Wiederentdeckung eines alpinen Schriftstellers, der auf den Tag genau vor 4 mal 38 Jahren geboren wurde.
«Wenn ich dagegen z.B. an die Scheidegg denke mit ihrem ganzen Jahrmarkt, der Fernrohrbatterie, dem Glockenspiel, den farbigen Gläsern, dem lächerlichen Kinderkanönchen, den ausgestopften Gemsen und – so wird es noch kommen – ausgestopften Bergsteigern – –; wo der Hotelwirt es nicht unter seiner Würde hält, bei Ankunft eines neuen Zuges selbst mit einem Plakat „Eigerbesteigung“ oder „Gemsen zu sehen!“ auf der Tischplatte herumzutrommeln – –! Ich sah ihn, als ich einmal zur Guggihütte abmarschierte, an den Tischen herumrennen und den Gästen auf deutsch und englisch zuzurufen: Aufbruch eines Führerlosen nach der Jungfrau! Worauf wir, der Obexer und ich, aus Rache in der Nähe der Hütte unter einem Wasserfall hüllenlos badeten, damit die Zeissgucker unten auch auf ihre Rechnung kämen.»
Erfrischender Ausschnitt aus dem Kapitel „Montanvert“ in „Aiguilles. Ein Bergbüchlein von Carl Egger“, das vor 100 Jahren erschienen ist. Hier wird die Kleine Scheidegg dem ebenso berühmten und mit einer Zahnradbahn erschlossenen Aussichtspunkt Montanvers ob dem Mer de Glace gegenüber gestellt. Und mit den titelgebenden Aiguilles sind natürlich die Granitnadeln von Chamonix gemeint, inklusive ein paar zackige Gipfel in der Nähe. Wie die Dent du Géant (4013 m), an der Egger eine weitere hübsche Fernrohrgeschichte platzierte. Eine berühmte Bergsteigerin, leider wird kein Namen verraten, liess sich von einem jungen Bergsteiger den Hof machen; ob damit der Autor gemeint ist, wird ebenfalls offengelassen. Sie unternahmen zusammen Touren, zuletzt noch auf die Dent du Géant. Aber da schaute der Verlobte dem Kletterpaar zu, und zwar vom nahen Rifugio Torino, wohin ihn vier Führer geschleppt hatten:
«Nun begab sich etwas wie schöner nicht im Kino! Der dicke Mann am Fernrohr wurde rot vor Aufregung und der Schweiss perlte ihm an der Stirn. Was enthüllte das verräterische Rund? Er sah, wie sich – Teufel! – ein Arm immer fester um eine Taille legte, wie sich zwei Köpfe immer näher gegeneinander neigten, wie sich sogar ein Lippenpaar zum Kusse spitz – – in diesem Moment wurde alles grau! Ein Nebelchen stieg und wallte, gütig das Unvermeidliche verdeckend, oben um die granitene Spitze des Géant, und ein Fleischkoloss unten knirschte aus Wut vor der leeren Bildfläche – –.»
Nicht alle der neunzehn Geschichten sind so amüsant und elegant zu lesen. Da legt sich dann schon immer wieder echt deutsches alpines Pathos auf den Text. Trotzdem: Die „Aiguilles“ lohnen durchaus eine Wiederlektüre, und die hinten beigelegten sechzig schwarzweissen Fotos korrespondieren oft mit den beschriebenen Klettereien an den berühmten Spitzen; es sei nur der Mummery-Riss am Grépon erwähnt. Mein Exemplar stammt aus der Bibliothek meines Grossvaters Hermann Anker und hat die Nummer 451. Ein Wort noch zu Franz Obexer, Mitglied des Akademischen Alpen-Clubs Zürich wie Egger selbst: Er stürzte am 12. August 1912 bei einer Erstbegehung kurz unterhalb des Gipfels des Pflerscher Tribulaun in den Stubaier Alpen wegen Seilriss zu Tode.
Dem am 20. Februar 1952 verstorbenen Carl Egger gelangen 36 Erstbegehungen in den Schweizer Alpen. 1914 war er zusammen mit Guido Miescher im Kaukasus; neben neun Erstbesteigungen machten sie am 29. Juli die erste Skibesteigung des Elbrus (5642 m). „Miescher schlief auf dem aperen Boden der Westseite lang ausgestreckt den Schlaf des Siegers. Ich aber machte ein paar Aufnahmen, pflanzte auf den höchsten Punkt in Ermangelung eines besseren mein Appenzeller Halstuch mit dem Alpaufzug am Skistock auf, um doch wenigstens etwas Schweizerisches an der Stange zu haben, und saβ vergnügt wie ein Schneekönig in Hemdsärmeln an der warmen Sonne.“ Eggers Bericht über die Sommerskitour erschien im Jahrbuch des Schweizerischen Ski-Verbandes von 1914 und im Jahr darauf in seinem ersten Buch mit dem Titel „Im Kaukasus. Bergbesteigungen und Reiseerlebnisse im Sommer 1914.“
Weitere Bücher des gelernten Kaufmanns, Kunstmalers und Ehrenmitgliedes des Schweizer Alpen-Clubs (1934) folgten. Neben kunsthistorischen Abhandlungen und einem Gedichtband sind dies wichtige Werke zur Geschichte des Alpinismus: „25 Jahre Ski-Club Basel, 1904-1929“, „Die Eroberung des Kaukasus“ (1932), „Michel-Gabriel Paccard und der Montblanc“ (1943) sowie – bei mir immer griffbereit – „Pioniere der Alpen. 30 Lebensbilder der grossen Schweizer Bergführer von Melchior Anderegg bis Franz Lochmatter“ (1946). Eine besondere Ehre erfuhr Carl Egger 1930, als er mit seinen Schriften in die Reihe „Grosse Bergsteiger“ des Bergverlages Rudolf Rother aufgenommen wurde. Acht Bände erschienen, darunter von so herausragenden Alpinisten und Autoren wie Mummery, Purtscheller, Weilenmann und Zsigmondy. Eggers Buch, darin „Im Kaukasus“ und erweitert „Aiguilles“ Platz fanden, heisst „Höhenluft. Erlebtes und Erfühltes.“ Die Einleitung beginnt so:
«Höhenluft, frische, belebende – sie hat zwiefach in mein Leben hineingeweht: einmal hat sie mich körperlich geheilt und gekräftigt und mir dann, in einem Lebensabschnitt voll tiefer Entmutigung, das seelische Gleichgewicht wieder verschafft. Deshalb, zum Dank, stehe hier das Wort voran!
Soweit es nun auf mich ankäme, wären damit eigentlich meine biographischen Mitteilungen erledigt. Denn die Berge machen nicht geschwätzig, sondern herb und verschlossen. Was braucht es noch mehr der Alltäglichkeiten wie: geboren am 29. Februar 1872 in Basel?»
Aiguilles. Ein Bergbüchlein von Carl Egger. Orell Füssli, Zürich 1924.
Carl Egger: Höhenluft. Erlebtes und Erfühltes. Bergverlag Rudolf Rother, Reihe „Große Bergsteiger“, München 1930.
Beide Werke sind auf zvab.com erhältlich. Und in der Nationalbibliothek Bern und der Zentralbibliothek Zürich ausleihbar. Die andern Bücher von Carl Egger ebenfalls.