgestellt. So möchte man wohnen, nicht nur in den Ferien, sondern zeitlebens. Dafür waren die Häuser teilweise auch vorgesehen. Und sind es nun erst recht.

Ein Buch zum Anschauen, zum Träumen, zum Ideen gewinnen. Nur schade, dass nicht immer alles gezeigt wird, Küche und Bad fehlen teilweise. Klar, das Wohnzimmer mit den Panoramafenstern ist wichtiger. Und diese Blicke aus den guten Stuben zu den Schweizer Bergen: einfach beneidenswert.

Ein Haus fehlt im Buch: Der umgebaute Holzstadel unweit von Verbier, wie er in Ausgabe  7/2012 der Schweizer „Wohnrevue“ präsentiert wird (www.wohnrevue.ch). Ebenfalls sozusagen ein Haus im Haus. Doch welch ein Unterschied zum Steinhaus von Linescio. Ehrlich gesagt: So lieb mir das Tessin ist, ziehe ich in diesem Fall das Wallis vor.

Mirko Beetschen, Stéphane Houlmann: Bergwärts. Zeitgemäß wohnen in den Schweizer Alpen. DVA, München 2012, Fr. 66.90.

Ein Gedanke zu „Bergwärts

  1. Lieber Herr Anker

    Soeben sind wir auf Ihre Besprechung unseres Buches gestossen. Vielen Dank dafür!
    Sie haben absolut recht, der Stall bei Verbier ist ganz wunderbar. Leider sind wir darauf erst nach Fertigstellung von „Bergwärts“ gestossen… Nun hoffen wir, dass sich das Buch so grosser Beliebtheit erfreuen wird, dass wir einen Nachfolgeband planen können. Und dann gehört das Haus im Wallis ganz klar dazu!

    Mit besten Grüssen aus der Grossstadt

    Stéphane Houlmann & Mirko Beetschen

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