Vor 76 Jahren explodierte im Kandertal ein Fels voller Munition. Die ganzen Folgen sind noch nicht ausgestanden, im Gegenteil. Alles dazu in der Ausstellung „Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz“ im Alpinen Museum in Bern und in der begleitenden Publikation „Mitholz. Über Heimat nachdenken“.
«Am 19. Dezember 1947 um 23.10 Uhr riss eine Reihe von Explosionen die Menschen in Mitholz aus dem Schlaf. Im Munitionslager der Schweizer Armee oberhalb von Mitholz explodierten Munition und Sprengstoff. Aus den Eingängen schossen Feuer bis zu 70 Meter in die Höhe. Die Öffnungen des Stollens wirkten wie Kanonenrohre und schleuderten die explodierenden Bomben und Granaten sowie Gesteinsbrocken durch das Tal. Einzelne Geschosse und Steine flogen zwei Kilometer weiter bis nach Kandergrund. Kurz nach Mitternacht brachte die grösste Explosion einen Teil der Felswand oberhalb des Munitionslagers zum Einsturz. Eine Wolke aus Rauch und Staub überdeckte das Dorf. Die Katastrophe zerstörte 39 Häuser, neun Menschen kamen ums Leben.» Wandtext im zweiten Saal der Ausstellung „Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz“ im Alpinen Museum der Schweiz in Bern.
«Am 25. Februar 2020 erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner des Berner Oberländer Dorfs Mitholz eine Nachricht, die ihr Leben verändert: In zehn Jahren sollen sie ihr Heimatdorf für zehn Jahre verlassen. Der Grund sind Räumungsarbeiten im ehemaligen Munitionsdepot unter der Fluh.» Aus dem Flyer zu dieser Ausstellung.
Der Berg ruft. Das kann man immer wieder lesen. Und auch spüren, wie jetzt, wenn es unten grau und kalt ist und oberhalb des Nebels blau und warm. Aber der Berg kommt auch. Das kann man immer wieder lesen. Und auch spüren, wie zum Beispiel einige Bewohner in Schwanden im Glarnerland, die nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren können und dürfen, weil am 20. August 2023 nach Starkregen Erdrutsche einen Teil des Dorfes zerstört und beschädigt haben; weitere Rutsche drohen.
Der Berg kommt aber auch, wenn man unsachgemäss mit ihm umgeht. Wenn man tonnenweise Munition und Sprengstoff darin verbunkert und nicht überlegt, dass das alles mal in die Luft fliegen und verheerende Folgen haben könnte. Wie beim Dorf Mitholz im Kandertal, als die Fluh ob der Kurve der Lötschberg-Bahnlinie vor 76 Jahren auseinanderbrach. Tonnen von Munition und Sprengstoff explodierten, 3500 Tonnen wurden bis Ende 1948 geräumt, etwa gleich viel werden noch im Bahntunnel und unter den Trümmern der Fluh vermutet. Jetzt soll alles geräumt werden. Nach einer zehnjährigen Planungs- und Vorbereitungsphase soll Mitholz während der Munitionsräumung evakuiert werden. 51 Personen müssen, 87 Personen können wegziehen.
Was bedeutet das, die Heimat ungewollt zu verlassen? Was macht überhaupt Heimat aus? Diesen existenziellen Fragen geht die Ausstellung im Alpinen Museum nach. Klug und tief, überraschend und einleuchtend, empathisch und explosiv. Man erlebt dieses Mitholz, dieses wohl schon oft befahrene Dorf zwischen Blausee und Autoverladestation Kandersteg, mit ganz anderen Augen. Man fragt sich plötzlich nach Ursachen, wenn und warum der Berg kommt. Rutscht. Explodiert. Verbrennt. Austrocknet. Aber die Fragen bohren noch tiefer. Wie gehen wir damit um, wenn die Heimat abhanden kommt? Die Ausstellung gibt Antworten auf all diese Fragen. Die begleitende Publikation „Mitholz. Über Heimat nachdenken“ ebenfalls. Wie gefährdet leben wir? Wie gerecht ist die Schweiz? Was machen Häuser mit Menschen? Warum glaubt ein Land an Berge? 65 grossartige Seiten für zehn Einfränkler – an ein besseres Preis/Leistungs-Verhältnis in Sachen (Berg-)Literatur kann ich mich nicht erinnern.
Zurück in die Ausstellung, in den Hodler-Saal. Dort ist das von Kathrin Künzi komponierte Jodellied „Läb wohl Mitholz“ zu hören. 35 Sängerinnen und Sänger aus Mitholz und den Nachbargemeinden haben das Lied in der Kirche Kandergrund gesungen. Die erste Strophe, in der hochdeutschen Fassung:
Wir müssen gehen, Nachbarn, Häuser und Gärten hinter uns lassen. Niemand will gehen und den Holunder, den Rhabarberstrauch und die Rose hier lassen.
PS1. Zur Katastrophe von Mitholz hat Urs Augstburger den Roman „Das Tal der Schmetterlinge“ geschrieben. Der Rückseitentext beginnt so: „Ein geheimes Munitionsdepot fliegt in die Luft, im Bergsee verenden Hunderte von Forellen. Augstburgers Bergdrama handelt von Schuld und Verbrechen des Militärs in den Bergen – und versöhnt mit einer traurig-schönen Liebesgeschichte. Die Wissenschaftlerin Meret Sager soll im Auftrag eines Investors im Berner Oberland ein energieautarkes Dorf planen und bauen.“ Liest sich sehr aktuell. Das Fischsterben im Blausee und Corona ebenfalls. Die ehemalige Zündholzindustrie im Kandertal kommt auch noch vor. Gar viele Themen, manchmal droht man sich zu verlaufen wie in geheimen Felsgängen. Auf Seite 346 passiert es: „Im selben Moment explodierte das Eingangsportal, eine Stichflamme schoss heraus und wuchs zu einem gewaltigen Feuerball, der von der Fluh aufstieg.“
PS2. Einen in die Luft fliegenden Felsberg gibt es ebenfalls im Island-Roman „Kalmann und der schlafende Berg“. Er heisst Heiðarfjall (266 m) und beherbergte von 1957 bis 1970 eine Radarstation der NATO; nach dem Abzug blieben Schadstoffe und Bleibatterien zurück. Der verstorbene Grossvater von Kalmann hatte irgendwie mit diesem geheimnisvollen Berg zu tun. Auf Seite 276 der Romans erwacht der Heiðarfjall: „Der Berg erhob sich vor meinen Augen, richtete sich wie in Zeitlupe auf – oder war es der Riese, der seinerzeit in den Berg einbetoniert worden war, ein Drache vielleicht, der einen Goldschatz bewachte? Der ganze obere Teil des Berges hob ab und flog in die Luft, vom Rumpf losgelöst, ein blendend heller Feuerball.“
Daniel Di Falco, Barbara Keller (Hg.): Mitholz. Über Heimat nachdenken. Alpines Museum der Schweiz, Bern 2022. Fr. 10.-
Urs Augstburger: Das Tal der Schmetterlinge. bilgerverlag, Zürich 2023. Fr. 36.-
Joachim B. Schmidt: Kalmann und der schlafende Berg. Diogenes Verlag, Zürich 2023. Fr. 32.-
Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz. Ausstellung im Alpinen Museum in Bern. 19. November 2022 bis 11. August 2024. www.alpinesmuseum.ch/de/ausstellungen/heimat