Besser leben

Mit zwei geschichtlichen Werken den Gang ins Neue Jahr antreten – und bestimmt mit einigen Vorsätzen. Wo kämen wir sonst hin?

«Langsam gegessen ist halb verdaut, denn durch klares Zerkauen der Speisen werden sowohl der Mund- als später auch der Magenspeichel, zwei wichtige Verdauungssäfte, reichlich abgesondert und unter den Speisebrei gemischt, auch wird gleichzeitig der Geschmackssinn früher befriedigt.»

Das ist ein kluger Vorsatz, nicht wahr? Leicht zu befolgen in den nächsten Tagen, weil wir nach der Weihnachtsschlemmerei ohnehin grad nicht soo viel essen mögen. Aber man sollte/kann/darf das Langsamessen selbstverständlich auch an Silvester beherzigen – und im nächsten Jahr sowieso. Als einer der Vorsätze, die wir uns doch immer wieder vornehmen.

Der zitierte Ernährungsstipp lieferte der in Wangen an der Aare geborene Arnold Rikli (1823–1906) in seinem 1895 publizierten Hauptwerk „Die Grundlehren der Naturheilkunde einschliesslich die atmosphärische Cur ‚Es werde Licht‘“. Bis am 28. März 2023 hatte ich noch nie von diesem Naturheilkundler gehört. An jenem sonnigen Dienstag wanderten Hans Peter Müller, Eva Feller und ich von Deitingen über Oliberg, Chnubel und Gensberg nach Wangen, wo Hans Peters Grosseltern gewohnt hatten. Seit dem 12. Februar 2023 gibt es in dem Aare- und Militärstädtchen eine neue Sehenswürdigkeit: den Arnold Rikli Platz zwischen Alte Ösch/Mühlibach und Rotfarbgasse; wir kamen an ihm vorbei auf der Suche nach dem Garten der Grosseltern. Riklis Vater Abraham war ein erfolgreicher Politiker und Besitzer einer Rot-Färberei. Der Junior aber brannte für Naturheilkunde. Mit seiner Familie gründete der Pionier der Lebensreform 1854 in Veldes (heute Bled) in den Julischen Alpen in Slowenien eine eigene Kuranstalt.

Auf Infotafeln am Arnold Rikli Platz erfährt man, wie Rikli seinen Patientinnen und Patienten kombinierte Wasser-Luft-Licht-Therapien verordnete: Sie sollten sich nackt in den Parks an der freien Luft bewegen, turnen und baden. Auch vegetarische Speisen empfahl der Sonnendoktor. Seine Gäste empfing der Gesundheitsapostel stets barfuss und nur minimal bekleidet. Ab 1895 gab es fünf Kurparks; einer hiess Riklikulm, ein anderer Arnoldshöhe. Bekannte Personen wie Franz Kafka und Rudolf Steiner kurten in Veldes. In Riklis Anstalt lernten sich auch der Industriellensohn Henri Oedenkoven, die Pianistin Ida Hofmann und die Brüder Karl und Gusto Gräser kennen, die 1900 einen Weinberg über Ascona besiedelten. Seither heisst dieser Hügel Monte Verità; dort gab es Luft-Licht-Hütten nach Rikli‘schem Vorbild. Wer hätte das vermutet: Der Berg der Wahrheit hat seinen Ursprung an der Aare.

Arnold Rikli hat seinen Auftritt selbstverständlich ebenfalls in „Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950“ von Iris Blum. Fasziniert begann ich im vergangenen Herbst zu lesen, wie um 1900 nicht nur im Tessin, sondern auch in Appenzell Ausserrhoden, St. Gallen und Thurgau Idealistinnen und Reformpädagogen, Vegetarier und Tänzerinnen die Welt, die Gesellschaft und sich selbst verbessern wollten, mit Luft- und Sonnenbädern, fleisch- und alkoholfreien Gaststätten. Um 1900 begann „eine Aufbruchstimmung, die unsere Gesellschaft bis ins 21. Jahrhundert geprägt hat“, liest man auf dem Klappentext des materialreichen, gediegen gemachten und illustrierten Werkes. „Forderungen nach naturnahem Wohnen, veganer Ernährung und alternativen Heilmethoden sind nicht neu – oder hätten Sie gedacht, dass schon 1923 jemand sagen konnte: ‚Alle machen Yoga‘?“ Natürlich nicht. Und so staunt man beim Lesen immer wieder, was vor 100 Jahren gedacht, ausprobiert, empfohlen und verordnet wurde. Ganz einfach: besser, gesünder, freier leben. Hat (leider) nicht immer geklappt. So wenig wie das mit unseren Neujahrsvorsätzen…

Einer von ihnen liesse sich eigentlich gut durchführen – wenn man nicht nur Bücher über Berge lesen und vorstellen tät, sondern auch in den Högern oben wohnte. Ich entdeckte die Empfehlung im sehr empfehlenswerten Buch „Sinneslandschaften der Alpen. Fühlen / Schmecken / Riechen / Hören / Sehen“, herausgegeben von Nelly Valsangiacomo und Jon Mathieu. Im Kapitel über das Fühlen mit dem Titel „Landschaft hautnah“ begegnen wir seitengross und -lang Arnold Rikli; ich glaub, ich muss mal eine Kurreise nach Bled antreten, um an „Riklis Sporttagen“ oder „Rikli-Wanderungen“ teilzunehmen. Das Kapitel über Alpendüfte geht auf die vielgepriesene Heilung durch die Luft in den Alpen ein. Bereits Johann Gottfried Ebel hatte in seiner „Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen“ von 1809 empfohlen: „Tägliche Spaziergänge in reiner Bergluft.“

In diesem Sinne: Alles Gute und Gesunde im Neuen Jahr!

Iris Blum: Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900–1950. VGS Verlagsgenossenschaft St. Gallen, St. Gallen 2022. Fr. 42.- www.gpwb.ch/arnold_rikli

Nelly Valsangiacomo, Jon Mathieu (Hg.): Sinneslandschaften der Alpen. Fühlen / Schmecken / Riechen / Hören / Sehen. Böhlau Verlag, Wien 2022. € 30,00.

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